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Rassismus

Meine lieben Schwestern

Wieso es wichtig ist, die Stimme gegen Rassismus zu erheben. Seite 8

Strassenmagazin Nr. 538 18. Nov. bis 1. Dez. 2022 Bitte kaufen Sie nur bei Verkäufer*innen mit offiziellem Verkaufspass davon gehen CHF 3.–an die Verkäufer*innen CHF 6.–
STADTRUNDGÄNGE Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Zürich, Basel oder Bern. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang ERLEBEN SIE ZÜRICH, BASEL UND BERN AUS EINER. NEUEN PERSPEKTIVE.
SOZIALE

Editorial

In Worte fassen

Zwei Schwarze Frauen reden über Rassis mus. Es geht um Begegnungen, um Blicke, Bemerkungen. Um Alltag. Die Frauen verwenden dabei Worte wie «White Fragility» oder «Otherness». Das hört sich nach Theorie an, Critical Whiteness Studies etwa können an der Uni gelehrt werden. Manchmal habe ich den Verdacht, dass es dieser akademische Zugang ist, von dem sich einige in Diskussionen über Rassismus überfordert fühlen.

Das Gespräch in diesem Heft zeigt, dass die theoretisch geprägten Begriffe helfen, persönlich Erlebtes in historische, kulturelle und soziologische Zusammenhänge einzuordnen. Worte zu haben ist wichtig, um die eigene Position und die der Mitmenschen in dieser Welt zu verste hen, ab Seite 8.

Mit ähnlicher Absicht haben wir in den letzten Monaten ein Phänomen benannt, das unsere Gesellschaft zunehmend prägt: die Auslagerung von Arbeiten mit gerin

gem Sozialprestige. Wir haben diese Arbeitskräfte in unserer Serie, die in die sem Heft zum Abschluss kommt, «die Unsichtbaren» genannt. Sie arbeiten da, wo niemand hinschaut, unter meist schlechten Bedingungen, ab Seite 18.

In Worte fassen. Das machen auch Manifeste und Resolutionen. Feantsa, der Dachverband europäischer Organisationen, die mit Obdachlosen arbeiten, hat eine «Allgemeine Erklärung der Obdachlosenrechte» herausgegeben. Eine Absichts erklärung, der sich alle Städte in Europa anschliessen können, ab Seite 14. Um was es immer wieder geht: die Gleichbe handlung von Menschen mit und ohne Wohnung. Etwas in Worte zu fassen, sich zu etwas zu bekennen, ist ein wichtiger Schritt.

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht Festung Europa in Dietikon 6 Verkäufer*innenkolumne Hoher Anspruch: Kolumne ins Glück 7 Die Sozialzahl Von der Hilflosenzur Betreuungsentschädigung

8 Rassismus «Welche Menschen zählst du zur Norm?» 13 Der Tod durch tausend kleine Schnitte 14 Obdachlosigkeit Wohnraum als Schlüsselfaktor 16 Allgemeine Erklärung der Obdachlosenrechte

18 Die Unsichtbaren Erfahrungen eines Erntehelfers 22 Die Unsichtbaren – eine Analyse 24 Kultur Interview mit Stephan Pörtner

26 Veranstaltungen 27 Tour de Suisse Pörtner am Dreispitz in Basel 28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

30 Surprise-Porträt «Im Moment fühlt es sich hier gut an»

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TITELBILD: MINA MONSEF
DIANA FREI Redaktorin

Auf g elesen News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Unrueh

Wir sind viele

In Lateinamerika gibt es Strassenzeitungen seit über zwanzig Jahren. Die Projekte in Brasilien, Argentinien, Mexiko und Kolumbien sowie in Uruguay und Peru leisten alle ihren Beitrag bei der Unterstützung von Menschen, die von Obdachlosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Hier berichten sie in ihren eigenen Worten über ihre Arbeit und die Gründe für ihre Existenz.

