
Nr. 586
bis 07.Nov. 2024


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Migration
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Migration
Menschen verlassen ihr Land, um Arbeit zu finden. Abderrazzak Essamlali unterstĂŒtzt damit seine Familie. Seite 8
Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzÀhlen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah.
Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder ZĂŒrich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang
Editorial
Sich auf die Suche nach einem besseren Leben zu machen, ist Gegenstand zahlreicher MĂ€rchen. Die HauptïŹgur beïŹndet sich in einer misslichen Lage und versucht dieser zu entkommen. «Etwas Besseres als den Tod ïŹnden wir ĂŒberall», heisst es bei den Bremer Stadtmusikanten, denen sich trotz harter, loyaler Arbeit an ihrem Wohnort keine Perspektive mehr bietet.
So Ă€hnlich ging es auch Abderazzak Essamlali aus Marokko. Er machte sich auf den Weg nach Norden, um seinen Eltern medizinische Versorgung zu sichern, seine Geschwister zu unterstĂŒtzen und eine Zukunft zu sehen. Warum Essamlali zunĂ€chst niemandem etwas von seinem Plan erzĂ€hlt hat und was dieser fĂŒr seine Familie und sein eigenes Leben bedeutet hat, ab Seite 8. Erstaunlich gross ist der Anteil der RĂŒckĂŒberweisungen, die Migrant*innen wie Essamlali weltweit in ihre
4Aufgelesen
5Na? Gut! Hunde gegen Schmerzen
5Fokus Surprise Gezielte UnterstĂŒtzung
6VerkÀufer*innenkolumne Trepp auf, Trepp ab
7Die Sozialzahl ArmutsgefÀhrdet
8Migration Was RĂŒckĂŒberweisungen bedeuten
16Surprise im Ăberblick Am Homeless World Cup in SĂŒdkorea
18Wohnen
VerlÀsst Finnland den Erfolgskurs?
22 Sozialreform ĂberbrĂŒckungsleistungen
HerkunftslĂ€nder ĂŒberweisen â auch und gerade aus der Schweiz. Diese Geschichte, die sowohl in der Schweiz wie auch in Marokko spielt, wurde durch den Surprise Recherchefonds ermöglicht.
Bis 2030 wollte das EuropĂ€ische Parlament die Wohnungslosigkeit in der EU abschaffen â dass dies in den nĂ€chsten fĂŒnf Jahren kaum gelingen wird, ist allen klar. Und doch gibt es Fortschritte, wie jĂŒngst erneut aus Finnland vermeldet wurde. Seit 2007 wurde dort massiv in sozialen Wohnungsbau investiert, ein Vorbild auch fĂŒr Projekte in der Schweiz. FĂŒr die neue rechtskonservative Regierung jedoch scheint das Thema nicht mehr zentral zu sein, sie kĂŒrzt stattdessen die Sozialausgaben. Will hier ĂŒberhaupt noch jemand Wohnungslosigkeit abschaffen? Mehr ab Seite 16.
SARA WINTER SAYILIR Redaktorin
24 Film SpĂ€te Liebe im Ăberwachungsstaat
25 Buch Im Plakathaus
26Veranstaltungen
27Tour de Suisse Pörtner in Bad Zurzach
28SurPlus Positive Firmen
29Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren
30Surprise-PortrÀt «Ich konnte meine Mutter sehen»
Aufgelesen
News aus den ĂŒber 90 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 LĂ€ndern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.
KĂŒrzlich war eine kleine Delegation der Strassenzeitung Street Roots aus Portland (Oregon, USA) bei LâItinĂ©raire in Montreal (Kanada) zu Gast. DeVon Pouncey, Community Media Director bei Street Roots, erhofft sich viel von diesem Austausch: «Wir möchten VerkĂ€ufer*innen vermitteln, wie man Medieninhalte produziert und verbreitet.» LâItinĂ©raire habe auf diesem Feld bereits Erfahrung. Street Roots möchte den VerkĂ€ufer*innen so zu besseren Verdienstchancen verhelfen. «Wenn Menschen, die Obdachlosigkeit erlebt haben, lernen, ihre Geschichte selbst zu erzĂ€hlen, kann dies unseren Blick auf die Probleme wohnungsloser Menschen verĂ€ndern. Dazu mĂŒssen sie in der Lage sein, ihr Wissen zu vermitteln und darĂŒber zu sprechen.»
Street Roots feiert dieses Jahr sein 25-jĂ€hriges Bestehen. Die wöchentlich erscheinende Strassenzeitung wird fĂŒr 1 Dollar verkauft. Ihre rund 800 VerkĂ€ufer*innen kaufen die Strassenzeitung fĂŒr 25 Cent und behalten den Gewinn. Das Team hat 21 Mitarbeiter*innen.
Portland, Oregon, zĂ€hlt 616â840 Einwohner*innen, das Ballungsgebiet etwa 2â243â000. In Multnomah County, in dem Portland liegt, sind ĂŒber 11â000 Menschen von Obdachlosigkeit betroffen.
LâITINĂRAIRE, MONTREAL
Inzwischen gibt es in Deutschland Hunderte von «SozialpĂ€ssen» â das ist eine Sozialleistung auf kommunaler Ebene und verhilft Menschen mit niedrigem Einkommen zu einer verstĂ€rkten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Konkret bietet der Sozialpass VergĂŒnstigungen fĂŒr Eintritte zu kulturellen Veranstaltungen, SportanlĂ€ssen oder fĂŒr öffentliche Verkehrsmittel. Beantragen können einen solchen Pass armutsbetroffene Personen, Arbeitslose, Studierende, Rentner*innen sowie Working Poor. Allein in NĂŒrnberg waren im FrĂŒhjahr 2024 mehr als 60000 SozialpĂ€sse im Umlauf, was bedeutet: Jede zehnte Person, die hier lebt, ist im Besitz eines solchen Passes.
6600 Menschen, die mindestens 60 Jahre alt sind, haben in Hannover seit April ihren FĂŒhrerschein abgegeben âund dafĂŒr eine kostenlose Jahreskarte fĂŒr Busse und Bahnen erhalten. Anders als in der Stadt ist der öffentliche Nahverkehr im lĂ€ndlichen Raum oft schwach ausgebaut, sodass die Menschen dort auf ihr Auto angewiesen sind. Hintergrund der Aktion sind Studien, denen zufolge Senior*innen im zunehmenden Alter hĂ€uïŹger UnfĂ€lle verursachen. Menschen ab 75 Jahren belegen hier Platz 2, am meisten UnfĂ€lle verursachen allerdings Autofahrende bis 26 Jahre.
Na? Gut!
Hunde können helfen, weniger Schmerzen zu spĂŒren und sie besser zu bewĂ€ltigen. Das haben Psycholog*innen der Humboldt-UniversitĂ€t in Berlin herausgefunden. In einer Studie wurde die Wirkung von Hunden mit der von menschlichen Begleiter*innen wĂ€hrend einer schmerzhaften Situation verglichen. Dass Hunde bei Schmerzen besser helfen können als Menschen, könnte laut den Wissenschaftler*innen daran liegen, dass sie nicht werten.
In einem Experiment mussten die Teilnehmer*innen ihre Hand in eiskaltes Wasser tauchen. Dabei wurden sie entweder von ihrem eigenen Hund oder von einer Freund*in begleitet oder waren allein. Wenn der eigene Hund in der NÀhe war, wurde die SchmerzintensitÀt signifikant reduziert, die SchmerzbewÀltigung verbessert und die physiologischen Stressreaktionen wurden verringert. Die Anwesenheit einer befreundeten Person hingegen habe keinen so starken Effekt gehabt.
In einem zweiten Experiment untersuchte das Forschungsteam, ob auch unbekannte Hunde eine schmerzlindernde Wirkung haben können. Und tatsÀchlich, auch hier habe sich ein Àhnlicher Effekt gezeigt. Insbesondere bei jenen Teilnehmer*innen, die Hunde mögen.
Die Studienergebnisse eröffnen neue Perspektiven etwa fĂŒr Schmerztherapien. So könnten Therapiehunde kĂŒnftig öfter in SpitĂ€lern, nach Operationen oder im tĂ€glichen Umgang mit chronischen Schmerzen eingesetzt werden. LEA
«Frauen sind speziell benachteiligt. Deswegen unterstĂŒtzen wir sie bei Surprise auch besonders»: Co-GeschĂ€ftsleiterin Jannice Vierkötter
Fokus
Vor einigen Wochen durften wir zum zweiten Mal unser «FrauenRĂ€ume»Fest durchfĂŒhren. Rund 80 Frauen vom Strassenchor, Strassenfussball und Heftverkauf trafen sich zur Kaffee-Zeremonie, liessen sich Henna-Tattoos malen oder wurden selbst aktiv: in der Kreativwerkstatt, beim Zumba-Workshop oder an der Modenschau. Aber eigentlich am wichtigsten waren GesprĂ€che und das Zusammensein in einem geschĂŒtzten Rahmen. Es war ein wundervoller Tag. Ich bin heute noch dankbar, dass ich dabei sein durfte.
Der Hintergrund eines solchen Anlasses ist, wie bei uns leider meistens der Fall, weniger erfreulich. Die Teilnehmerinnen befinden sich in prekĂ€ren Lebenssituationen: Sie sind von Armut betroffen, an ihnen nagen Existenzsorgen und Selbstzweifel, und viele sind als Migrantinnen mit zusĂ€tzlichen HĂŒrden und Diskriminierung konfrontiert. Das trifft zwar auch auf die MĂ€nner zu, die unsere Angebote wahrnehmen; die Frauen sind jedoch, wie in der Gesamtbevölkerung, zusĂ€tzlich aufgrund ihres Geschlechts benachteiligt.
Strassenfussball regelmĂ€ssiges Training nur fĂŒr Frauen an. Bei den Sozialen StadtrundgĂ€ngen, die von Frauen durchgefĂŒhrt werden, liegt ein besonderer Fokus auf der Armut von Frauen. Und auch im Heft widmen wir Frauen in prekĂ€ren Lebenssituationen mit den damit einhergehenden speziellen Herausforderungen immer wieder extra Aufmerksamkeit.
An dieser Stelle berichten wir alle zwei Wochen ĂŒber positive Ereignisse und Entwicklungen.
Uns ist es deshalb wichtig, dieser besonderen Benachteiligung auch zusĂ€tzliche UnterstĂŒtzung gegenĂŒberzustellen. So bieten wir neben dem «FrauenRĂ€ume»-Projekt auch im Surprise
Ich freue mich sehr zu sehen, dass dieser Einsatz Wirkung zeigt. So konnten wir unter anderem den Frauenanteil unter unseren VerkĂ€ufer*innen in den letzten Jahren kontinuierlich steigern. Wir konnten dieses Jahr zum ersten Mal â zusĂ€tzlich zum MĂ€nnerteam â mit einem reinen Frauenteam an den «Homeless World Cup» reisen. Zahlreiche Tourenteilnehmer*innen und Leser*innen schreiben uns, wie interessant sie besonders die weibliche Perspektive bei den StadtrundgĂ€ngen und im Strassenmagazin finden. Und dann sind da natĂŒrlich die vielen ĂŒberwĂ€ltigenden RĂŒckmeldungen zum «FrauenRĂ€ume»-Fest, die mir extraviel Freude machen. Danke, dass Sie uns beim Einsatz fĂŒr armutsbetroffene Frauen â wie auch fĂŒr die MĂ€nner â unterstĂŒtzen.
JANNICE VIERKĂTTER
Co-GeschÀftsleiterin Verein Surprise
VerkÀufer*innenkolumne
Ich mag keine Treppen. Jahrelang habe ich in Effretikon gelebt, in einer Wohnung im Erdgeschoss. Ohne Treppen. Gleich beim Bahnhof. Ich konnte zum Haus hinaus, auf den Zug und war in Winterthur am Bahnhofplatz, meinem SurpriseStandort. Jetzt wohne ich zwar in Winterthur selber, aber in einem Haus im dritten Stock. Ohne Lift. Was nichts anderes heisst als: Treppensteigen. Ich habe schon richtig Muskelkater! Aber das ist alles halb so schlimm, wÀren da nicht noch all die anderen Treppen in meinem Leben. Treppen, die mir das System in den Weg stellt.
Zum Beispiel die Krankenkasse: Als mein Sohn 18 Jahre alt wurde, ist er einer Krankenkasse beigetreten. Zwei Jahre spĂ€ter hat er sie gewechselt, hat also die alte gekĂŒndigt. Darauf hat ihm die neue mitgeteilt, er sei immer noch bei der
alten. Worauf er einer dritten beitrat. Am Ende hatte ich plötzlich mehrere Rechnungen im Briefkasten, von drei verschiedenen Krankenkassen. Und wie komme ich zum Briefkasten? Richtig, Treppe runtersteigen, Treppe wieder raufsteigen. Oder das Telefonabonnement. Kaum abgeschlossen, wird es teurer. Rechnung im Briefkasten, Mahnung im Briefkasten. Stundenlang hÀnge ich in einer Warteschleife, verstehe die Person nicht richtig, und schon einige Male hatte ich den Eindruck, die merken das genau und schwatzen mir etwas auf.
Manchmal glaube ich, fĂŒr unsereins werden die Treppenstufen mit Absicht ein wenig höher gemacht. Andrerseits: Ich habe mit einer Schweizerin darĂŒber gesprochen, und ihr geht es genauso. Vielleicht haben wir Menschen ein System kreiert, das wir selber nicht mehr
verstehen. Eine Treppe gebaut, die wir gar nicht mehr hochsteigen können. Trotzdem steige ich jeden Morgen meine Treppe runter und fahre mit dem Bus an den Bahnhof Winterthur und verkaufe dort das Strassenmagazin. Da stehe ich ĂŒbrigens oben an der Treppe, und mein Surprise-Kollege steht unterhalb der Treppe, in der UnterfĂŒhrung. Aber das ist reiner Zufall.
