«Alles in Ordnung? Ich habe gesehen, wie du ausgerutscht bist.»
«Quatsch, bin ich nicht.»
«Compartment No. 6», Regie: Juho Kuosmanen, FI/DE/EE/RU 2021, 108 Min. LÀuft ab 3. MÀrz im Kino. Surprise 519/22
«Ein MĂ€dchen fragt und sagt nichts» Kino Der Dokumentarfilm «Stand up my Beauty» handelt von Ă€thiopischen Frauen, deren Leben von UnterdrĂŒckung und sexualisierter Gewalt geprĂ€gt ist. Wir hören das Knistern der Kaffeebohne, die melodische Stimme von Nardos. Geduldig schiebt sie die Bohnen in der Pfanne hin und her, schaut zu, wie sie langsam braun und schwarz werden. Sie ist die Hauptprotagonistin des Dokumentarfilmes «Stand up my Beauty», deren Begegnungen und ErzĂ€hlungen die Zuschauer*innen folgen. Oft verschlĂ€gt es einem die Sprache. Nardos ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern. Wie viele andere Frauen arbeitet sie als Tagelöhnerin auf den Baustellen von Addis Abeba. Immer mehr auswĂ€rtige Bauunternehmen lassen sich in der Ă€thiopischen Hauptstadt nieder, errichten hohe Bauten aus Stahl und Beton; neben ihnen scheinen soziale RealitĂ€ten keinen Platz mehr zu haben. Abends tritt Nardos als SĂ€ngerin gemeinsam mit ihrer Band in verschiedenen Lokalen der Stadt auf. Sie singt seit sie klein war, wie sie uns erzĂ€hlt, manchmal direkt in die Kamera, manchmal erkling ihre Stimme aus dem Off. Allerdings widmete sie sich bisher immer Liedern, die andere geschrieben haben. Doch sie möchte eigene schreiben. «Stand up my Beauty» ist der Titel ihres ersten Liedes. Das Lied entstand im Rahmen von Begegnung mit verschiedenen Frauen. In den GesprĂ€chen werden die BĂŒrden spĂŒrbar, die sie tagtĂ€glich tragen, tragen mĂŒssen. Nardos spricht mit ihrer Mutter, die sie in frĂŒhen Jahren weggeben musste; sie konnte ihre Kinder nicht ernĂ€hren und entschied sich dagegen, ihr damals siebenjĂ€hriges Kind zu zwangsverheiraten. ErzĂ€hlungen von Diskriminierung und UnterdrĂŒckung, sexualisierter Gewalt und Schwangerschaften im Kindesalter reihen sich aneinander. Es sind individuelle Erfahrungen, die sich zu kollektiven verflechten. «Ein MĂ€dchen fragt und sagt nichts», sagt eine der Frauen. Die Unterhaltungen sind durch Anteilnahme und wortloses VerstĂ€ndnis geprĂ€gt. Jede Begegnung hĂ€lt Nardos in ihrem gelben Notizbuch fest, lĂ€sst sie in ihre Lieder einfliessen; es sind ErzĂ€hlungen eines Lebens ohne Rechte.
GIULIA BERNARDI FOTO: ZVG
schwerer zu werden, von verletzten GefĂŒhlen und einer gescheiterten Liebesbeziehung belastet. Auf ihrer Reise trifft Laura auf Ljoha. Ab diesem Punkt wird es immer schwieriger, sich als westlich geprĂ€gte*r Zuschauer*in mit den Figuren zu identifizieren. Wo das GefĂŒhl von Verlorenheit und die Frage nach Zugehörigkeit eine*n anfĂ€nglich in den Film eintauchen liessen, bauen nun klischierte Vorstellungen von Geschlecht eine schwer zu ĂŒberbrĂŒckende Distanz auf. So wird Ljoha als stereotyp mĂ€nnliche Figur dargestellt: als Mann, der zu viel trinkt, sich rĂŒcksichtslos, stark und unverwundbar zeigt. Das wird in jener Szene besonders deutlich, in der Ljoha rauchend auf dem Perron hin und her lĂ€uft, einen Schneeball in die Luft wirft, den er mit seiner Faust zu treffen versucht und dabei ausrutscht. Er steht auf, schaut sich verstohlen um, wĂ€hrend er den Schnee von seiner Jacke klopft. «Alles in Ordnung? Ich habe gesehen, wie du ausgerutscht bist», sagt Laura, als er wieder in den Zug steigt. «Quatsch, bin ich nicht.» Im Verlauf der Geschichte muss sich Laura immer wieder gegenĂŒber dem grenzĂŒberschreitenden Verhalten von Ljoha positionieren; gegenĂŒber seinen derben und vulgĂ€ren SprĂŒchen und der Tatsache, dass er zu viel Raum im kleinen Abteil einnimmt. Obwohl ihr sein Verhalten lange unangenehm ist, beginnt sie irgendwann, sich um ihn zu sorgen und entdeckt, dass unter der harten Schale doch ein weicher Kern steckt. Ăhnlich klischiert wie die hegemoniale MĂ€nnlichkeit, die Ljoha aufscheinen lĂ€sst, sind auch die Charaktereigenschaften von Laura, die als typisch weiblich stereotypisiert werden: Sie nimmt die Rolle der empathischen und fĂŒrsorglichen Frau ein, die sich um den Mann kĂŒmmert, der seine GefĂŒhle nicht zeigen kann. Und so wird aus einer unangenehmen Bekanntschaft sowas wie eine Liebesbeziehung. Denn so unterschiedlich Laura und Ljoha auch sind, fĂŒhlen sie sich doch in der Welt, die sie umgibt, gleichermassen verloren. Juho Kuosmanen thematisiert die romantisierte Selbstsuche, in deren Unerreichbarkeit ein poetisches Potenzial liegt, das sich durch die ruhigen Bilder und das sanfte Licht offenbart. Schade ist, dass dieses Potenzial von flach gezeichneten Charakteren ĂŒberschattet wird.
«Stand up my Beauty», Regie: Heidi Specogna, ÂDokumentarfilm, CH/D 2021, 110 Min. LĂ€uft ab 17. Feb. im Kino. 25