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ANZEIGE Ein Film von Cyril Schäublin («Dene wos guet geit»)
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«Eine erstaunliche, sehenswerte Fabel über den Kapitalismus.» LE MONDE «Der Film legt nahe, dass eine andere Ordnung möglich sein könnte.» THE ECONOMIST JETZT KINO

1  —  Ocas, São Paulo, Brasilien

Das Magazin wird ausschliesslich von Freiwilligen produziert (Redaktion, Journalismus, Fotografie, Layout und Design), die sich virtuell zu Redak tionskonferenzen treffen. Berichtet wird vor allem über kulturelle Veran staltungen sowie über soziale und politische Themen wie LGBTQI+, Ob dachlosenrechte und Rassismus.

2 — Revista Traços, Brasília, Brasilien

Traços gibt es seit sieben Jahren. Das Magazin ist als Kulturzeitschrift be kannt. Durch den Verkauf von Traços finden die Verkäufer*innen einen Weg aus der extremen Armut heraus und sie schaffen es, selbst für grundle gende Ausgaben wie Wohnung, Nah rung und Gesundheit aufzukommen.

3 — Aurora da Rua, Salvador, Brasilien

Mehr als 350 Obdachlose haben be reits auf verschiedene Weise von Aurora da Rua profitiert, nicht nur finanziell. Es geht auch um Selbst wertgefühl, Arbeitstraining, Autono mie, Selbstvertrauen sowie medizi nische und psychologische Gutachten. Das Projekt hält sich an einen Verhal tenskodex, der von den ersten Verkäufer*innen ausgearbeitet wurde, jedes Jahr von ihnen selbst aktualisiert wird und in der Zeitschrift zusammen mit einem Porträt in jeder Ausgabe veröffentlicht wird.

4 — Mi Valedor, Mexico-City, Mexiko

... erscheint alle vierzehn Tage und bietet Obdachlosen, Migrant*innen, älteren Erwachsenen und Menschen mit Behinderungen eine Chance zur sozialen und beruflichen Wieder eingliederung.

5 — Hecho en Bs. As., Buenos Aires, Argentinien

Die Zeitschrift ist führend, was Um weltthemen betrifft. Weitere Themen schwerpunkte sind die lokale Wirt schaft, Menschenrechte und Kultur. Das Magazin bietet Menschen die Möglichkeit, ein Einkommen zu erzielen, ist aber auch ein Lernumfeld und stellt einen Rahmen für soziale Beziehungen zur Verfügung.

Vor Gericht

Festung Europa in Dietikon

Der Fall ist Routine: Ein abgewiesener Asyl suchender, der gestohlen hat. Einer der Tausenden von Menschen aus dem globa len Süden, deren Reise aus der Perspektivlosigkeit in einer ebenso ausweglosen Si tuation endet. Der Fall wird im abgekürzten Verfahren erledigt. Das heisst, die Anklage schrift ist zugleich Urteilsvorschlag. Sie be steht vorwiegend aus Listen von gestohle nen Gegenständen. Der Richter prüft die Personalien des Beschuldigten: Er ist 23, in diesem Frühjahr von Deutschland in die Schweiz eingereist, eigentlich um seinen Bruder zu besuchen. Seit 167 Tagen sitzt er im vorzeitigen Strafvollzug. «In zehn Tagen werde ich sechs Monate in U Haft gewesen sein», sagt der junge Mann. Er sei jetzt ein anderer Mensch geworden. Insbesondere habe er mit den Medikamenten aufgehört, von denen er abhängig war. Schön, sagt der Richter.

Es geht um fünf Anklagevorwürfe: zwei Einschleichdiebstähle, Diebstahl eines Rucksacks aus einem unverschlossenen Auto und Diebstahl einer Gleitsichtbrille. Unüblich ist der letzte Anklagepunkt: Der Beschuldigte hat ein iPhone 7 gefunden, das jemand auf einer Parkbank liegenge lassen hat – und den Fund nicht der Polizei gemeldet. Gut zu wissen: Wer etwas findet, das den Wert von 10 Franken übersteigt, ist zur Meldung verpflichtet.

Für die Diebstähle stehen 13 Monate bedingt im Raum, für das Unterlassen der Anzeige des Fundes eine Busse von 300 Franken. Zudem, erklärt ihm der Richter,

soll ein Landesverweis von fünf Jahren aus gesprochen werden und die Ausschreibung im Schengener Informationssystem. Der Beschuldigte nickt, sei er einverstanden.