SEYNAB ALI ISSE, verkauft Surprise in Winterthur und ist mĂŒde vom vielen Auf und Ab aus eigener Kraft.
Die Texte fĂŒr diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und dem Autoren Ralf Schlatter erarbeitet. Die Illustration entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern â Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.
Armut kann unterschiedlich gemessen werden. GebrĂ€uchlich sind absolute Einkommensgrenzen. Wer mit seinem Einkommen unter dieser Armutsgrenze liegt, gilt als arm. Denkbar sind aber auch relative Armutsgrenzen. Die Verwendung einer relativen Armutsgrenze bedeutet, Armut in Bezug zur Wohlstandsverteilung in der gesamten Bevölkerung zu betrachten. Armut wird dann als Ausdruck sozialer Ungleichheit interpretiert. Relative Armutsgrenzen signalisieren das Ausmass an PrekaritĂ€t in einer Gesellschaft. Liegt ein grosser Teil der Bevölkerung unter einer solchen relativen Armutsgrenze, bedeutet dies, dass die Verteilung von GĂŒtern und Ressourcen sehr ungleich ist. Das Risiko fĂŒr sozialen Ausschluss ist entsprechend hoch.
Im Gegensatz zu absoluten Armutsgrenzen, die von Land zu Land unterschiedlich hoch sind, haben relative Armutsgrenzen den Vorteil, dass sie international vergleichbar sind. Man redet in diesem Zusammenhang von ArmutsgefÀhrdung. ArmutsgefÀhrdet zu sein bedeutet demnach, ein deutlich tieferes Einkommen als die Gesamtbevölkerung zu haben.
Die ArmutsgefĂ€hrdungsgrenze wird von der EuropĂ€ischen Union bei 60 Prozent des sogenannten verfĂŒgbaren mittleren Einkommens wie folgt festgelegt: Verglichen werden Haushaltseinkommen nach Abzug der obligatorischen Ausgaben wie Steuern und SozialversicherungsbeitrĂ€ge. BerĂŒcksichtigt wird dabei auch die Haushaltsgrösse. Bei gleichem Einkommen sind Paare mit Kindern hĂ€ufiger armutsgefĂ€hrdet als solche ohne Kinder. Die Grenzziehung bei 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) ist willkĂŒrlich. Eine Grenzziehung bei zwei Dritteln des mittleren Einkommens wĂ€re auch denkbar gewesen. Die OECD hat sich beispielsweise auf 50 Prozent des Medians festgelegt.
Im Jahr 2022 liegt in der Schweiz die ArmutsgefĂ€hrdungsgrenze fĂŒr einen Einpersonenhaushalt demnach bei 2587 Franken pro Monat. Damit ist die so ermittelte ArmutsgefĂ€hrdungsgrenze etwas höher als jene der Sozialhilfe. 15,6 Prozent der Bevölkerung der Schweiz oder mehr als 1,3 Millionen Menschen sind von Armut bedroht. PrekĂ€re Lebenslagen finden sich damit auch in der unteren Mittelschicht.
Der Anteil an ArmutsgefĂ€hrdung, die sogenannte ArmutsgefĂ€hrdungsquote, ist stark von der familiĂ€ren Situation und vom Ausbildungsniveau abhĂ€ngig. Paare unter 65 Jahren ohne Kinder haben mit 6,1 Prozent eine tiefere ArmutsgefĂ€hrdungsquote als Paare mit zwei Kindern (7,6%), diese ist wiederum tiefer als bei Paaren mit drei oder mehr Kindern (20,7%) oder bei Einelternhaushalten (25,1%). Ausserdem sind Personen mit einer tertiĂ€ren Ausbildung 3,8-mal weniger armutsgefĂ€hrdet als jene, die ihre Ausbildung mit der obligatorischen Schule abgeschlossen haben (7,9% gegenĂŒber 30,2%).
Die ArmutsgefÀhrdungsquote 2022 variiert in Europa (berechnet ohne eine fiktive Miete) zwischen 22,9 Prozent (Bulgarien) und 10,2 Prozent (Tschechien). Die Schweiz (15,8%) liegt knapp unter dem europÀischen Durchschnitt (EU 16,5%).
Die ArmutsgefĂ€hrdungsquoten unserer Nachbarn betragen 20,1 Prozent in Italien, 15,6 Prozent in Frankreich, 14,8 Prozent in Ăsterreich und 14,7 Prozent in Deutschland.
ArmutsgefÀhrdungsquote in ausgewÀhlten europÀischen Landern (Stand 2022)
PROF. DR. CARLO KNĂPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule fĂŒr Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.
Migration Abderrazzak Essamlali hat viel riskiert, um aus der Fremde Geld nach Hause schicken zu können. Und damit seiner Familie in Marokko ein besseres Leben zu bieten.
MONIQUE
Als Abderrazzak Essamlali seine Mutter zuhause anruft, ist er bereits 500 Kilometer von der Familie und dem Heimatdorf entfernt. Er ist in Tanger, dem nördlichsten Zipfel Marokkos, an der Schwelle zu Europa. Noch heute will er dorthin aufbrechen. Er sagt: Ich werde Geld schicken. Und verspricht: Wir sehen uns bald wieder. Es dauerte neun Jahre.
Essamlali war damals neunzehn. Als Kind der unteren marokkanischen Mittelschicht erwartete ihn in Douar Slalma, einem Dorf knapp anderthalb Stunden Autofahrt nordöstlich der Millionenstadt Marrakesch, ein Leben voller Fragen: Wo finde ich den nĂ€chsten Job? Können wir die SchulgebĂŒhren der Kinder meiner Geschwister zahlen? Oder brauchen wir das Geld, um Essen zu kaufen? Was, wenn jemand erkrankt? Ein Leben, in dem das Geld bis Ende Woche reichte, aber meist nicht bis Ende Monat. Essamlali, heute 37, sitzt im Wohnzimmer seiner Zweizimmerwohnung in Vevey. Im Regal an der Wand findetnsich GlĂ€ser, alte Lohnabrechnungen und ungeöffnete Couverts, BĂŒcher, ein TV, direkt darĂŒber ein hölzerner StĂ€nder fĂŒr den Koran, daneben liegt eine Gebetskette. Er erinnert sich an sein Leben in Marokko. «Wer sich Tag fĂŒr Tag mit existenziellen Fragen herumschlagen muss, der zermĂŒrbt», sagt Essamlali. Seine Familie, Freunde, Nachbarn â alle trĂŒgen sie die drĂŒckende Last, irgendwie durchzukommen. «Wirst du in Marokko nicht in eine reiche Familie geboren, hast du kaum Aufstiegschancen.» Also verliess der junge Mann sein Land. Essamlali ist nicht allein. TĂ€glich lassen Menschen ihre Heimat zurĂŒck, um in der Fremde Arbeit zu finden, die besser bezahlt ist, die es ihnen erlaubt, Geld zurĂŒckzuschicken und damit Familie oder Freunde zu unterstĂŒtzen. Wie viele Geldtransfers, auch Rimessen genannt, pro Jahr tatsĂ€chlich fliessen, ist schwer abzuschĂ€tzen. Es wird
unterschieden zwischen formellen Transfers, die ĂŒber traditionelle Banken, Kreditinstitute oder andere Zahlungsdienstleister abgewickelt werde (wie Western Union, Moneygram oder Ria), und informellen Transfers, wenn Migrant*innen beispielsweise bei einem Heimatbesuch Bargeld mitbringen oder den Transfer ĂŒber ein informelles Zahlungssystem tĂ€tigen (wie z.B. Hawala). Nach Angaben der Weltbank flossen im vergangenen Jahr weltweit 857 Milliarden US-Dollar an formellen Geldtransfers, das sind 0,7 Prozent mehr als im Vorjahr. FĂŒr 2024 sollen die RĂŒckĂŒberweisungen um 2,4 Prozent zunehmen, schĂ€tzt die Organisation. Damit eine Transaktion als Rimesse gilt, muss sie per Definition grenzĂŒberschreitend sein. Auch ein grosser Teil der rund 2,4 Millionen AuslĂ€nder*innen in der Schweiz schickt Geld in ihre HerkunftslĂ€nder. Die Schweizerische Nationalbank (SNB) bilanziert 8,27 Milliarden Schweizer Franken, die im Jahr 2023 von Kurzund Jahresaufenthalter*innen sowie Niedergelassenen in ihre HerkunftslĂ€nder ĂŒberwiesen wurden. ZĂ€hlt man die Lohnzahlungen von GrenzgĂ€nger*innen hinzu, sind im letzten Jahr sogar 35,6 Milliarden US-Dollar Transaktionsgelder geflossen.
So weit die Zahlen. Davon, was es bedeutet, all dieses Geld zu erarbeiten, ohne selbst unterzugehen, spricht kaum jemand.
Ăberall und doch nirgends
Essamlali schaut von seinem Wohnzimmer auf den Balkon. Dort stehen die Chilipflanzen noch in PlastikkĂŒbeln. Bereits vor Wochen wollte er sie in seinem Schrebergarten anpflanzen. FĂŒnf gelbe, fĂŒnf rote. Doch wie so oft fehlt ihm die Zeit, besonders, seit er vor einem Jahr eine Einzelfirma fĂŒr Bau- und Renovationsarbeiten gegrĂŒndet hat. Auch an diesem Samstag klingelt sein Handy im Halb-
«HĂ€tte ich gewusst, was mich hier erwartet, wĂ€re ich niemals gegangen», sagt Abderrazzak Essamlali im RĂŒckblick.
FrĂŒher als Sans-Papiers musste Abderrazzak Essamlali immer auf der Hut vor der Polizei sein und hatte bloss Gelegenheitsjobs. Heute hat er eine EinzelïŹrma und ist viel beschĂ€ftigt, auch mit BĂŒroarbeit â das Heimweh nach Marokko bleibt.
stundentakt. Eine Kundin will noch heute ihre Fliesen im Badezimmer austauschen. Essamlali stimmt sich mit ihr ab, telefoniert herum, um das richtige Material aufzutreiben, sucht einen Kollegen, der ihm helfen wird. «AuftrĂ€ge ablehnen liegt nicht drin», sagt er. Wenn jemand etwas von ihm wolle, sei er da, egal um welche Zeit. Deshalb wuchern momentan auf dem kleinen LandstĂŒck am Hang am Rand von Vevey Melonen, Gurken, Sonnenblumen und Unkraut durcheinander. Doch bald möchte sich Essamlali dort sein eigenes Paradies einrichten.
RĂŒckblick ins FrĂŒhjahr 2006: Essamlali hatte in Rabat, Marokkos Hauptstadt, als Hilfsarbeiter auf einer Baustelle zu tun, als eines Abends ein Arbeitskollege ihn in seine PlĂ€ne einweihte, nach Tanger aufzubrechen, um von dort nach Europa zu gelangen. Wenn er wolle, sei dies die Gelegenheit, mitzukommen. Versteckt zwischen den Achsen eines LKWs schaffte es Essamlali auf einem Frachtschiff ĂŒber die Strasse von Gibraltar. Von GrenzwĂ€chtern und dem Fahrer unentdeckt passierte er die vierzehn Kilometer lange Meerenge, die Marokko von Spanien trennt. Damals seien die Grenzkontrollen noch nicht so streng gewesen wie heute, und ein bisschen Schmiergeld habe sicher auch geholfen, sagt Essamlali. Wie viele Kilometer er anschliessend zwischen Fahrerkabine und AnhĂ€nger versteckt durch Spanien mitfuhr, daran kann er sich nicht mehr erinnern. «Nur mit Allahs Hilfe und viel GlĂŒck habe ich es geschafft», sagt Essamlali, als wĂŒrde er es gerade selbst zum ersten Mal begreifen. Er weiss nur noch, dass er danach fĂŒr Tage gekrĂŒmmt lief.
Essamlali ist seit mittlerweile achtzehn Jahren in Europa, die ersten neun davon als Sans-Papiers. Was bedeutete: harte Arbeit, miese Bezahlung, keine Rechte. Und immer die Angst vor der Polizei. Meist gab es ein paar Euro die Stunde, bar auf die Hand. Von seinem ersten Lohn als Erntehelfer in Nordspanien schickte Essamlali ein wenig Geld nach Hause, wie viel genau weiss er nicht mehr, das sei auch nicht wichtig, denn: «Jeder Euro hilft.» Seine Eltern kauften Medikamente gegen Herzrasen und hohen Blutdruck â Essamlali lieh sich Geld, damit er fĂŒr sich selbst Lebensmittel kaufen konnte.
Um nicht von der Polizei aufgegriffen und abgeschoben zu werden, blieb Essamlali jeweils nur so lange an einem Ort, bis er Arbeit fand und Geld nach Hause schicken konnte. Essamlali war ĂŒberall und doch nirgends.
Er schlug sich auf dem Landweg von Spanien ĂŒber Frankreich und Belgien nach DĂ€nemark durch, sogar bis nach Schweden. Dort lernte er Englisch, fand Arbeit, wo man ihn auch als Sans-Papiers meist respektvoll behandelte, und integrierte sich allmĂ€hlich. Bis die Polizei eines Tages eine Razzia auf der Baustelle durchfĂŒhrte und ihn sowie drei seiner Kollegen in Abschiebehaft steckte. Irgendwie haben sie die Abschiebung verhindern können, erzĂ€hlt Essamlali. Wie genau, das möchte er fĂŒr sich behalten. Zu jener Zeit lernte Essamlali eine Schweizerin kennen und lieben. Doch: «Wenn du stĂ€ndig auf dem Sprung bist, stĂ€ndig auf der Hut, kannst du keine ernsthafte Beziehung eingehen», sagt er. Eine, wie er es sich wĂŒnschte. Also durchquerte Essamlali 2015 Europa ein letztes Mal ohne gĂŒltige Papiere, bis in die Schweiz, wo er und seine Freundin heirateten. Erst spĂ€ter habe er realisiert, wie sehr ihn das Weiterziehen, wieder neu anfangen, sich anpassen und schnelles Geld verdienen geprĂ€gt haben. In der Schweiz habe er das erste Mal gespĂŒrt, dass er auch hier ankommen und Ruhe finden könnte.
