Porträt Der Aktienbauer Guido Leutenegger ist Landwirt im Tessiner Maggiatal und beschäftigt 370 vierbeinige Mitarbeiter: Er setzt Schottische Hochlandrinder zur Landschaftspflege ein und erzeugt gleichzeitig Fleisch. Jetzt gibt er eine KuhAktie heraus. VON BARBARA HOFMANN (TEXT) UND RÉMY STEINEGGER (BILD)
Dass Lehrer oder Sozialarbeiter in der Deutschschweiz gerne vom Auswandern ins Tessin träumen, um dort Landwirtschaft zu betreiben, ist ein weitverbreitetes Klischee. Diejenigen, die es tatsächlich tun, versuchen sich meist mit Ziegen oder Schafen, möchten verlassene Dörfer wieder beleben und Rustico-Ruinen instand setzen. Viele scheitern aber am eigenen Traum und ergreifen meist schon nach wenigen Jahren und müde des vermeintlich einfachen Lebens in der Sonnenstube wieder die Flucht. Anders Guido Leutenegger. Das Tessin war damals nicht sein Traumziel, sagt er beim Treffen im Ökohotel Cristallina in Coglio und schaut nach draussen auf die Berge des Maggiatals: «Mich brachten die Schottischen Hochlandrinder hierher.» Guido Leutenegger ist Thurgauer. Vor 20 Jahren gründete er in Kreuzlingen die Firma «Natur Konkret», um Naturgartenbau und Schutzgebietspflege zu betreiben. «Ich schrieb damals Gemeinden in der ganzen Schweiz an; im Tessin war man an meinem Angebot interessiert.» Um hochgelegene Alpweiden ökologisch zu pflegen, eignen sich Schottische Hochlandrinder am besten. «Sie sind robust, genügsam und geländegängig», sagt Leutenegger. «Mit diesen Tieren ist es möglich, unbewirtschaftete Tessiner Bergweiden vor dem Verganden zu bewahren und gleichzeitig hochwertiges Öko-Alpfleisch zu erzeugen». Mit dem Kauf der Kuh Samantha begann dann schliesslich alles. Heute ist Samantha mit 22 Jahren eine betagte Dame, aber noch immer bei bester Gesundheit. «Ich hatte damals kaum Erfahrung und kaufte die Tiere nach Sympathie ein», erinnert sich Guido Leutenegger. Sympathie empfand er ziemlich oft in dieser Zeit, und so kam schliesslich eine stattliche Herde zusammen. Doch noch immer konnte sich der Neobauer nicht entschliessen, fest im Tessin zu leben. Als städtischer Bau- und Umweltdirektor in Kreuzlingen, der er damals war, fühlte er sich wohl bei seiner Arbeit: «Es lief mir gut. So machte mir auch das Pendeln zwischen meinen Lebenszentren im Thurgau und im Tessin wenig aus. Manchmal hatte ich bis um Mitternacht Sitzungen in Kreuzlingen und fuhr anschliessend noch nach Avegno im Maggiatal, um am nächsten Morgen die Rinder versorgen zu können.» Es war Leuteneggers Frau – sie lebte mit den Kindern bereits in Avegno –, die ihn schliesslich überzeugen konnte, sich für eines seiner beiden Leben zu entscheiden. Leicht fiel ihm die Entscheidung zugunsten des Tessins nicht, gibt er zu. Als energischer, urbaner Mensch stösst man in der ruralen und engen Tälerwelt der italienischen Schweiz leicht einmal mit dem Kopf gegen den Granit. Doch der angehende Rinderzüchter hielt durch. Und irgendwann sei dann bei einem Bier mit einem befreundeten Banker das Projekt «Kuh-Aktie» entstanden. «Das war aber keineswegs eine neue Erfindung», erzählt Leutenegger. «Wir erinnerten uns bloss daran, wie die Banken mit einem sogenannten ‹Kuh-Pfand› früher Kühe belehnten – und diese auch gepfändet werden
konnten, wenn der Bauer zahlungsunfähig wurde.» Leutenegger und sein Bankerfreund dachten sich also, dass dieses Prinzip auch heute wieder, und mit privaten Anlegern, funktionieren könnte. Das Konzept ist einfach: Die Anleger investieren 2500 Franken in ein Schottisches Hochlandrind. Als Gegenleistung erhalten sie zehn Jahre lang hochwertiges Öko-Alpfleisch im Wert von jährlich 350 Franken. «Jeder Anleger stellt mir damit real eine Kuh zur Verfügung», erklärt Leutenegger weiter. Die Aktionäre können ihre Investition in den Tessiner Bergen im Übrigen besuchen. Dort werden sie nicht nur als Geldgeber empfangen, sondern als eigentliche Göttis und Gotten ihres jeweiligen Rindes. Der Name des finanzierten Tieres ist im Anteilschein des Aktionärs urkundlich eingetragen. Die Tiere heissen Samantha, Rosa oder Lotti und werden für Leuteneggers Landschaftspflegeprojekte auf hochgelegenen Alpweiden im ganzen Tessin eingesetzt. Die Kuhaktie schaffe eine eigentliche «Winwin»-Situation, sagt der Bauer: «Der Anleger geht ein gewisses Risiko ein, erhält dafür aber einen Mehrwert in Form von Fleisch. Ich andererseits werde durch den Deal ökonomisch unabhängiger.» Mittlerweile interessieren sich bereits 60 potenzielle Anleger für die Anteilscheine. Leutenegger rechnet damit, dass mindestens die Hälfte von ihnen fest einsteigen wird. «Das klingt jetzt noch nicht nach sehr viel – doch bei jedem Engagement handelt es sich um eine zehnjährige Verpflichtung auf der Basis von Vertrauen in die Tiere und unseren Betrieb.» Und dieser Betrieb floriert. Zu den zahlreichen Abnehmern aus der lokalen Gastronomie gehört unter anderem der Fünf-Sternekoch Othmar Schlegel vom Luxushotel Castello del Sole in Ascona. «Von ihm», so Leutenegger, «habe ich sehr viel gelernt, was die Verbesserung der Fleischqualität und -verarbeitung angeht.» Aktienbauer Leutenegger hat einen hohen Qualitätsanspruch. Dieser spiegelt sich neuerdings auch in dem von ihm gegründeten Netzwerk lokaler Fleischerzeuger mit einem eigenen Gütesiegel wider. «Mit dem Label ‹Carne Valli Locarnesi› wollen wir
«Manchmal fuhr ich noch um Mitternacht ins Tessin, um am nächsten Tag die Tiere zu versorgen.»
SURPRISE 227/10
das Bewusstsein für Erzeugnisse aus der Region schärfen.» Derzeit vertreiben unter diesem Label neben Leutenegger sechs weitere Bauern aus der Region naturnah produziertes Fleisch. Dieses stammt hauptsächlich von Schottischen Hochlandrindern, aber auch von Lämmern und Ziegen. Szenenwechsel: Auf der Weide der Bullen, nahe beim Dörfchen Coglio dreht ein grosser, massiger, rostroter Highlander mit kräftig ausgebildetem Nacken seine Runden. Die jüngeren Stiere weichen respektvoll zur Seite. «Das ist Augustus», sagt Guido Leutenegger, «der Stammvater unserer Zucht. Er ist jetzt 17 Jahre alt und Rentner.» Augustus darf aber, anders als viele seiner Berufskollegen auf anderen Höfen, weiterleben. «Wir sind ihm dankbar und verbunden», sagt Leutenegger, während sich der mächtige Bulle friedlich neben den Bauer hinlegt und ein nachdenkliches Gesicht macht. ■
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