«Aber haben Sie wirklich verstanden?», hakt der Richter nach. Das bedeute, dass es ihm nicht möglich sein wird, in den Schen genraum einzureisen. Wo er denn gedenke hinzugehen? Nach Italien, antwortet der Migrant.

Darauf der Gerichtspräsident: «Wenn Sie ausgeschrieben werden und nirgends einen Aufenthaltstitel haben, werden Sie Europa verlassen müssen. Wohin gehen Sie?» Zusammen kommen sie darauf, dass der junge Mann als Automechaniker gear beitet hat, in Bosnien. Ob er nicht dort wie der anheuern könnte, fragt der Richter. Denn: Bosnien ist nicht im Schengenraum.

Das Schlusswort des jungen Mannes ist eine Entschuldigung, «von tiefstem Her zen», wie er sagt. Er habe Gewissensbisse.

Das Gericht erhebt den Vorschlag der Staatsanwaltschaft zum Urteil. Es gesteht dem Verurteilten zu, dass er über knappe finanzielle Mittel verfügt. Er sei «ein Eng passtäter», kein Profi. Sondern einer, der ertappt wurde, weil er eine EnergydrinkDose am Tatort vergessen hatte. Anderer seits habe er regelmässig gestohlen, die Deliktsumme belaufe sich auf immerhin 12 000 Franken. Und: «Sie sind in ein Haus eingedrungen. Was hätten Sie getan, wenn jemand da gewesen wäre?» Auch den Vor wurf «Nichtanzeigen eines Fundes» lässt das Gericht gelten.

Während die Dolmetscherin die Worte des Richters wiedergibt, wischt sich der Mann verstohlen eine Träne aus dem Auge. Was wohl in ihm vorgeht?

YVONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Verkäufer*innenkolumne

Hoher Anspruch: Kolumne ins Glück

V: Hallo Lieblingskundin!

K: Hallo Lieblingsverkäufer!

V: Wie kann man Ihnen eine Freude bereiten?

K: Mit einem guten Surprise-Artikel!

V: Trifft sich gut! Ich schreibe Kolumnen! Was ist ein guter Artikel?

K: Einer, der dem Ohr schmeichelt und obendrauf nützt.

V: Nützt?

K: Ja, einer, der vom Sinn erzählt in dieser sinnentfremdeten Zeit.

V: Naja, ich will’s versuchen. Sie sind etwas älter als ich, Lieblings kundin. Sie haben’s weit mehr im Griff. Ich kann da nur auf einen Knopf drücken bei Ihnen.

K: Ich bin gespannt.

V: Meine Kolumne müsste handeln von der Ewigkeit des Lebens. Und davon, dass alle zu etwas ganz Individuellem werden: Ganz eigene Leidenschaften, Fähigkeiten entwickeln. Wichtig find ich, dass wir bis zum letzten Atemzug daran meisseln. Wie die Schriftstelle rin Erika Burkart und auch mein Vater, die sich beide mit letzter Kraft vom Bett zum Stuhl kämpften, um späte Worte abzufassen.

K: Klingt wie eine Berufung – genügt das fürs höchste Glück?

V: Wahrscheinlich nicht. Die Liebe ist’s, die alles trägt. Ich denke zunächst an die Liebe zum Du, die aus Zwei Eins

machen kann. Und an die Liebe als letztem Band zum Leben – die der Liebe als ziehendes Band ins Jenseits entspricht.

NICOLAS GABRIEL, 58, verkauft Surprise an der Uraniastrasse, zmitts im Zürcher Chueche. Seinem Schatz (nicht zu ver wechseln mit der Lieblingskundin) verdankt er wichtige Impulse für den Text.

Die Texte für diese Kolumne werden in Workshops unter der Leitung von Surprise und Stephan Pörtner erarbeitet. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design & Kunst, Studienrichtung Illustration.