Dass Abderrazzak Essamlali nach Europa wollte, wusste seine Mutter Sadia bis zu seinem Anruf aus Tanger nicht. Das Leben hat tiefe Falten in ihr Gesicht und die HÀnde gezeichnet. Sie ist 72 Jahre alt. Auf ihrer IdentitÀtskarte steht, dass sie zehn Jahre Àlter sei. Die Behörden konnten keine Geburtsurkunde finden, also haben die diensthabenden Beamten ihr Alter dem Aussehen nach geschÀtzt, als sie vor sechs Jahren das erste Mal eine IdentitÀtskarte beantragte. «Zwölf Kinder grossziehen, elf Buben, ein MÀdchen, und der harte Alltag, das alles hinterlÀsst Spuren», sagt Sadia Essamlali und lacht.
Der Wohnzimmertisch in der Vierzimmerwohnung am Stadtrand von Marrakesch ist gedeckt mit Eiern, Oliven, Brot, BaumnĂŒssen und Amlou, einem Brotaufstrich aus Mandeln, Honig und Arganöl. Sadia Essamlalis jĂŒngster Sohn, Mohammed, ist ebenfalls hier mit seiner Tochter. Er will wissen, was die fremden Leute von seiner Mutter wollen. «Geweint und gefleht habe ich», sagt Sadia Essamlali und giesst Minztee ein. Als Familie wĂŒrden sie eine Lösung finden, hatte sie damals am Telefon zu ihrem Sohn gesagt, denn sie wollte nicht, dass er, der ZweitjĂŒngste der Familie, fortgeht. Auf seine eigenen BedĂŒrf-
Wie wenig seine Berufserfahrung zĂ€hlt, habe er unterschĂ€tzt, sagt Abderrazzak Essamlali. Ein kleines Paradies ïŹndet er in seinem Schrebergarten in Vevey.
USA
Vereinigte Arabische Emiraten
Saudi-Arabien
Schweiz
Deutschland
China
Luxemburg
Niederlande
Frankreich
Kuwait
38,4 38,5 35, 6 24 20,2 17,9 16,7 15,9 12,7
Marokko liegt mit 0,145 Mrd. US-Dollar auf Platz 92 von insgesamt 214. 27.33 Mrd. Transferzahlungen aus der Schweiz sind Löhne von GrenzgÀnger*innen.
nisse zu hören, habe er nie gelernt, einander aushelfen sei selbstverstĂ€ndlich, so Sadia Essamlali. «In einer Grossfamilie fehlt immer jemandem irgendwas.» Mal brauche der Bruder Hilfe, damit er das Auto reparieren kann, mal brauche sie selbst einen Zustupf, etwa um das Lamm fĂŒr das alljĂ€hrliche Opferfest zu kaufen. Dann lege man als Familie zusammen. Und wenn das nicht reiche, wĂŒrden die Nachbarn aushelfen, erklĂ€rt Sadia Essamlali. So sei es zumindest in Douar Slalma, wo Abderrazzak aufwuchs. Douar Slalma ist noch heute kaum an die wirtschaftliche und landwirtschaftliche Infrastruktur angeschlossen. Von der Landstrasse, die zu den Touristenhochburgen Marrakesch und Agadir fĂŒhrt, zweigt nur ein staubiger Schotterweg ins Dorf ab. LĂ€den gibt es keine, die Dorfbewohner*innen verkaufen einander Wasser, GewĂŒrze, Fleisch, Brot oder Abwaschmittel. So kĂ€me man, als Gemeinschaft, ĂŒber die Runden, sagt Sadia Essamlali.
Gut investiert
Sadia Essamlali sitzt auf einem Stuhl im ansonsten kahlen Wohnzimmer. Ausser dem Fernseher an der Wand, einer Sitzecke und ein paar Stapeln Polsterkissen ist der Raum leer. Ihre HĂ€nde liegen gefaltet im Schoss. Mit fester Stimme erzĂ€hlt die Mutter, wie sie sich nach dem Anruf aus Tanger fĂŒhlte. Zwanzig Tage lang hatte sie nichts von ihrem Sohn gehört. Zwanzig Tage erstarrte sie jedes Mal aufs Neue, wenn das Telefon klingelte, und fĂŒrchtete, nun werde man ihr sagen, ihr Sohn sei tot. Sie wagte kaum die HaustĂŒr zu öffnen, aus Angst, nun ĂŒberbringe ihr jemand die Nachricht. «Mein Herz ist seither schwerer», sagt Sadia Essamlali. Jede Schlagzeile ĂŒber Migrant*innen, die es nicht geschafft haben, schmerze sie. «Das hĂ€tte auch mein Sohn sein können.»
Ohne Schulabschluss, mit Gelegenheitsjobs und einem schwachen Arbeitsmarkt, wĂ€re Abderrazzaks Leben in Marokko wohl Ă€hnlich verlaufen wie ihres, sagt Sadia Essamlali. Dass er mehr wollte, den Kreis durchbrechen, und deshalb ging, könne sie zwar verstehen â trotzdem habe sie Angst gehabt vor dem, was ihren Sohn in der Fremde erwarten wĂŒrde.
Als Anfang 2019 Abderrazzaks Vater verstarb, erkrankte auch Sadia Essamlali. In immer kĂŒrzeren AbstĂ€nden bekam sie Atemnot. Um Ă€rztliche Versorgung in der NĂ€he zu haben, zog sie noch im selben Jahr mit ihrem jĂŒngsten
Sohn Mohammed aus dem Dorf hierher nach Marrakesch. Heute ist Sadia Essamlali, bis auf Bluthochdruck und gelegentliches Herzrasen, wieder gesund. Damit das so bleibt, hat ihr der Arzt Medikamente verschrieben und regelmĂ€ssige Kontrollen angeordnet. Ohne Abderrazzaks Ăberweisungen wĂ€re das kaum möglich, sagt Sadia Essamlali. Jeden Monat schickt er ihnen umgerechnet 500 Franken fĂŒr Miete, Medikamente und Essen.
Es ist gut dokumentiert, dass Geldtransfers wie jene von Abderrazzak Essamlali die Gesundheit, ErnĂ€hrung und Bildung der Empfangenden erheblich verbessern. 2023 flossen umgerechnet rund 77 Prozent der insgesamt 857 Milliarden US-Dollar an Rimessen in LĂ€nder mit niedrigem und mittlerem Bruttosozialprodukt. Laut der Direktion fĂŒr Entwicklung und Zusammenarbeit des Bundes (DEZA) ĂŒberstiegen die RĂŒckĂŒberweisungen die BeitrĂ€ge der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit und ĂŒbertrafen 2022 erstmals die auslĂ€ndischen Direktinvestitionen in die einzelnen LĂ€nder. Konkret: FĂŒr ĂŒber sechzig LĂ€nder machen die Transferzahlungen ĂŒber fĂŒnf Prozent des eigenen Bruttoinlandprodukts aus â eine wichtige und direkte finanzielle UnterstĂŒtzung fĂŒr die lokale Bevölkerung.
Nach Ausbruch der Coronapandemie befĂŒrchtete die Weltbank einen Einbruch der Rimessen von bis zu 20 Prozent. Aktuelle Daten zeigen jedoch, dass sie der Krise getrotzt haben. Die offiziellen RĂŒckĂŒberweisungen lagen 2020 nur um 1,9 Prozent unter dem Vorjahresniveau. Damit bestĂ€tigen die Zahlen ein Muster, das in der Vergangenheit schon oft zu beobachten war: Rimessen sind in Krisenzeiten Ă€usserst widerstandsfĂ€hig. Mehr noch, gemĂ€ss DEZA entwickeln sich RĂŒckĂŒberweisungen teilweise sogar azyklisch: In instabilen Zeiten schicken Migrant*innen mehr Geld an ihre Familien.
WĂ€hrend Sadia Essamlali sich an die marokkanische Grossstadt zu gewöhnen versucht, haben sich in der Schweiz Abderrazzak und seine Frau 2022 nach sieben Jahren Ehe scheiden lassen. Sie blieb mit den beiden Töchtern in der Wohnung in Yverdon-les-Bains. Er ging, um Streit auszuweichen. Und schlief zwei Monate im Auto, bis er die Zusage fĂŒr eine Wohnung in Vevey bekam. Die Scheidung hiess fĂŒr Abderrazzak Essamlali: wieder neu anfangen und weiterhin nur Gelegenheitsjobs. Hinzu kam, dass er sich nun allein in der fremden Sprache, in einer
immer noch fremden Kultur und Gesellschaft zurechtfinden musste. Oft wusste er nicht, wie weiter. Er habe sein Leben hier in den Griff kriegen und gleichzeitig schauen mĂŒssen, dass in Marokko ebenfalls alles funktioniere, sagt Abderrazzak. «Meine Familie wĂŒrde mich nie um Geld bitten.» Aber es sei seine Verantwortung, wenigstens fĂŒr seine Mutter zu sorgen, jetzt, wo er von allen am meisten verdiene. «Wie kann ich von meinen Geschwistern verlangen, dass sie mit anpacken, wenn sie selbst, ĂŒber ganz Marokko verstreut, versuchen, irgendwie ĂŒber die Runden zu kommen?»
Ohne anerkannten Schul- oder Lehrabschluss sind die Chancen in der Schweiz sehr gering, einmal einen besser bezahlten Job zu finden. «Ich habe viel Erfahrung auf dem Bau, wohl mehr als viele andere hier, und habe sogar in verschiedenen LÀndern gearbeitet», sagt Abderrazzak Essamlali.
«Es war meine eigene Entscheidung»
Wie wenig das hier zÀhle, habe er unterschÀtzt. WÀre es finanziell möglich gewesen, hÀtte er eine Lehre gemacht, stattdessen konnte er bloss einen halbjÀhrigen Gipser-Kurs absolvieren. «Es bleibt ein stÀndiges AbwÀgen, was geht und was nicht, Àhnlich wie in Marokko.»
Auch deshalb hat sich Abderrazzak Essamlali vor einem Jahr selbstĂ€ndig gemacht, in der Hoffnung, in den nĂ€chsten drei Jahren mehr als nur den Mindestlohn zu verdienen. Im Winter gab es noch wenig AuftrĂ€ge, im FrĂŒhjahr tröpfelten weitere ein, und nach und nach wurden es mehr. Er weiss aus Erfahrung, dass die Leute mehr Vertrauen in eine GmbH haben als in Einzelfirmen. Deshalb möchte er seine Firma umwandeln. Das nötige Startkapital wird ihm wohl ein Bekannter leihen.
Dass Abderrazzak Essamlali nicht in der NĂ€he seiner Mutter leben kann, dass seine Töchter sein Land, seine Kultur und seine Familie bisher nur von einem gemeinsamen Besuch im letzten Jahr kennen, dass er seine Wohnung zurzeit mit einem Bekannten teilt, er nicht ins Fitnessstudio gehen kann, obwohl er Sport mag, fast nie im Restaurant isst, dass er sich seine kaputten ZĂ€hne in der TĂŒrkei hat flicken lassen, weil das sowohl in der Schweiz als auch in Marokko unbezahlbar gewesen wĂ€re, dass er sich manchmal Geld von den Sparkonten seiner Töchter leiht, um genug nach Hause schicken zu können â all das
erfĂ€hrt die Familie in Marokko nur hĂ€ppchenweise. «Und das soll auch so bleiben», sagt Abderrazzak Essamlali. Es sei seine eigene Entscheidung gewesen zu gehen. Wenn das Geld seiner Familie in Marokko helfe, dann habe er sein Ziel erreicht â auch wenn er selber dafĂŒr zurĂŒckstecken mĂŒsse.
Sadia Essamlali glaubt, dass fĂŒr ihren Sohn die Flucht nach Europa letztlich ein guter Entscheid war. «Seit er in der Schweiz ist, spĂŒre ich, wie er Fuss fasst, aufblĂŒht und allmĂ€hlich seine Ziele verfolgen kann.» Letzten Februar hat er wieder geheiratet, eine Marokkanerin. Wenn mit den Papieren alles klappt, wird sie ihm bald in die Schweiz folgen. Und Sadia Essamlali wĂŒnscht sich, wieder nach Douar Slalma zurĂŒckzukehren. Jetzt, wo es ihr besser geht. Ob das auch möglich gewesen wĂ€re, wĂ€re ihr Sohn in Marokko geblieben? Sie zuckt mit den Schultern.
Abderrazzak Essamlali dagegen ist hin und her gerissen: «HÀtte ich gewusst, was mich hier erwartet, wÀre ich niemals gegangen.» Andererseits sei er an den Hindernissen gewachsen, er findet, er sei ein besserer Mensch geworden mit klaren Vorstellungen vom Leben.
Und wÀhrend Abderrazzak Essamlali diesen Satz sagt, entscheidet sich irgendwo in Marokko ein anderer junger Mensch, nach Europa aufzubrechen.