6 Surprise 538/22 ILLUSTRATION: LEAH VAN DER PLOEG

Von der Hilflosenzur Betreuungsentschädigung

Die Hilflosenentschädigung (HE) ist eine wenig bekannte Sozialversicherung, die jene erhalten, die bei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter oder auf persönliche Überwachung angewiesen sind. Die massgeblichen alltäglichen Lebensverrichtungen betreffen sechs Bereiche: Ankleiden und Auskleiden; Aufstehen, Absitzen und Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichten der Notdurft; Fortbewegung. Dazu kommt bei der Invalidenversicherung (IV) die lebenspraktische Begleitung, die eine Verwahrlosung verhindern und den Übertritt in eine Klinik oder in ein Heim vermeiden soll. Hilflosenentschädigungen kennen die Invali den und die Unfallversicherung (UV) sowie die AHV. Unter schieden wird zwischen schwerer, mittelschwerer und leichter Hilflosigkeit. Erstaunlicherweise differieren die Geldleistungen je nachdem, ob diese im Rahmen der IV, UV oder der AHV ge sprochen werden, obwohl auf dieselben rechtlichen Grundlagen Bezug genommen wird. Ältere Menschen erhalten deutlich weniger Geld als beeinträchtigte oder verunfallte Menschen.

Die HE weist einige Besonderheiten auf. Sie stellt eine Geld leistung dar, die sich ausschliesslich am Grad der Hilflosigkeit bemisst und weder Einkommen noch Vermögen berücksich tigt. Diese Geldleistung ist an keine Zweckbestimmung gebun den. Die gesprochenen Mittel können frei verwendet werden, also auch zu einer bescheidenen Abgeltung von Unterstüt zungsleistungen, die Angehörige erbringen. Sie können aber auch gespart werden. Bevor jemand eine HE bekommt, gilt

eine Karenzfrist von einem Jahr, in der dauerhaft eine gesund heitliche Einschränkung und Hilflosigkeit beobachtet werden muss. Zentral ist die Abklärung der Hilflosigkeit durch Fachpersonen. Der Ermessensspielraum, insbesondere bei älteren Personen, ist gross. Die rechtlichen Hürden für den Bezug von HE sind sehr hoch. Gerade bei älteren oder schwer erkrank ten Menschen kommt es immer wieder vor, dass die Mittel zu spät fliessen.

Die Frage steht darum im Raum, ob die HE nicht zu einer Ent schädigung für Betreuungsleistungen umgestaltet werden sollte. Dafür müssten die Voraussetzungen für den Bezug der Geldleistungen erleichtert und zudem auf psychosoziale As pekte ausgeweitet werden. Die materielle Unterstützung sollte für alle gleich hoch sein und den tatsächlich notwendigen Aufwendungen angepasst werden. Schliesslich wäre auch die Karenzfrist zu kürzen (mit der Annahme der «AHV 21» wurde diese für ältere Menschen auf ein halbes Jahr reduziert). Auch heikle Fragen wie die Berücksichtigung von Einkommen und Vermögen und eine Zweckbestimmung stehen im Raum. Hier könnten Mittel freigespielt werden für jene, die auf Betreuung angewiesen sind, sich diese aber nicht leisten kön nen. Das sind nicht nur armutsbetroffene Menschen, son dern auch viele, die zur unteren Mittelschicht gezählt werden.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Unfallversicherung (UV)

Invalidenversicherung (IV)

Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)

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Leicht Mittelschwer Schwer 812 1624 1195 598 2436 1912 956 478 239 INFOGRAFIK: BODARA QUELLE: PAUL SCHILLER STIFTUNG (2022) : FINANZIERUNG DES BETREUTEN WOHNENS UNABHÄNGIG VON DER WOHN-FORM ERMÖGLICHEN (GUTALTERN.CH) Die Sozialzahl
Monatliche Geldleistungen (in CHF) nach Sozialversicherung und Grad der Hilflosigkeit für Menschen, die daheim leben (Stand 2022)
«Schweizer*innen sind nicht offen rassistisch, aber Taten sprechen lauter als Stimmen.» Clementina Nneka Magli (rechts) und Khayrah.

«Welche Menschen zählst du zur Norm? Und welche nicht?»

Rassismus Zwei Frauen. Die eine arbeitet als Reinigungskraft, die andere an der Universität. Ein Gespräch über Rassismus in der Schweiz.