Recherchefonds: Dieser Beitrag wurde ĂŒber den Surprise Recherchefonds ïŹnanziert. surprise.ngo/recherchefonds
HintergrĂŒnde im Podcast: Simon Berginz spricht mit Monique Misteli ĂŒber die HintergrĂŒnde ihrer Recherche. surprise.ngo/talk
Dass ihr Sohn Abderrazzak der Perspektivlosigkeit entrinnen wollte, könne sie nachvollziehen, sagt Mutter Saida. In Sorge sei sie trotzdem. Ihr jĂŒngster Sohn Mohammed ist mit seiner Tochter oft bei ihr zu Besuch.
Wohnen Finnland wird in Europa fĂŒr seine erfolgreiche BekĂ€mpfung von Wohnungslosigkeit gefeiert. Und staatliche SchĂ€tzungen suggerieren, dass die Zahlen weiter sinken. Nun aber fĂ€hrt die rechtskonservative Regierung einen neuen Kurs.
TEXT VEERA VEHKASALO
Die Zahl der von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen in Finnland ist im Vergleich zum Vorjahr erneut gesunken. Das geht aus einem Bericht des staatlichen «Zentrums fĂŒr die Finanzierung und Entwicklung von Wohnungsbau» (finn. Asumisen rahoitus- ja kehittĂ€miskeskus, ARA) hervor. ARA ist eine dem finnischen Umweltministerium unterstellte Behörde und zustĂ€ndig fĂŒr die Umsetzung der staatlichen Wohnungsbaupolitik. Im November 2023 lebten demzufolge 3429 Menschen ohne festen Wohnsitz, 1018 von ihnen langfristig. DarĂŒber hinaus waren auch 123 Familien betroffen â bei einer Gesamtbevölkerung von rund 5,6 Millionen. Die Erhebung beruht auf Daten aus den Gemeinden. Diese melden, wie viele Menschen am Stichtag im November in ihrem Gebiet wohnungslos sind.
Wie alle ZĂ€hlungen, die nicht anderweitig unabhĂ€ngig ĂŒberprĂŒft werden, geben auch diese Zahlen nur ein ungefĂ€hres Bild ab. Beispielsweise lag die RĂŒcklaufquote bei nur 72 Prozent. 17 Gemeinden â darunter die Stadt SeinĂ€joki im Westen, die sĂŒdfinnische Kleinstadt Vihti sowie Lapplands Hauptstadt Rovaniemi â haben keine Angaben gemacht. Auch beziehen sich die Zahlen auf eine breite Definition von Wohnungslosigkeit. So bilden in der ARA-Erhebung die bei Freunden oder Verwandten untergebrachten Personen die grösste Gruppe; sie machen etwa 62 Prozent der Gesamtzahl aus.
Jussi Lehtonen, Dienstleiter der finnischen NGO «Keine feste Bleibe» (finn. Vailla vakinaista asuntoa ry â VAA), spricht daher auch lieber von SchĂ€tzungen als von Statistiken. Ihm zufolge stimmt die finnische Zahl der tatsĂ€chlich von Strassen- oder Langzeitobdachlosigkeit Betroffenen schon dann nicht mit dem ARA-Bericht ĂŒberein, sobald man sie nur «von der Basis aus» betrachte: Wenn eine Person keinen Kontakt zu den Sozialbehörden aufnimmt oder die staatliche Sozialversicherungsagentur
Kela (ĂŒber die verschiedene UnterstĂŒtzungsleistungen ausgezahlt werden) nicht ĂŒber ihre Wohnsituation informiert, taucht sie in der Statistik nicht auf. Da Sozialarbeiter*innen jedoch tĂ€glich auf solche Menschen treffen, so Lehtonen, lasse dies auf eine höhere Zahl an Betroffenen schliessen, als die ARA-Zahlen verraten.
Auch ARA betont, dass es sich bei der Erhebung um sogenannte Richtwerte handelt und dass die Zahlen, insbesondere im Hinblick auf langfristige Obdachlosigkeit, mit «besonderem Vorbehalt» betrachtet werden mĂŒssen. Nachhaltige Datenerhebungen mĂŒssten auch vertiefte Informationen beispielsweise ĂŒber die Wohngeschichte der Menschen berĂŒcksichtigen, was dieser Bericht nicht leistet. «Die Kommunen zeichnen womöglich auch ein zu rosiges Bild von sich selbst», sagt Lehtonen. Beispielsweise um nicht in Handlungszwang zu geraten. Und weil es sich um eine sogenannte Stichtagserhebung handelt, bedeu-
Finnlands Wohnungsbaupolitik: Vorbild adé
Seit 2007 investierte Finnland in eine aktive Reduktion der Wohnungs- und Obdachlosigkeit ĂŒber den Housing-First-Ansatz und liess ĂŒber 8000 Apartments bauen. Die Idee: Wohnungslose brauchen als Erstes eine eigene Wohnung â weil Wohnen ein Menschenrecht ist, aber auch, weil sich viele Probleme erst in den eigenen vier WĂ€nden lösen lassen (siehe Surprise 533/22). Von Housing-First proïŹtieren kann nur, wer ein Recht auf Sozialleistungen in Finnland hat. Bis 2027 sollte so die Obdachlosigkeit in Finnland verschwunden sein. Die 2023 gewĂ€hlte konservativ-rechte Regierung jedoch spricht nun nur noch von der Abschaffung der Langzeitobdachlosigkeit und strich bereits ZuschĂŒsse fĂŒr bezahlbares Wohnen sowie Wohnberatung. WIN
tet dies auch, dass Personen, die bis zum Tag vor der Erhebung das ganze Jahr ĂŒber obdachlos waren, am Stichtag aber irgendwo untergekommen sind, nicht als betroffen gezĂ€hlt werden. WĂŒrde man die Zahlen ĂŒber einen lĂ€ngeren Zeitraum erheben, ergĂ€be das wahrscheinlich ein anderes Ergebnis.
Teija Ojankoski ist GeschĂ€ftsfĂŒhrerin von Y-SÀÀtiö, Finnlands grösstem gemeinnĂŒtzigen Wohnungsanbieter. Sie sieht eine Herausforderung bei der Datenerhebung darin, dass es durch die Vielzahl der beteiligten Ebenen und Akteure, unter anderem die Kommunen und die Regionen, zu Ungenauigkeiten komme. Aber solche Verzerrungen liegen eben auch in der Natur der Statistik, sagt sie. Insgesamt ist die Zahl der von Obdach- und Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen in Finnland wohl etwas höher, als die aktuellen Zahlen von ARA vermuten lassen. Und doch ist ein weiterer RĂŒckgang erkennbar, da sind sich alle Akteure einig, und das bestĂ€tigt einen langfristigen Trend. ARA berichtet von einer Verminderung von 80 Prozent seit 1986.
«Mein erster Gedanke war, wie grossartig es ist, dass die Zahlen noch einmal zurĂŒckgegangen sind», sagt Leena Rusi, Entwicklungsdirektorin der Blue Ribbon Foundation (finn. SininauhasÀÀtiö). Diese Stiftung arbeitet im Bereich Suchthilfe und Wohnungslosigkeit. «Andererseits ist es wirklich notwendig, sich zu fragen, worauf die Statistiken beruhen und ob sie wirklich wahr sind.» Gerade weil Finnland seit Jahren als das einzige Land in der EU dargestellt wird, in dem die Wohnungslosigkeit dank
der systematischen UnterstĂŒtzung von Betroffenen und dem «Housing First»-Prinzip zurĂŒckgeht.
Rusi weist darauf hin, dass neben QuantitĂ€t auch QualitĂ€t eine Rolle spiele: Die Statistiken sagen nichts ĂŒber die Situation der Menschen aus. «Die Zahl der von Obdachlosigkeit betroffenen Menschen ist zwar zurĂŒckgegangen, aber die Probleme haben stark zugenommen», sagt Rusi. So sei zwar die Zahl der jungen Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, im Vergleich zum Vorjahr um bis zu ein Drittel und die Zahl der Frauen um ein Sechstel gesunken. Aber «fĂŒr beide Gruppen ist die Situation in vielerlei Hinsicht viel schwieriger als je zuvor. Ich bin seit dreissig Jahren in diesem Beruf tĂ€tig und habe noch nie erlebt, dass es jungen Menschen so schlecht geht wie jetzt», sagt Rusi.
Die Blue Ribbon Foundation betreibt in Helsinki einen Treffpunkt fĂŒr junge Menschen, die Drogen nehmen. Laut Rusi kennen inzwischen alle Jugendlichen, die den Treffpunkt besuchen, eine Person, die an einer Ăberdosis gestorben ist, oder sie wurde selbst wegen einer Ăberdosis ins Krankenhaus eingeliefert. Die drogenbedingte Sterblichkeitsrate unter jungen Menschen in Finnland ist eine der höchsten in Europa. «Wir beobachten psychische Probleme, Mehrfach-AbhĂ€ngigkeiten und wirklich schlimme Nebenwirkungen wie Amputationen und schwere psychosoziale Symptome bei jungen Suchterkrankten, die von Obdachlosigkeit betroffen sind. Dies bedeutet, dass die Menschen nicht rechtzeitig behandelt werden und unangemessen lange auf eine Behandlung warten mĂŒssen», so Rusi.
Derzeit sind 22 Prozent der von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffenen Menschen Frauen. Rusi zufolge verschlechtert sich auch bei ihnen der psychische und physische Zustand zunehmend. «Die betroffenen Frauen werden immer jĂŒnger, sie haben hĂ€ufiger mit schwerem Missbrauch zu tun und auch die Drogenproblematik wird immer schlimmer.» Im Rahmen des derzeitigen Systems ist es sehr schwierig, Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen sind und gleichzeitig an einer schweren Suchterkrankung leiden, zu erreichen und ihnen eine Unterkunft zu bieten, da viele den Kontakt zu Einrichtungen meiden und sich auf der Strasse an verschiedenen Orten aufhalten.
Zeitgleich hat die Obdachlosigkeit unter Immigrant*innen zugenommen, sie machen 24 Prozent der Betroffenen aus. Davor war diese Zahl seit 2015 rĂŒcklĂ€ufig. Rusi erklĂ€rt, dass das Risiko, obdachlos zu werden, fĂŒr Migrant*innen im Allgemeinen höher ist, da sie oft ĂŒber ein geringeres Einkommen verfĂŒgen und leichter Ausbeutung auf dem informellen Wohnungsmarkt zum Opfer fallen, beispielsweise aufgrund von Diskriminierung oder mangelnder Informationen.
Am grössten ist das Risiko fĂŒr Sans-Papiers und EU-BĂŒrger*innen ohne Leistungsanspruch. Diese Personen tauchen jedoch in der offiziellen Statistik nicht auf. ARA weist in der Erhebung klar aus, dass Menschen ohne Aufenthaltsstatus nicht in die ObdachlosigkeitszĂ€hlungen einbezogen werden. In der Schweizer ZĂ€hlung von 2022 wurden Sans-Papiers hingegen erfasst. Sie machten mit ĂŒber 60 Prozent die Mehrheit der Betroffenen aus, was schliesslich eine der Haupterkenntnisse war: Dass diese Bevölkerungsgruppe am hĂ€ufigsten vom Wohnungsmarkt ausgeschlossen wird oder ausgeschlossen bleibt.
Verschiedenen SchĂ€tzungen zufolge leben in Finnland zwischen 1000 und 6000 Menschen ohne Papiere oder Leistungsanspruch. FĂŒr Hilfsorganisationen ist es schwierig, sie zu erreichen, geschweige denn etwas ĂŒber ihre Wohnsituation zu
erfahren. Immerhin gibt es allein in Helsinki mindestens hundert Notbetten speziell fĂŒr EU-Angehörige ohne Leistungsanspruch und Menschen aus Drittstaaten. Allerdings landet wieder nur ein kleiner Teil von ihnen in den NotunterkĂŒnften. Es ist nicht bekannt, wie gross der Anteil an Menschen ohne Aufenthaltsstatus ist, die beispielsweise bei Verwandten oder Freund*innen leben. Die letztes Jahr neu gewĂ€hlte finnische Regierung setzte nun empfindliche KĂŒrzungen durch, unter anderem bei der ArbeitslosenunterstĂŒtzung, beim Wohngeld und bei den Möglichkeiten, zusĂ€tzliches Einkommen zu erzielen. Beispielsweise senkte sie die fĂŒr das Wohngeld zulĂ€ssige Höchstmiete, und es ist nicht mehr möglich, diese nach dem Ermessen der zustĂ€ndigen SozialĂ€mter zu flexibilisieren. Schon hat die staatliche Sozialversicherungsagentur Kela damit begonnen, Mieter*innen eine Aufforderung zu schicken, sie sollten sich gĂŒnstigeren Wohnraum suchen. «Es ist kaum vorstellbar, dass die Obdachlosigkeit dadurch nicht zunehmen wird», sagt Leena Rusi von der Blue Ribbon Foundation. «Und es ist wirklich bedauerlich, denn auch diese Regierung unterstĂŒtzt die Umsetzung des Obdachlosenhilfeprogramms, zumindest gemĂ€ss den aktuellen Informationen. Aber das wĂŒrde positiven Druck erfordern.» Mehr Ressourcen beispielsweise, oder ĂŒberhaupt eine politische Debatte. Seit dem Regierungswechsel findet diese kaum noch statt. Auch Teija Ojankoski von Y-SÀÀtiö steht den neusten Entwicklungen skeptisch gegenĂŒber. «Im Moment sind die Wohnungslosenzahlen auf einem historischen Tiefstand. Das ist grossartig, aber höchstwahr-
scheinlich werden die Zahlen wieder ansteigen.» Sie fĂŒgt hinzu, dass die Sozialhilfereform, die GesetzesĂ€nderungen und die zahlreichen KĂŒrzungen das Risiko eines Anstiegs erhöhen. «Was werden wir tun, wenn es keine bezahlbaren Wohnungen mehr gibt, zum Beispiel in StĂ€dten mit starkem Wachstum, oder diese alle belegt sind? Vor allem Ă€ltere Menschen und allein lebende Menschen im arbeitsfĂ€higen Alter werden schneller in der Wohnungslosigkeit landen», sagt Ojankoski. Besonders die KĂŒrzung des Wohngeldes werde die Situation verschlimmern, und das vor allem in Helsinki, wo es am meisten Wohnungslose gibt. Ojankoski zufolge sind die VerĂ€nderungen bereits sichtbar. Sogar innerhalb der sozialen Wohnungsbau-Stiftung Y-SÀÀtiö werden billigere Wohnungen gesucht. Inzwischen sind nĂ€mlich auch deren Mieten aufgrund der gestiegenen Kosten und ZinssĂ€tze teurer geworden. Ojankoski hĂ€lt es fĂŒr politische Heuchelei, wenn das Geld der Sozialleistungen beziehenden Menschen nicht ausreicht, um selbst bei subventionierten Anbietern zu wohnen, wo die Miete nur die obligatorischen Ausgaben deckt. «Es sollte eine breite gesellschaftliche Diskussion darĂŒber geben, wie wir den WohnbedĂŒrfnissen dieser Menschen wirklich gerecht werden können. Bislang wurden sie durch Wohngeld und ergĂ€nzende Einkommensbeihilfen unterstĂŒtzt. Wenn aber auch hier die Grenzen ĂŒberschritten werden, verursachen wir dann mit diesem System nicht sogar Obdachlosigkeit?», fragt sie.