Als das Gespräch zu Ende ist, tauschen sie als Erstes ihre Tele fonnummern aus. Clementina Nneka Magli und Khayrah, die eigentlich anders heisst und anonym bleiben möchte, kannten sich nicht, reden aber seit der Begrüssung vor eineinhalb Stun den auf Englisch miteinander, als seien sie alte Freundinnen. «My sister!» Wenn die eine lacht, stimmt die andere ein. Sie pflich ten einander bei – «yes, yes, yes», «exactly» – und manchmal sprechen beide gleichzeitig, nicht weil sie der anderen das Wort abschneiden wollen, vielmehr weil sie genau wissen, wovon die andere spricht.

In der Schweiz darf keine Person «wegen ihrer Rasse» dis kriminiert werden. Das steht in der Bundesverfassung (Artikel 8), es steht auch im Strafgesetzbuch (Artikel 261 bis). Trotz der expli ziten Erwähnung von «Rasse» im Gesetz ist diese Kategorie im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben der Schweiz «weitge hend abwesend». Das schreiben die Herausgeber*innen von «Un/ Doing Race», einem neuen Sammelband über Rassismus und Rassifizierung in der Schweiz. Über Rassismus in den Strukturen und im Alltag wird noch immer vor allem eines: geschwiegen. Erst seit der «Black Lives Matter»-Bewegung ertönen in der Schweiz mehr und mehr Stimmen, die von Rassismus erzählen.

Was haben diese zu erzählen? Was erfahren wir, wenn wir Clementina Nneka Magli und Khayrah zuhören? Spielt es für die Erfahrungen etwa eine Rolle, in welchem Bereich der Gesellschaft man sich bewegt? Ich, die weisse Journalistin, höre für einmal einfach zu und versuche auszuhalten, dass ich damit konfrontiert werde, Teil einer rassistischen Gesellschaft zu sein. Auf dem Tisch liegen einzig Kärtchen mit Stichworten von verschiedenen Le

bensbereichen. Ursprünglich war geplant, dass auch die in Sim babwe geborene Historikerin und Dichterin Ruramisai Charum bira Teil des Gesprächs wird. Da sie aber in der Zwischenzeit, nach knapp sechs Jahren in der Schweiz, nach Kanada gezogen ist, hat sie sich in einem Brief an Clementina Nneka Magli und Khayrah gewandt (siehe Seite 23).

Clementina: Als ich neu in der Schweiz lebte, machte ich hier den Führerschein. Da fragte mich mein Fahrlehrer: Deinen nigerianischen Führerschein, hast du den gekauft? Was für eine Frage! Er gab mir das Gefühl, dass ich aus dem Busch käme. Du sollst, sagte er, nicht wie in Nigeria fahren, du musst wie eine Schweizerin fahren. Und bei meiner Arbeit kann ich das Haus noch so gut putzen –einmal etwa fragte eine Kundin bei der Agentur nach ei ner anderen Reinigungskraft. Ich fand heraus, dass neu eine Frau aus Spanien oder Venezuela bei ihr reinigt. Für mich war klar: Das ist wegen meiner Hautfarbe. Schwei zer*innen sind nicht offen rassistisch, aber Taten sprechen lauter als Stimmen.

Khayrah: An der ETH ist den Leuten schon bewusst, wie skandalös es wäre, wenn etwas als rassistisch angesehen würde. Aber natürlich habe ich auch viele verrückte Dinge erlebt. So oft haben Menschen das Gefühl, besser Bescheid zu wissen, nur weil ich eine andere Hautfarbe habe. Ein mal war ich mit meiner Tochter im Schwimmbad. Dort ging ich nicht in die Familien-, sondern in die Frauenum kleide mit den Einzelkabinen – ich mag es nicht, nackte

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Männer zu sehen. Als mein Baby weinte, kam eine ältere Frau in meine Umkleidekabine und sagte, dass die Fami lienumkleide weiter vorne sei. Ich war nicht die einzige Frau mit Kind, aber die einzige, die sie ansprach. Die Frau sah, dass ich Schwarz bin. Und dachte wohl: Die spricht sicher kein Deutsch, ist Analphabetin, vielleicht Migrantin. Sie kann bestimmt keine Schilder lesen. Und als wäre es nicht schon genug, mich zurechtzuweisen, ist sie auch noch in meine Privatsphäre, in die Umkleidekabine ein gedrungen. Ein anderes Beispiel: Wenn ich als Akademi kerin an einer Konferenz teilnehme, kommt es ziemlich häufig vor, dass einige weisse Menschen auf mich herab schauen. Sagen wir, zum Beispiel, eine weisse Person, die erst vergangenes Jahr ihren Doktortitel gemacht hat. Dass ich mehr Jahre professionelle und akademische Erfahrung habe, zählt nicht. Sie müssen es nicht sagen, aber es drückt durch, was sie denken: Ich bin dieser Person überlegen, denn sie ist Schwarz. Auch manchmal, wenn ich unter richte, sehe ich die Überraschung und das Erstaunen der Student*innen, wenn sie bemerken, dass ich eine Schwarze, weibliche Muslimin bin. Weil ich von der Norm abweiche.