Auch Jussi Lehtonen glaubt, dass die Ănderungen fĂŒr viele BezĂŒger*innen von Wohngeld und GrundeinkommensunterstĂŒtzung dramatische Folgen haben werden: «SchĂ€tzungsweise 10 von 100 BezĂŒger*innen werden aufgrund von MietrĂŒckstĂ€nden obdachlos werden, einfach weil das Geld fehlt und weil es Menschen mit verschiedenen Problemen bei der LebensfĂŒhrung gibt», schĂ€tzt er. Doch selbst wenn die Obdachlosigkeit aufgrund dieser VerĂ€nderungen wieder zunehmen sollte, werden die offiziellen Zahlen dies nicht sofort widerspiegeln. «Sowas zeigt sich erst mit einer leichten Verzögerung. Bis die Situation einer Person zu einer Krise eskaliert und das Kartenhaus zusammenbricht, dauert es ein wenig», sagt Lehtonen.
Ăbersetzt und bearbeitet von SARA WINTER SAYILIR Mit freundlicher Genehmigung von ISO NUMEROâ/âINSP.NGO
Noch zĂ€hlt jedes Land und jede Region in Europa das Ausmass von Wohnungslosigkeit etwas anders. Seit der AbsichtserklĂ€rung des EuropĂ€ischen Parlaments, Wohnungslosigkeit bis 2030 abschaffen zu wollen, ïŹnden auch BemĂŒhungen zur Vereinheitlichung der ZĂ€hlweisen statt. Ein Pilotprojekt dazu lĂ€uft derzeit in verschiedenen StĂ€dten der EU an. In der Schweiz gibt es bisher noch keine regulĂ€ren jĂ€hrlichen Erfassungen. Eine erste hiesige ZĂ€hlung von 2022 (siehe Surprise 525/22) durch Sozialwissenschaftler*innen konzentrierte sich auf jene Betroffenen in den grössten acht Schweizer StĂ€dten, die auf der Strasse, auf öffentlichen PlĂ€tzen oder in NotunterkĂŒnften und Notschlafstellen ohne Tagesaufenthalt ĂŒbernachteten. In dem ïŹnnischen Report machen diese Menschen 14 Prozent der angegebenen Gesamtzahl aus. WIN
Schweiss, Emotionen und fast 10 000 Kilometer weit weg von zuhause: Die Surprise StrassenfussballNati vertrat Ende September die Schweiz am Homeless World Cup in Seoul.
RegelmĂ€ssige Surprise-Leser*innen wissen: Wir vom Strassenfussball-Team organisieren, betreuen und trainieren jedes Jahr die Teilnehmer*innen der Schweizer Delegation am Homeless World Cup. Jede*r Spieler*in darf nur einmal im Leben mitmachen â allein das macht das Turnier fĂŒr Menschen in prekĂ€ren Lebenssituationen zu etwas ganz Speziellem. Dieses Jahr waren wir besonders stolz darauf, dass wir neben dem MĂ€nner-/Mixed-Team auch mit einem reinen Frauenteam reisen durften.
Wir bedanken uns herzlichst bei allen Spieler*innen und UnterstĂŒtzer*innen vor Ort und zuhause. Und ein zusĂ€tzliches riesen MERCI an die vielen Stricker*innen der rund 180 Fan-Schals â viele davon haben wir in Seoul an Spieler*innen aus aller Welt ĂŒberreicht, einige werden wir aber auch dauerhaft in unserer Trainingshalle in Dornach ausstellen. JANOSCH MARTENS, ANGEBOTSLEITER
1 â Starkes StĂŒck
UrsprĂŒnglich explizit als Fussballevent fĂŒr Obdachlose gedacht, freut sich der Homeless World Cup heute ĂŒber Teilnehmer*innen in unterschiedlichen prekĂ€ren Lebenssituationen. Der Anlass gibt ihnen Selbstvertrauen, Teamgeist und einmalige Erinnerungen â das macht Freude!
2 â Frauen am DrĂŒcker
Die Frauen-Nati lieferte eine beeindruckende Bilanz: Mit sieben Siegen in 13 Spielen erkĂ€mpfte sie sich die Bronzemedaille in ihrer StĂ€rkeklasse. Die MĂ€nner besiegten in der Vorrunde Deutschland und in der K.O.Phase Schweden â ebenfalls eine starke Leistung.
3,4 â Fairplay ïŹrst
Gewinnen ist hier zweitrangig: Der Spielspass und das Miteinander stehen am HWC an erster Stelle. Spezielle Regeln sorgen dafĂŒr, dass der Sportsgeist wĂ€hrend und neben der Matches von allen geschĂŒtzt wird.
Sozialreform Warum ĂberbrĂŒckungsleistungen eine gute Idee sind â zur Entlastung der Sozialhilfe und fĂŒr die soziale Integration Ă€lterer Arbeitsloser.
Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Romano Butoni, gelernter Schlosser, 58 Jahre alt und seit mehr als 20 Jahren beim gleichen Betrieb tĂ€tig, verliert nach einer Fusion seinen Arbeitsplatz. Er meldet sich bei der Regionalen Arbeitsvermittlung (RAV). Trotz unzĂ€hliger Bewerbungen findet unser Herr Butoni keine Stelle mehr und wird kurz nach seinem 60. Geburtstag ausgesteuert, erhĂ€lt also kein Geld mehr aus der Arbeitslosenversicherung. Im letzten GesprĂ€ch erklĂ€rt ihm seine RAV-Beraterin, dass er möglicherweise Anspruch auf ĂberbrĂŒckungsleistungen (ĂL) hat.
Die ĂL stehen fĂŒr den neusten Ausbau des Schweizer Sozialstaates. Sie gewĂ€hrleisten Ă€lteren Arbeitslosen die materielle Existenzsicherung fĂŒr die Zeit zwischen der Aussteuerung von der Arbeitslosenversicherung und der Pensionierung.
Die ĂL weisen einige Besonderheiten auf, die fĂŒr die sozialpolitische Debatte auch in Bezug auf zukĂŒnftige weitere Reformen von Bedeutung sind. Das fĂ€ngt bei der Entstehungsgeschichte an, geht weiter zu den HĂŒrden, die genommen werden mĂŒssen, um ĂL ĂŒberhaupt beanspruchen zu können, und fĂŒhren schliesslich zu den Gegenleistungen, die erbracht werden sollen, um diese Gelder ĂŒber lĂ€ngere Zeit beziehen zu dĂŒrfen.
Die Diskussion ĂŒber die ĂL wurde von der Schweizerischen Konferenz fĂŒr Sozialhilfe (SKOS) lanciert. Diese publizierte im Februar 2018 ihr Positionspapier «Alternativen zur Sozialhilfe fĂŒr ĂŒber 55-JĂ€hrige». Gemeint waren damit ErgĂ€nzungsleistungen fĂŒr Ă€ltere Arbeitslose, die keine Leistungen von der ALV mehr erhalten. Der Bundesrat griff diesen Vorschlag zum allgemeinen Erstaunen auf. Im Lead war weder Bundesrat Guy Parmelin, der fĂŒr die Arbeitslosenversicherung zustĂ€ndig ist, noch Bundesrat Alain Berset, der fĂŒr die ErgĂ€nzungsleistungen verantwortlich war, sondern BundesrĂ€tin Karin Keller-Sutter, die damalige Vorsteherin des Eidgenössi-
TEXT CARLO KNĂPFEL
schen Justiz- und Polizeidepartements. Sie suchte nach einer Massnahme, mit der sie die Volksinitiative der Schweizerischen Volkspartei (SVP) â die sogenannte «Begrenzungsinitiative» â wirkungsvoll bekĂ€mpfen konnte. Diese wollte die Arbeitsmigration mit dem Argument einschrĂ€nken, dass zu viele Ă€ltere ErwerbstĂ€tige ihre Stellen an «billigere» auslĂ€ndische Arbeiter*innen verlieren wĂŒrden. Eine Annahme dieser Initiative hĂ€tte das Ende der PersonenfreizĂŒgigkeit zwischen der EuropĂ€ischen Union und der Schweiz zur Folge gehabt. Schon im Herbst 2019 ging ein Entwurf fĂŒr ein ĂL-Gesetz in die Vernehmlassung, und wenig spĂ€ter beugten sich die eidgenössischen RĂ€te ĂŒber dieses neue Instrument. Im Juni 2020 wurde die Vorlage verabschiedet. Im darauffolgenden Sep-
Anzahl Ausgesteuerte (Mitte 2021-Ende 2022)
Gesamtzahl
Potentiell ĂL-Anspruchsberechtigte (36%)
TatsĂ€chliche ĂL-Beziehende (12%)
tember wurde die SVP-Initiative mit einem 62-Prozent-Nein-Anteil deutlich abgelehnt. Ohne Referendum wurden die ĂL auf den 1. Juli 2021 eingefĂŒhrt.
Braucht es die ĂL wirklich?
Die ĂberbrĂŒckungsleistungen decken die Kosten fĂŒr den Lebensbedarf, die Miete oder auch die Arztkosten, fĂŒr welche die Ă€lteren ausgesteuerten Arbeitslosen nicht selbst aufkommen können. Dabei orientieren sie sich in ihrer Ausgestaltung und Berechnung an den ErgĂ€nzungsleistungen. Trotzdem musste der bundesrĂ€tliche Vorschlag in der parlamentarischen Behandlung einige Federn lassen, insbesondere bei den Kriterien, die erfĂŒllt sein mĂŒssen, um ĂL beanspruchen zu können. Erstens muss man das 60. Altersjahr im Zeitpunkt der Aussteuerung schon erreicht haben. Zweitens muss man mindestens 20 Jahre AHV-BeitrĂ€ge geleistet haben, davon mindestens fĂŒnf Jahre nach dem 50. Geburtstag. Drittens muss man ein Mindesteinkommen von jĂ€hrlich mindestens 75 Prozent der AHV-Höchstrente (22050 Franken, Stand 2024) verdient haben oder Erziehungs- und Betreuungsgutschriften aufweisen. Viertens muss man in der Schweiz oder in einem der Mitgliedstaaten der EU/EFTA wohnen. Und fĂŒnftens darf man als alleinlebende Person nicht mehr als 50000 Franken Vermögen haben, als Paar nicht mehr als das Doppelte. Hausbesitz wird dabei nicht angerechnet, wohl aber Pensionskassenguthaben von ĂŒber 522600 Franken (Stand 2024).
Der Anteil der ausgesteuerten Ă€lteren Arbeitslosen, die diese Kriterien allesamt erfĂŒllen, ist, wie erste Erfahrungen zeigen, nicht allzu hoch. Zwischen Mitte 2021 und Ende 2022 wurden 5519 ĂŒber 60-jĂ€hrige Personen ausgesteuert. Von ihnen haben nur 671 Personen ĂL erhalten. Die durchschnittliche ĂL-Quote, also der Anteil aller ĂL-Beziehenden am Total der ausgesteuerten Personen ab dem 60. Altersjahr, be-
trĂ€gt damit 12 Prozent. Das Bundesamt fĂŒr Sozialversicherungen hatte jedoch mit einer Quote von 36 Prozent gerechnet, basierend auf der Annahme, dass alle Personen, die Anspruch auf ĂL haben, einen Antrag stellen und diese Sozialleistung auch erhalten. 759 Gesuche der Zielgruppe wurden jedoch abgelehnt, die meisten, weil (noch) ein zu hohes Vermögen vorhanden war.
Die Zahlen werden sich im Laufe der Zeit noch Ă€ndern. WĂ€hrend der Pandemie wurde die Aussteuerung eine Zeit lang gestoppt. Zwischen MĂ€rz und August 2020 erhielten Personen mit Taggeldanspruch bis zu 120 zusĂ€tzliche Taggelder. Zwischen MĂ€rz und Mai 2021 waren es noch 66. In diesen Zeitfenstern fiel die Aussteuerung auf null. Damit gab es natĂŒrlich auch weniger Personen, die ĂL hĂ€tten beanspruchen können. Wenn dieser Einfluss nun abklingt, werden sich die Aussteuerungen wieder in der bekannten Höhe einpendeln. 2026 sollen die ĂL erstmals evaluiert werden. Schon jetzt werden Stimmen laut, die fĂŒr eine Abschaffung plĂ€dieren. Ihnen wird entgegengehalten, dass ganz im Gegenteil die Kriterien, die fĂŒr einen Bezug erfĂŒllt sein mĂŒssen, gelockert werden sollten, damit die ĂL die ihnen zugedachte Wirkung erst richtig entfalten können.