Clementina: Ja, nur weil du «anders» aussiehst. Khayrah: Und wie oft ich im Zug angehalten wurde! Vor wenigen Wochen, als ich in Genf war, kontrollierte eine SBB-Mitarbeiterin mein Billett. Dann fragte sie mich noch nach meiner Aufenthaltsbewilligung. Selbst wenn ich eine illegale Migrantin wäre, ist es nicht die Aufgabe der SBB-Mitarbeiterin, mich zu kontrollieren, sondern die der Sicherheitskräfte. Werden etwa Deutsche oder Italie ner*innen im Zug nach ihrer Aufenthaltsbewilligung ge fragt? Nein. Es geht also um die Hautfarbe, nicht wirklich darum, woher man kommt. Das ist rassistisch.

Clementina: Einmal bin ich nach Deutschland gefahren, um Einkäufe zu erledigen. Ich wollte meine Ausfuhr scheine abstempeln lassen, und da sollte ich die Identi tätskarte oder den Führerschein zeigen. Weil ich mich von meinem Ex-Mann hatte scheiden lassen, drohte mir da mals die Ausschaffung. Der Fall war aber noch vor Gericht hängig, ich hatte zwei Jahre Zeit, um eine neue Aufent haltsbewilligung zu bekommen. Sowieso: Mein Führer schein war gültig. Aber sie haben mich verhaftet! Ich weiss nicht, warum sie mir nicht zuhören wollten. Wenn sie es im System überprüft hätten, hätten sie gemerkt, dass ich nicht illegal in der Schweiz bin, dass ich nicht kriminell bin. Danach kam mein zukünftiger Mann – damals war er noch mein Verlobter, ein Schweizer – und ich wurde freigelassen.

Khayrah: Es ist ein Verdrängen, ein Sich-nicht-konfron tieren-Wollen. Wenn wir in Vorlesungen und Seminaren über Rassismus sprechen, sage ich den Student*innen, dass diese Gespräche sehr unangenehm werden können. Dann fragen Schwarze Student*innen: Warum müssen wir mit weissen Menschen so vorsichtig umgehen? Warum müssen wir uns entschuldigen? Es bereitet mich auch niemand darauf vor, dass ich auf der Strasse angeschaut werde und mir so ständig bewusst gemacht wird, dass ich anders bin. Dass ich Afrikanerin bin. Ausserhalb Europas ist mir gar nicht bewusst, dass ich Schwarz bin. Es ist die

Khayrah, hast Glück, mit deinem Beruf an der Uni passiert dir das nicht.»

CLEMENTINA NNEKA MAGLI, 52, lebt seit 2015 in Regensdorf und arbeitet als Reinigungskraft für die Kooperative Autonomía. Zuvor lebte sie 35 Jahre in Nigeria und je fünf Jahre in London und Dublin. Sie ist verheiratet und hat drei Kinder.

hiesige White Fragility, die einen denken lässt: Wir müs sen diplomatisch sein, wenn wir mit Weissen über Rassis mus sprechen. Aber wenn wir es umdrehen, merken wir, dass das keinen Sinn ergibt. Niemand ist diplomatisch, wenn sie oder er fragt: Woher kommst du? Niemand ist diplomatisch, wenn sie im Schwimmbad an deine Um kleidekabine klopft. Viele weisse Menschen sagen dann: Aber ich wollte nicht rassistisch sein. Das war nicht meine Absicht. Oder: So etwas würde ich nie tun. Nur weil du es nicht so gemeint hast, heisst nicht, dass es nicht rassis tisch war. Ob jemand beabsichtigt rassistisch zu sein oder nicht, ist nicht die Frage. Wie du dich damit fühlst, was passierte – darum geht es. Und wenn dir eine Schwarze Person sagt, dass etwas rassistisch ist, verurteilt sie dich nicht als Mensch insgesamt. Sie sagt nicht, dass du ein schlechter Mensch bist. Sie weist dich auf eine Handlung von dir hin, die sie für unangebracht hält.