Besser als Sozialhilfe
Ăltere ausgesteuerte Arbeitslose fahren mit ĂberbrĂŒckungsleistungen deutlich besser als mit dem Bezug von Sozialhilfe. Die Vermögensfreigrenze ist höher, bei der Sozialhilfe liegt diese gemĂ€ss den SKOS-Richtlinien fĂŒr eine Einzelperson bei nur 4000 Franken. Der gedeckte Grundbedarf ist ebenfalls deutlich höher, ebenso die Mietzinsgutschriften. Die ĂL kennen auch keine VerwandtenunterstĂŒtzungs- oder RĂŒckerstattungspflicht. Schliesslich können die ĂL auch «exportiert» und damit im europĂ€ischen Ausland bezogen werden. Allerdings werden erstmalig bestimmte Ausgaben dieser Sozialleistung an die Kaufkraft des jeweiligen Landes angepasst. Die ĂL schĂŒtzen auch die Altersvorsorge der BezĂŒger*innen. Wer sie bezieht, ist im Gegensatz zur Sozialhilfe nicht verpflichtet, frĂŒhzeitig das Kapital aus der zweiten SĂ€ule der beruflichen Vorsorge zu beziehen, um sein Leben zu finanzieren. Vielmehr können die ĂL bis zum Erreichen des Referenzalters (frĂŒher: Rentenalter) bezogen werden â ausser es ist absehbar, dass das Renteneinkommen nur aus AHV
und ErgĂ€nzungsleistungen bestehen wird. In dem Fall muss man sich mit 62 Jahren frĂŒhpensionieren lassen. Damit gewinnen die ĂberbrĂŒckungsleistungen nochmals eine andere Bedeutung. Sie können eine entscheidende Rolle spielen, wenn in der Alterspolitik wieder ĂŒber eine Erhöhung des Referenzalters diskutiert wird. Die ĂL könnte dann einen Teil der befĂŒrchteten Arbeitslosigkeit «absorbieren». Keine Leistung ohne Gegenleistung. Dieses neoliberal geprĂ€gte sozialstaatliche Motto gilt auch fĂŒr die ĂL. Im Gesetz ist festgehalten, dass der Bundesrat vorsehen kann, dass eine Gegenleistung in Form von weiteren BemĂŒhungen fĂŒr eine arbeitsmarktliche Integration nachgewiesen wird. In der dazugehörigen Verordnung â gegen die anders als bei einem Gesetz kein Referendum ergriffen werden kann â wird aus dem «kann» eine zwingende Auflage: Der Bundesrat verlangt einen jĂ€hrlichen Nachweis der Gegenleistung. In den ErlĂ€uterungen zur Verordnung wird gleichzeitig festgehalten, dass die Aussichten von Ă€lteren Arbeitslosen, nochmal eine Stelle zu finden, sehr gering sind. Sie dĂŒrfen darum auch «soziale» Gegenleistungen erbringen. Gemeint ist damit, dass ĂL-Beziehende auch nachweisen können, dass sie sich freiwillig engagieren oder Angehörige betreuen und pflegen. Damit wird die arbeitsmarktliche Integration mit einer gleichwertigen sozialen Integration ergĂ€nzt. Diese Regelung sollte die SKOS ĂŒbernehmen, nachdem sie sich wiederholt dafĂŒr ausgesprochen hat, dass die soziale Integration auch ein eigenstĂ€ndiges Ziel der Sozialhilfe darstellt.
Die ĂL soll, kaum eingefĂŒhrt, schon wieder abgeschafft werden, wenn es nach den VorschlĂ€gen der Expertengruppe ginge, die kĂŒrzlich mögliche Sparmassnahmen zur Entlastung der Bundeskasse aufgelistet hat. In seiner Botschaft an das Parlament hat der Bundesrat unter der Leitung von Keller-Sutter diesen Vorschlag jedoch nicht ĂŒbernommen.
ZurĂŒck zu Romano Butoni: Dieser beantragt also bei der zustĂ€ndigen Ausgleichskasse ĂL. Wie sich herausstellt, sind seine Ersparnisse noch etwas zu hoch. Er ist inzwischen nach Italien zurĂŒckgekehrt. In rund einem Jahr wird er ĂL beziehen können, bis er endlich in Rente gehen kann. Sein freiwilliges Engagement als Trainer des Nachwuchses des lokalen Fussballvereins wird ihm als Gegenleistung anerkannt.
Anteil 56-64-JĂ€hrige an allen Sozialhilfebeziehenden
Film Eine einsame Witwe packt in der bittersĂŒssen Komödie «Ein kleines StĂŒck des Kuchens» ihre Chance auf eine Romanze. Das war den iranischen Behörden schon zu viel.
TEXT
YVONNE KUNZ
Da steht sie nun also vor ihrem Badezimmerspiegel, Mahin, eine 70-jĂ€hrige Witwe, und blickt den Tatsachen ins Auge. Sie betrachtet ein Gesicht wie auf dem Spendenaufruf der Pro Senectute, der neulich in die Schweizer Haushalte flatterte: mĂŒde, faltig, etwas aufgedunsen, mit hĂ€ngender Haut und noch tiefer hĂ€ngenden Mundwinkeln.
Es ist ein Gesicht, dem niemand mehr Aufmerksamkeit schenkt, nicht die die TrĂ€gerin selbst. Eine Rom-Com ĂŒber eine einsame alte Frau, die sich nach Liebe, Sex und ZĂ€rtlichkeit sehnt und es nicht bei der Sehnsucht belĂ€sst, ist kein Massen-Genre. Doch genau das ist der Rahmen von «Ein kleines StĂŒck vom Kuchen», dem dritten Spielfilm des iranischen Regieduos und Ehepaars Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha. Sie erzĂ€hlen mit dem Film eine berĂŒhrende, fast schon banale Geschichte ĂŒber Liebe und Verlust, ĂŒber Alter und Einsamkeit. Und doch ist im Iran wohl nichts einfach, weder in der RealitĂ€t noch in der Kunst.
Was tun gegen Einsamkeit?
Mahins stumme Existenz allein in ihrer Wohnung wird in einer Reihe wunderbar komponierter Vignetten gezeigt. Von Schlafproblemen geplagt, schafft es die Witwe nie vor dem Mittag aus dem Bett. «Ich bin am Leben», murmelt sie beim Erwachen ins Kissen, unklar, ob das eine erfreuliche Feststellung ist. Dann schleppt sich die ehemalige Krankenschwester schwerfĂ€llig durch einen faden Alltag in der Teheraner Vorstadt. Sie giesst ihre Pflanzen, sie geht einkaufen, sie lĂ€dt ihre Freundinnen zum Mittagessen ein, frĂŒher jede Woche, jetzt nur noch selten. Die GesprĂ€che der Frauen drehen sich vorwiegend um Themen wie Darmpolypen, Inkontinenz â und um Mahins Einsamkeit.
Vom zartbitteren Humor des Films zeugen die FaceTime-Telefonate mit der in Europa lebenden Tochter, bei denen aber irgendwie nie ein richtiges GesprÀch zustande kommt. Stets quengelt ein Kind, die Verbindung ist schlecht, die Tochter muss
dringend weiter. Besuchen kann Mahin â hinreissend gespielt von Lily Farhadpourâ ihre Familie im Ausland nicht mehr. In ihrem Alter sind die Chancen auf ein Visum null. Immerhin schneiden die beiden einmal kurz die Frage an, ob eine Romanze in Mahins Alter ĂŒberhaupt noch möglich ist â und die Tochter findet: Warum nicht?
An jenem Abend hat Mahin ihren Moment vor dem Spiegel. Ist es Mut? Ist es Verzweiflung? Jedenfalls greift sie zur Schminke, legt ihre schönen Kleider an â und pfeift fortan auf gesellschaftliche Konventionen. Ein bisschen zumindest. Ihren Alltag legt sie nun darauf aus, einen Mann zu treffen. Die Gelegenheiten dazu sind beschrĂ€nkt: in der Warteschlange einer BĂ€ckerei, im Park, im eleganten CafĂ© eines Hotels und schliesslich in einem schmucklosen Restaurant, wo sie ihre Essensgutscheine fĂŒr Rentner*innen einlösen kann. Dabei bekommt Mahin ein GesprĂ€ch unter ein paar MĂ€nnern mit. Nur einer isst ebenfalls, der etwa gleichaltrige Faramarz, er habe halt keine Frau zuhause, die fĂŒr ihn koche, sagt er zu den andern.
Es geht nicht lange und Mahin setzt sich in Faramarzâ Taxi. Und sie nimmt nicht, wie es sich gehört, auf dem RĂŒcksitz Platz, sondern neben dem sympathischen Taxifahrer, herzlichst verkörpert von Esmail Mehrabi. Dieser braucht eine Weile, bis er fassen kann, wie ihm geschieht: Eine Frau spricht ihn an, und nicht nur das, sie nimmt ihn mit zu sich nach Hause. Sie will fĂŒr ihn kochen, seinen Lieblingskuchen backen.
Was fĂŒr ein Match! Wie zwei Puzzleteile fĂŒgen sich die beiden zusammen, abgenutzt von den vielen EnttĂ€uschungen, die sie einen. Ihm gefĂ€llt, dass Mahin laut sagt, dass ihr das Regime nicht passt. Dabei ist ihr Missmut nicht jener einer jungen Revoluzzerin, sondern der einer Ă€lteren Dame: Dass sie als LangschlĂ€ferin nicht mehr schwimmen gehen kann, weil die FrauenbĂ€der nur morgens geöffnet sind. Sie schwĂ€rmt von den PartynĂ€chten ihrer Jugend, den guten alten Zeiten, von hohen AbsĂ€tzen und tiefen
Ausschnitten. «Und heute?», eintrĂŒstet sie sich, «Hidschab und Sneakers!» Beide sind unabhĂ€ngige Geister. Auch Faramarz hatte schon Ărger mit den freudlosen Behörden, weil er in einer Hochzeitskapelle ein verbotenes Musikinstrument spielte.
Premiere in Abwesenheit
Offen politisch ist der Film nicht â er vermittelt gekonnt beilĂ€ufig die erstickende RealitĂ€t eines Regimes, das sich in die privatesten Belange seiner BĂŒrger*innen einmischt. Etwa durch die umstĂ€ndlichen Vorsichtsmassnahmen, damit niemand mitbekommt, dass Mahin einen Mann zu sich in die Wohnung lĂ€sst. Mit einer Ausnahme. Einmal stellt sich Mahin der Sittenpolizei entgegen, die dabei ist, schreiende junge Frauen in den Einsatzwagen zu zerren, weil sie ihren Hidschab zu locker tragen. Ein Verweis auf Mahsa Amini, die 2022 genau aus diesem Grund verhaftet wurde und im GefĂ€ngnis zu Tode kam.
Von solchen Szenen hatten die iranischen Behörden Wind bekommen und vor ein paar Monaten die BĂŒros der Produktionsfirma des Regieduos Maryam Moghaddam und Behtash Sanaeeha durchsucht. Ihre Computer und Festplatten wurden beschlagnahmt und ihre ReisepĂ€sse eingezogen. Die Filmemacher*innen hatten aber eine Kopie im Ausland gelagert, und so feierte der Film an der diesjĂ€hrigen Berlinale Premiere â ohne sie. Sie fĂŒhlten sich wie Eltern, denen verboten ist, ihr Neugeborenes zu sehen, liessen sie ĂŒber Hauptdarstellerin Lily Farhadpour ausrichten. «Wir sind traurig und mĂŒde, aber nicht allein. Das Kino verbindet uns â das ist der Zauber des Kinos.»
Zauber erleben auch Mahin und Faramarz auf der Leinwand: einen Moment tiefer Verbundenheit. Mahin öffnet eine Flasche Wein, zuvor jahrelang versteckt wegen des Regimes, das Alkohol verbietet. Stunden lang schĂŒtten sie ihre aufgestauten Gedanken und GefĂŒhle voreinander aus. Sie flirten, tanzen bis in die Morgenstunden, beginnen ihr gemeinsames Leben. Er repariert defekte Lampen, sie bĂ€ckt aufwendige Desserts. Sie zelebrieren ein GlĂŒck, das ihnen der Staat eigentlich nicht zugestehen will. Hier ist der so schnell gesagte Spruch, auch das Private sei politisch, besonders wahr. Es ist ein sĂŒsser, kleiner Aufstand gegen die konservativen Werte der Regierung. Von Dauer ist der Zauber allerdings nicht. Im letzten Akt bestĂ€tigt sich der Gedanke, der dem von den Filmemacher*innen wohl bewusst ĂŒberzuckerten Ăberschwang der Emotionen zum Trotz irgendwann zu nagen beginnt: Es ist zu schön, um wahr zu sein.
Buch Der Roman «Der PlakatwĂ€chter» der chilenischen Autorin MarĂa JosĂ© Ferrada erzĂ€hlt von der scheiternden Welt eines trunkenen TrĂ€umers.