Clementina: Einmal holte mich ein Schweizer von der Arbeit ab, er wollte mich nach Hause fahren – ich dachte, wir wären Freund*innen. Wir unterhielten uns, irgend wann fragte er mich: Woher kommst du? Als er Nigeria hörte, hielt er das Auto an. Er forderte mich auf, aus dem Auto zu steigen. Er dachte, ich käme aus Brasilien. Ein nigerianischer Mann, erzählte er, habe seine Ex-Frau ge tötet. Aber bin ich diese Person – ein nigerianischer Mann? Nein! Manche Menschen benehmen sich nicht, wenn sie eine Schwarze Person sehen. Ich weiss nicht, wie man am besten reagieren würde. Bei Rassismus sind wir alle auf uns allein gestellt. Du, Khayrah, hast Glück, mit deinem Beruf an der Uni passiert dir das nicht. Khayrah: Doch. Es geht nicht darum, was wir tun oder wer wir sind. Nicht darum, wo in der Gesellschaft wir ste hen, wie lange wir schon hier sind oder wie gut wir Schweizerdeutsch sprechen. Rassismus wird uns alle tref fen. Als ich mein Baby bekam, habe ich es im Spital auf dem Arm gewiegt (hält mit ihren Händen ein imaginäres Baby an der Schulter und bewegt ihren Oberkörper sanft).

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«Du,

Eine ältere Pflegerin sagte mir: Wissen Sie, das macht man nicht mit Neugeborenen. In Ihrer Kultur denkt man vielleicht, dass das in Ordnung sei, aber das ist es nicht. Mein Mann, ein Schweizer, wurde so wütend (lacht). Mir ist es nicht einmal aufgefallen – ich hatte gerade ein Kind geboren und war noch völlig woanders. Wer ist sie, dass sie sagt, die Kultur einer anderen Person sei schlecht? Nur weil Schweizer*innen es nicht tun, heisst das nicht, dass es schlecht ist. Ein weiterer Punkt: Meine Tochter sieht sehr weiss aus. Alle sagen ständig, wie süss sie sei.

Es geht nicht darum,

Glossar

Critical Race Theory geht von der Annahme aus, dass Rassismus tief in den Strukturen und im System moderner Gesellschaften verwurzelt ist. Systemischer Rassismus muss daher auf institutioneller, kontextueller und individueller Ebene untersucht werden.

Race bezeichnet, anders als der deutsche Begriff «Rasse», nicht biologische Differenzen zwischen Menschen, sondern Prozesse sozialer Zuschreibung sowie die dynamische Herstellung von Machtverhältnissen.

KHAYRAH (NAME GEÄNDERT), 33, lebt seit 2018 in Zürich und arbeitet an der ETH Zürich als Senior Lecturer. Sie lebte 28 Jahre in einem afrikanischen Land und ein Jahr in Deutschland. Sie ist verheiratet, hat eine Tochter und möchte lieber anonym bleiben.

Clementina: Das liegt an der Hautfarbe. Khayrah: Ja! Ich glaube nicht, dass es um ihr Gesicht geht. Der Punkt ist: Sie sieht anders aus, als man es erwartet, wenn man mich sieht. Sollte ich jemals gefragt werden, ob ich wirklich ihre Mutter bin, dann werde ich durchdre hen. Das Othering passiert in den Köpfen. Von welcher Norm gehst du aus? Welche Menschen zählst du dazu? Und welche nicht?

Clementina: Ja, es geht um die Haltung, die jemand hat. In London ging ich einmal einkaufen. Ein weisser Junge, vier oder fünf Jahre alt, fragte: Mami, Mami, ist das ein schwarzer Affe? Er meinte mich. Ich konnte es nicht glau ben! Und wenn er erwachsen ist, wie wird er die Welt dann sehen?