«Eines Montags kletterte RamĂłn auf das GerĂŒst mit dem Coca-Cola-Plakat an der Ausfallstrasse, und als am Abend die Sonne (âŠ) unterging, beschloss er, fĂŒr immer dort oben zu bleiben.» Auf einem Plakat, das so riesig ist, mit einem EisengerĂŒst wie ein Mammutskelett, dass RamĂłn kurzerhand seine Möbel hinaufschleppt und sich dort hĂ€uslich einrichtet. Hoch ĂŒber dem Teil der Stadt, «wo es bislang weder zu BĂ€umen noch Strassenbelag gereicht hatte», tritt er seinen neuen Job als PlakatwĂ€chter an, der vor allem dafĂŒr verantwortlich ist, dass niemand die Scheinwerfer klaut. Dass die Leute aus der Siedlung ihn fĂŒr seltsam halten, stört ihn nicht. Das ist schon seit seiner Kindheit so. FĂŒr ihn zĂ€hlt nur, dass er endlich, nach 36 Jahren, den passenden Beobachtungsposten gefunden hat, an dem er «seine mit neun Jahren unterbrochene Suche nach der Stille fortsetzen kann», wĂ€hrend sich unter ihm Bierdosen zu einem HĂŒgel aufhĂ€ufen. Er war schon immer einer, der lieber zuhört als spricht, der Beziehungen herstellen kann zwischen dem, was oben, und dem, was unten passiert. Beziehungen zwischen der Nacht und den Sternen zu den Bewegungen und Lichtern in der von Werbeplakaten verstellten Landschaft. Nur zwei Menschen besuchen ihn in seinem Plakathaus. Seine Freundin Paulina, die als RegaleinfĂŒllerin im «Supermercado» immer wieder neue Farbkombinationen aus Kosmetikartikeln erschafft. Und der elfjĂ€hrige Miguel, der in RamĂłn «ein Zwischending aus Freund, Vogel und Lehrer» sieht, und dessen kindliche Sicht auf die Geschehnisse in den verschwimmenden Erinnerungen des spĂ€teren Erwachsenen wiedererwacht. Die drei sind wie eine zusammengewĂŒrfelte Familie, die eine poetische, wortkarge Sicht auf die Welt verbindet.
Doch was anfangs wie ein MĂ€rchen anmutet, beginnt allmĂ€hlich zu kippen, denn «das Leben unten geht seinen gewohnten Gang». Unten, wo TrĂ€ume auf wachsendes Misstrauen stossen. Irgendwann wird RamĂłn zum Bewohner derselben Galaxie wie die Obdachlosen, die sich am Kanal festsetzen, eine Galaxie mit dem Namen «das Problem». Und Probleme mĂŒssen aus der Welt geschafft werden.
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MarĂa JosĂ© Ferrada:
CHRISTOPHER ZIMMER
Der Roman der chilenischen Autorin MarĂa JosĂ© Ferrada zieht in Bann. Mit einer schlichten und poetischen Sprache und einer ErzĂ€hlung, die schön ist und unerbittlich und tragikomisch. Eine ErzĂ€hlung, die betroffen macht, weil das, was geschieht, so unverstĂ€ndlich wie unaufhaltsam erscheint. Und die doch auch Mut macht, das TrĂ€umen nicht aufzugeben.
Der PlakatwÀchter. Roman. Berenberg 2024. CHF 36.90
Chur, Dornach, ZĂŒrich
«Schwarzenbach â Le Dolci Vite», Theater, Fr/Sa, 22. und 23. Nov., je 19.30 Uhr, Theater Chur; Sa, 7. Dez., 19.30 Uhr, So, 8. Dez., 18 Uhr, Neues Theater Dornach; Mi/Do, 12. und 13. MĂ€rz, Theater Winkelwiese ZĂŒrich. produktionsdock.ch
Am 7. Juni 1970 wurde in der Schweiz ĂŒber die sogenannte Schwarzenbach-Initiative abgestimmt: 350 000 sogenannte «Gastarbeiter*innen» hĂ€tten bei einer Annahme das Land verlassen mĂŒssen. Die Stimmbeteiligung war rekordhoch, die Initiative wurde knapp abgelehnt. WĂ€re sie angenommen worden, wĂ€re die Familie Pergoletti aus Basel auseinandergerissen worden: Der Vater und die damals sechsjĂ€hrige Grazia, die in der Schweiz geboren und aufgewachsen war, hĂ€tten nach Italien gehen mĂŒssen, da sie beide italienische Papiere hatten. Die Mutter, Schweizerin, und deren Sohn aus erster Ehe hĂ€tten bleiben dĂŒrfen. Die Theaterschaffenden Grazia Pergoletti und Vera von Gunten haben einen Monat lang in Assisi, dem Herkunftsort von Vater Pergoletti, recherchiert und Interviews gefĂŒhrt â auf der Suche nach Versionen der alternativen italienischen Biografie von Pergoletti. Ein autofiktionaler Theaterabend rund um die Frage, wer und was das Leben bestimmt. DIF
Riehen
«Fast tĂ€glich kamen FlĂŒchtlinge», Theaterspaziergang, 75 Min., Sa/So, 26./27. Okt. und Sa/So, 2./3. Nov., jeweils 15 Uhr, Treffpunkt und Abendkasse beim Inzlinger Zoll in Riehen (Bus Nr. 35). exex.ch
Durch die Lage an der Grenze zu Deutschland erlebten die Menschen in Riehen den Zweiten Weltkrieg auf eigene Art: Bei einem Angriff auf die Schweiz wĂ€re Riehen aufgegeben worden. Die Bedrohung war allgegenwĂ€rtig und die Bevölkerung musste ihren Umgang mit den flĂŒchtenden Menschen finden, Entscheidungen zwischen SolidaritĂ€t und Verrat. Auf dem Theaterspaziergang nach dem Buch von Lukrezia Seiler und Jean-Claude Wacker (Christoph Merian Verlag, 2013) trifft das Publikum auf Figuren aus der Vergangenheit, die berichten, wie sie die Zeit erleben: GrenzwĂ€chter und BĂ€uerinnen, FlĂŒchtende aus Deutschland, Frankreich und Polen. In der Produktion des ex/ex Theaters spielen Sasha Mazzotti, Klaus Brömmel-
Anwesenheit der Filmschaffenden und mit PublikumsgesprĂ€chen. Gezeigt werden Dokumentarfilme, die 2024 Eindruck gemacht haben: Zum Beispiel «Die Anhörung» von Lisa Gerig oder «No Other Land», ausgezeichnet an der Berlinale. Er wurde von einem Vierer-Kollektiv palĂ€stinensisch-israelischer Aktivist*innen als Akt des kreativen Widerstands gedreht: Basel Adra, ein junger palĂ€stinensischer Aktivist aus Masafer Yatta im Westjordanland, kĂ€mpft seit seiner Kindheit gegen die Vertreibung durch die israelische Besatzung. Er begegnet Yuval, einem israelischen Journalisten, der ihn in seinen BemĂŒhungen unterstĂŒtzt. Eine Allianz entsteht. DIF
«Am Rande mittendrin âErlebnisse eines SurpriseVerkĂ€ufers», Lesungen von Urs Habegger, Mi, 6. Nov., 19.30 Uhr, Buchhandlung Scheidegger, Affoltern am Albis; Fr, 8. Nov., 19.30 Uhr, Kultur- und Begegnungsraum Wartsaal, ZĂŒrich Wipkingen; Do, 21. Nov., 14 Uhr, ref. Pfarrhaus, Maschwanden.
gebenheiten, Gedankenspielereien und feinen Beobachtungen. Urs Habegger schreibt und liest weiter (mit Gitarre): Wir halten Sie auf dem Laufenden. DIF
ZĂŒrich
«An der Schwelle des Museums», Ausstellung, Jeanne van Heeswijk, Sophie Mak-Schram und Kollaborateur*innen, bis So, 19. Jan., Di bis So, 11 bis 18 Uhr, Do bis 20 Uhr, Limmatstrasse 270. migrosmuseum.ch
meier, alternierend Barbara Rettenmund und Heini Weber. Grösstenteils Dialekt, nicht rollstuhlgĂ€ngig, leicht abschĂŒssiges GelĂ€nde. DIF
Schweiz
«Letâs Doc», DokumentarïŹlmevent, Fr, 1. bis Sa, 30. Nov., ĂŒber 100 Orte in der ganzen Schweiz. letsdoc.ch
Die Leute gehen nicht mehr so ins Kino wir frĂŒher, also geht das Kino zu ihnen: Letâs Doc! ist ein landesweites Projekt: An ĂŒber 100 verschiedenen Orten finden DokumentarfilmvorfĂŒhrungen statt. Und zwar durchaus in Kinos, aber eben nicht nur. Sondern auch in Bibliotheken, GefĂ€ngnissen, Kirchen, BildungsstĂ€tten und Quartierzentren (also in der Bibliothek Breitenrain in Bern zum Beispiel oder in der JVA Hindelbank). Oft in
Der unermĂŒdliche Urs Habegger ist weiterhin auf Lesetour mit seinem Buch «Am Rande mittendrin», und ebenso unermĂŒdlich wollen wir darauf hinweisen, denn das Buch hat einiges mit uns zu tun: Nicht nur ist Habegger Surprise-VerkĂ€ufer (und seit April dieses Jahres auch Buchautor): das ganze Buch handelt vom Surprise-Verkauf! Und zwar in der BahnhofunterfĂŒhrung von Rapperswil, einem Ort der menschlichen Begegnungen und Schauplatz skurriler Be-
Peterstrasse 16 8001 ZĂŒrich
Schwellenangst ist bei Museen und Theatern fĂŒr etliche Menschen besonders gross. Was ein bisschen blöd ist, auch fĂŒr die Museen und Theater selber, weil sie doch fĂŒr alle da sein wollen. Also weg damit, die Menschen und die Kultur sollen jetzt ins Migros Museum fĂŒr Gegenwartskunst hinein- bzw. herausfliessen. Und zwar mittels «Socially Engaged Art», also Kunst, die zusammen mit ganzen Gruppen von Menschen da draussen entsteht. Die KĂŒnstlerinnen Jeanne van Heeswijk und Sophie MakSchram denken dabei mit ihren neugefundenen Kollaborateur*innen ĂŒber die existierenden (rĂ€umlichen, institutionellen, sozialen) Schwellen nach, und die Gruppen aus der Nachbarschaft gestalten mit: von der Flechterei der Stiftung St. Jakob ĂŒber die Autonome Schule bis zum Feministischen Streikhaus ZĂŒrich.
DIF
Tour de Suisse
Surprise-Standort: Coop
Einwohner*innen (Gemeinde Zurzach): 8260
Sozialhilfequote in Prozent: 2,9
Anteil auslÀndische Bevölkerung in Prozent (Gemeinde Zurzach): 36,5
Anzahl Arbeitsstellen: 3000
Einen schönen Bahnhof hat Bad Zurzach, der Ort ist mit goldenen Lettern angeschrieben. Seit 2022 ist die Stadt mit sieben weiteren Ortschaften zur Gemeinde Zurzach fusioniert. In den ehemaligen Schalterhallen ist nun ein BĂŒro fĂŒr GrafikDesign untergebracht. Auf der anderen Seite der Geleise befindet sich das Schloss.
Vor dem Bahnhof steht die BĂŒste von Bundesrat Emil Welti (1825â1899). Daneben die erste der auffĂ€llig vielen kleinen und mittleren GrĂŒnflĂ€chen, ĂŒber die das StĂ€dtchen verfĂŒgt. Ein paar HĂ€user weiter musste alles raus, wie am Schaufenster geschrieben steht, das LadengeschĂ€ft ist leer, das GerĂŒst fĂŒr den Neubau steht bereits. Es gibt hier verwilderte GĂ€rten, verschlossene FensterlĂ€den, auf der Wiese die Plastik eines weidenden Schafes, daneben eine, die aussieht
wie Hasenohren. Vor dem modernen BankgebĂ€ude sitzt Papa Moll auf einer Bank.Wegweiser zeigen Richtung und Distanz von StĂ€dten wie ZĂŒrich, Aarau, Bern, London, Stockholm oder Melbourne an. Das Flair des internationalen Badekurorts.
Der Weg zum Bad fĂŒhrt durch einen Park, der wegen Holzschlags teilweise gesperrt ist. Es gibt Springbrunnen, Becken und Wasserspiele. Ein Mann auf der Parkbank trinkt Bier. Ein anderer sammelt die Kastanien auf, die vom Baum gefallen sind. Zuvorderst steht ein Pavillon mit grĂŒnen Glasspitzen, wo wahrscheinlich im Sommer Konzerte stattfinden. Dahinter der signifikante Turm des Thermalbades. Dort wird auch klar, was es mit Papa Moll auf sich hat, eben wurde eine neue Badewelt mit dieser Figur eingeweiht.
Auf der BrĂŒcke ĂŒber den Rhein steht eine andere Figur, jene der Heiligen Verena. Sie wird von einer Pilgergruppe besucht, ein Mann kniet im Regen vor ihr.
Beim Einbiegen in die Hauptstrasse des Ortes steht das Lokal »Zum Roten Bock». Es ist noch mit «Haushaltartikel, Lebensmittel, Rauchwaren» angeschrieben. An der Wand werben Plakate fĂŒr eine «We Love 80s Party», was immer es auch an diesem Jahrzehnt zu lieben gibt.
Das Hotel «Krone» ist das Geburtshaus von Emil Welti. Ob es damals schon ein Hotel war? Das wÀre symboltrÀchtig, von der Krone in den Bundesrat. Etwas weiter vorne betrieb Gottfried Keller eine Eisenwaren- und Haushaltartikelhandlung. Ein schönes altes Haus, das aber baufÀllig aussieht und renoviert wird.
Die GebĂ€ude haben alle Namen, nebenan ist das Haus «Zum grossen Sternen». Hier gibt es Thaimassagen und die Spielgruppe SchlĂŒmpfe. Ein GeschĂ€ftshaus heisst «Zum Roten Ochsen», ein anders «BĂ€rli». Sie beherbergen Chinarestaurants, Kunstgalerien oder ImmobilienbĂŒros. Jenes mit den Heiligen Drei Königen trĂ€gt das Datum von 1515, vor einem, dessen Giebel mit Drachen verziert sind, steht ein riesiger Brunnen mit der Jahreszahl 1883, da wurden wohl Pferde getrĂ€nkt, lange bevor der Outlet erfunden wurde, der nun in dem Haus untergebracht ist.
Eine Art Maibaum, eigens errichtet in einem kleinen Garten, kĂŒndet von der Geburt eines Knaben namens Diego. Zwei Kirchen stehen direkt nebeneinander, die kleinere dient als Ausstellungsraum und Konzertlokal. Auch ein Riesentraktor und LandwirtschaftsgerĂ€te stehen mitten in der Stadt.
STEPHAN PĂRTNER
Der ZĂŒrcher
Schriftsteller Stephan Pörtner besucht
Surprise-Verkaufsorte und erzÀhlt, wie es dort so ist.
Unsere Vision ist eine solidarische und vielfĂ€ltige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Ăbernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.
Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstĂŒtzen Sie Menschen in prekĂ€ren Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die EigenstĂ€ndigkeit.
Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fÀllt jenes Unternehmen heraus, das am lÀngsten dabei ist.
Lika GmbH, Stilli
Natura GmbH, Neuheim
Scherrer + Partner GmbH
Lebensraum Interlaken, Interlaken hervorragend.ch | Grusskartenshop Kaiser Software GmbH, Bern BuchhaltungsbĂŒro Balz Christen, DĂŒbendorf Kiosk Badi Buus - Nicole Altorfer-Dehning GemeinnĂŒtzige Frauen Aarau
TopPharm Apotheke Paradeplatz ZĂŒrich Automation Partner AG, Rheinau
Anyweb AG, ZĂŒrich
Beat Vogel â Fundraising-Datenbanken, ZĂŒrich
GemeinnĂŒtziger Frauenverein Nidau
Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-RĂŒti Arbeitssicherheit Zehnder, ZĂŒrich Beat HĂŒbscher - Schreiner, ZĂŒrich KMS AG, Kriens
Brother (Schweiz) AG, DĂ€ttwil Coop Genossenschaft www.wuillemin-beratung.ch
Stoll Immobilientreuhand AG movaplan GmbH, Baden
Maya Recordings, Oberstammheim
Madlen Blösch, Geld & so, Basel
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Das Programm
Wie wichtig ist Ihnen
Einige unserer VerkĂ€ufer*innen leben fast ausschliesslich vom Heftverkauf und verzichten auf Sozialhilfe. Surprise bestĂ€rkt sie in ihrer UnabhĂ€ngigkeit. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewĂ€hlten VerkĂ€ufer*innen zusĂ€tzliche UnterstĂŒtzung. Sie erhalten ein Abonnement fĂŒr den Nahverkehr, Ferienzuschlag und eine Grundausstattung an Verkaufskleidung. Zudem können bei ïŹnanziellen Notlagen aber auch fĂŒr Gesundheits- oder Weiterbildungskosten weitere UnterstĂŒtzungsbeitrĂ€ge ausgerichtet werden. Die Programmteilnehmer*innen werden von den Sozialarbeiter*innen bei Surprise eng begleitet.
Eine von vielen Geschichten Negasi Garahlassie gehört unterdessen schon fast zum Winterthurer Stadtbild. Seit rund 15 Jahren ist Negasi Garahlassie als Surprise-VerkĂ€ufer tĂ€tig. Entweder verkauft der gebĂŒrtige Eritreer seine Magazine auf dem Wochenmarkt oder am Bahnhof Winterthur. Der Arbeitstag des 65-JĂ€hrigen beginnt frĂŒhmorgens und dauert meist so lange, bis der abendliche Pendelverkehr wieder abgenommen hat. Zusammen mit seiner Frau und seinen zwei erwachsenen Söhnen ist er auf das Einkommen des Strassenmagazinverkaufs angewiesen, um den Lebensunterhalt bestreiten zu können. Das SurPlus-Programm unterstĂŒtzt ihn dabei: Mit Krankentaggelder, bezahlten Ferientagen und einem Abonnement fĂŒr den öïŹentlichen Nahverkehr.
Weitere Informationen gibt es unter: surprise.ngo/surplus
Derzeit unterstĂŒtzt Surprise 30 VerkĂ€ufer*innen des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlus-Programm teilzunehmen.
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#581: Nachruf Josiane Graner «Traurig und
Als regelmĂ€ssiger Kunde des Coop Bottmingen lernte ich Frau Graner vor einigen Jahren kennen. Unsere Beziehung war freundschaftlich. Frau Graner schenkte mir Vertrauen und informierte mich u.a. ĂŒber bevorstehende juristische Schritte einer französischen Firma, die ihr regelmĂ€ssig, aufgrund ihres Tumors, flĂŒssige Nahrung zukommen liess, die sie nicht imstande war zu bezahlen. Sie verfĂŒgte in Frankreich ĂŒber keine Krankenkasse. Die Firma leitete ĂŒber einen Anwalt einen Gerichtsprozess ein, und Frau Graner wurde ans Gericht in Mulhouse zitiert. Ihr französischer Rechtsschutz antwortete nicht auf Emailkorrespondenz. Ich konnte ein Rechtsschutzverfahren zu ihren Gunsten einleiten. Im weiteren verwendete ich mich fĂŒr einen Aufschub des Gerichtsverfahrens durch eine medizinische Dispens sowie fĂŒr die Ernennung eines Pflichtanwalts. Ich muss davon ausgehen, dass durch ihr Ableben weitere juristische Aktionen ausbleiben. Wir unterhielten einen regen Emailaustausch und kommunizierten bei meinen Coop-Besuchen ĂŒber Notizzettel. Der gesprochenen Sprache nicht mehr mĂ€chtig, kommunizierte sie mit Heiterkeit mit ihren Augen und dem verschmitzten Gesichtsausdruck. Ihr Lebenswille fand meine grosse Bewunderung. So traurig ihr Hinscheiden, so gross die Erleichterung aufgrund ihrer schweren Erkrankung. Frau Graner und ihr mit SchicksalsschlĂ€gen belastetes Leben werden mir unvergesslich bleiben.
BEAT HĂNNI, Bottmingen
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#583: Lieber tot als schwanger «UnterstĂŒtze ich in keiner Hinsicht»
Seit vielen Jahren kaufe ich regelmĂ€ssig das Heft, einerseits habe ich Hochachtung vor den verschiedenen VerkĂ€ufern, ihrem freundlichen Wesen und ihrer Ausdauer. Nun war ich lĂ€ngere Zeit in Brasilien und habe heute aktuell No. 583 gekauft. Dass sie politische und ideologische BeitrĂ€ge verstĂ€rkt bringen, ist fĂŒr mich mehr als störend. (Ein Horrorgedanke.) Nun werde ich Ihre VerkĂ€ufer weiterhin unterstĂŒtzen, je nach weiterer Entwicklung des redaktionellen Inhalts werde ich ev. auf die Hefte verzichten. Ich verstehe sehr gut, dass die Menschen ĂŒber die Welt gegensĂ€tzliche Meinungen haben, jedoch unterstĂŒtze ich das in keiner Hinsicht, das gilt ebenso fĂŒr Parteien, Kirchen etc.
HANS HĂPLI, ohne Ort
#Strassenmagazin «Stundenlang herumstehen»
Mir tun die Strassenmagazin-VerkÀufer*innen sehr leid: Das ewige Warten bis jemand kommt, das geht einem ja auf die Psyche. Das Ziel wÀre doch, eine gute Arbeit zu finden, wo man sein Leben im Griff hat. Denken Sie mal nach, wie es denen geht beim stundenlangen Herumstehen, alle gehen vorbei, das ist nicht förderlich. Ich bin kein Fan vom Surprise. Ich möchte Sie darum bitten, mal ein positives Thema zu bringen, nicht nur so Negatives. Das wÀre viel interessanter, dann verkauft es sich auch besser.
REGULA WEILENMANN, ohne Ort
StÀndige Mitarbeit
Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Hanna Fröhlich, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer
Mitarbeitende dieser Ausgabe
Seynab Ali Isse, Adellah Azizi, Matthias Lehmann, Janosch Martens, Monique Misteli, Sedrik Nemeth, Eva Nimke, Veera Vehkasalo
Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. FĂŒr unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.
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«Ich bin seit Oktober 2007 in der Schweiz. Ich kam wegen meinem Sohn, er hatte nĂ€mlich Herzprobleme. Seine Erkrankung konnte in Eritrea nicht behandelt werden, deswegen erhielt ich die Bewilligung, nach Italien auszureisen. Nachdem mein Sohn in Italien operiert worden war, sagte man mir, ich mĂŒsse zurĂŒck nach Eritrea, weil mein Visum abgelaufen war. Mein Sohn war aber noch nicht gesund.
Die Ărzt*innen sagten mir ausserdem, ich solle alle drei Monate zur Nachkontrolle vorbeikommen, von Eritrea aus konnte ich mir das natĂŒrlich nicht leisten. Deswegen sind wir von dort weiter in die Schweiz gereist. Nach unserer Ankunft in Chiasso wohnten wir acht Monate in einem Heim in Oerlikon, danach in einem Heim in PfĂ€ffikon ZH. Insgesamt lebten wir acht Jahre lang in Heimen.
Als ich in die Schweiz kam, wurde mir sehr viel geholfen, und ich bin dankbar, dass es meinem Sohn nun gesundheitlich besser geht. Nach einigem Hin und Her durften 2010 auch meine beiden anderen Kinder in endlich die Schweiz kommen. Sie konnten hier die Schule besuchen und haben sie erfolgreich abgeschlossen. Mittlerweile haben sie alle einen Job, worĂŒber ich froh bin.
Mein Ă€ltester Sohn Michael hat eine Lehre als Elektriker abgeschlossen und auch angefangen, auf dem Beruf zu arbeiten. Wegen seiner Herzmaschine konnte er die Arbeit als Elektriker aber leider nicht fortsetzen. Deswegen hat er eine weitere Lehre im Detailhandel abgeschlossen. Dejen, mein jĂŒngerer Sohn, hat Schreiner gelernt, meine Tochter Kisanet steht ebenfalls auf eigenen Beinen. Sie arbeitet im Verkauf und hat gerade ihr zweites Kind bekommen. Ich bin jetzt Grossmutter und verbringe sehr gerne Zeit mit meinen beiden Enkelkindern.
Surprise verkaufe ich seit 2011. Ich lerne dadurch sehr viele Leute kennen, manche sind sogar zu Freund*innen geworden. Daneben arbeite ich 20 Prozent im ZĂŒrcher Surprise-BĂŒro als Raumpflegerin. Ich wĂŒrde gerne mehr als Raumpflegerin arbeiten, aber es ist schwierig, einen Job zu finden. Ich hatte gehofft, dass es klappen wĂŒrde, sobald ich den B-Ausweis bekomme. Leider hat sich auch seitdem nichts ergeben. Das Leben hier in der Schweiz wird immer teurer und die Hefte verkaufen sich auch nicht immer gleich gut. Das bereitet mir Sorgen. Ich schĂ€tze die Arbeit bei Surprise jedoch sehr. Es ist ein guter Job.
Tsehay Birhane, 58, kam vor siebzehn Jahren aus Eritrea in die Schweiz, sie verkauft Surprise in PfĂ€ffikon ZĂŒrich beim Migros und Denner und wĂŒrde sich ĂŒber mehr Arbeit freuen.
Bereits vor acht Jahren wurde hier im Strassenmagazin ein PortrĂ€t von mir veröffentlicht. Damals Ă€usserte ich den Wunsch, endlich wieder einmal meine Mutter in Eritrea zu besuchen. Sie lebte damals in einem kleinen Dorf auf dem Land. Da ich sehr lange nur einen F-Ausweis hatte, also als vorlĂ€ufig aufgenommene Person galt, war es fĂŒr mich nicht möglich, ins Ausland zu reisen. Mit dem B-Ausweis, den ich heute besitze, Ă€nderte sich das und ich konnte endlich nach Eritrea. So durfte ich nach zwölf Jahren endlich zu meiner Mutter reisen. Ich war unglaublich glĂŒcklich, sie und den Rest meiner Familie nach so langer Zeit wiederzusehen. Inzwischen habe ich sie zweimal besucht, zuerst 2019 und dann noch einmal im Jahr darauf. Beim zweiten Mal konnte ich einen Monat lang bei ihr sein. Zwei Jahre danach ist sie leider verstorben.
Bei dieser Gelegenheit möchte mich von Herzen bei allen Kund*innen bedanken, die nach dem PortrĂ€t, das von mir geschrieben wurde, immer wieder nachgefragt haben, ob ich nun meine Mutter sehen konnte und ob ich inzwischen den B-Ausweis erhalten habe. Durch sie habe ich mich unglaublich unterstĂŒtzt gefĂŒhlt. Das bedeutet mir sehr viel.»
Aufgezeichnet von HANNA FRĂHLICH
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Arbeit nachzugehen und den sozialen Anschluss wiederzuïŹnden.
Ein
Strassenmagazin kostet Franken.
Die HÀlfte davon geht an den*die VerkÀufer*in, die andere HÀlfte an den Verein Surprise.
Das Heft erscheint alle 2 Wochen. Ăltere Ausgaben werden nicht verkauft .
Alle
VerkÀufer*innen tragen gut sichtbar einen Verkaufspass mit einer persönlichen Verkaufsnummer. Diese ist identisch mit der Nummer auf dem Magazin.
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CafĂ© Sur p rise â eine
Zwei bezahlen, eine spendieren Achte aufdieses
mit kleinem Budget eine Auszeit im Alltag leisten können. Die spendierten Kaffees sind auf einer Kreidetafel ersichtlich.