Khayrah: In der Schule wird den Kindern beigebracht, dass Christoph Kolumbus Amerika entdeckt hat. Über die Menschen, denen Kolumbus dort begegnete, sprechen sie nicht. Den Kindern wird immer noch beigebracht, dass der Kolonialismus den Schwarzen Menschen, den Afrika ner*innen gute Spitäler gebracht hat. Und dass deswegen die Kinder- und Müttersterblichkeit abgenommen hat. Ihnen wird nicht beigebracht, wie viele Schwarze Men schen durch die Sklaverei und den Kolonialismus starben. Selbst in akademischen Kreisen versuchen weisse Men schen den Kolonialismus, die Wurzel des Rassismus, zu

Critical Whiteness Studies gehen von der Annahme aus, dass weisse Menschen von sozialen, ökonomischen und kulturellen Privilegien profitieren, die rassifizier ten Menschen vorenthalten bleiben. Weisssein stellt demnach eine dominante Weltsicht dar, die als universell gilt und auch für rassifizierte Menschen be stimmend ist.

Othering stammt vom englischen «other» oder «otherness» (dt. «anders» oder «andersartig»). Der Begriff beschreibt die Abgrenzung einer Gruppe («wir») von einer anderen («die Anderen»), wobei die nicht eigene Gruppe als von der Norm abweichend begriffen wird.

Postcolonial Studies machen auf die historische Dimension von Race und Rassismus aufmerksam und zeigen Zusammenhänge zwischen gegenwärtigen Formen des Rassismus und der Geschichte von Kolonialismus, transatlantischem Sklavenhandel oder Rassenforschung auf.

Schwarz ist eine poli tische Selbstbezeichnung, hervorgegangen aus den Kämpfen für Selbstbestim mung der US amerikani schen Bürger*innenrechtsbewegung und von Menschen afrikanischer Herkunft. Er bezieht sich nicht auf eine Hautfarbe, sondern auf eine gemein same Position in der Gesellschaft und damit auf gemeinsame Erfahrungen, und wird bewusst gross geschrieben.

Weiss beschreibt (wie Schwarz) nicht eine Haut farbe, sondern ist ein politischer Begriff, der den Zugang zu Macht benennt. Um dies zu markieren, wird weiss kursiv gesetzt. Eines der Privilegien des Weissseins besteht darin, sich nicht mit Rassismus auseinandersetzen zu müssen.

White Fragility (dt. weisse Zerbrechlichkeit) meint Abwehrhaltungen von weissen Menschen, wenn sie mit Rassismus konfrontiert werden. Das sind etwa Gefühle wie Wut, Angst oder Schuld oder Verhal tensweisen wie Rechtferti gungsreflexe, Schweigen oder Davonlaufen.

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«Doch.
was wir tun oder wer wir sind. Rassismus wird uns alle treffen.»
QUELLEN: TOURDELORRAINE.CH/FILEADMIN/DOKUMENTE/2021/TDL21_ ANTIDOT_TOUR_DECOLONIAL.PDF; UN/DOING RACE; VIELFALT-MEDIATHEK.DE/ OTHERING; VIELFALT.UNI-KOELN.DE/ANTIDISKRIMINIERUNG/GLOSSARDISKRIMINIERUNG-RASSISMUSKRITIK/WHITE-FRAGILITY

rechtfertigen. Um sich selber nicht schlecht fühlen zu müssen, sagen manche: Wir bedauern zwar die Übel, die der Kolonialismus verursacht hat. Aber wir hoffen, dass die guten Dinge, die weisse Menschen eingeführt haben –etwa Elektrizität oder Technologie –, alles …

Clementina: … abdecken. Oder einander die Waage halten. Khayrah: Genau! Was vergleichen wir hier miteinander? Die Menschen, denen man das angetan hat, leiden noch heute. Wenn weisse Menschen nicht erkennen, dass wir ein strukturelles Problem haben, wird es nicht gelöst werden. Wir brauchen politische Entscheidungen und einen institutionalisierten Prozess, um strukturellen Rassismus zu überwinden. Und es sollten nicht nur die Weissen sein, die darüber reden, wie die Lösungen aus sehen könnten. Wenn weisse Menschen interessiert an einer Lösung sind, sollten sie nicht auf ihre eigenen Ge fühle und Absichten hören. Man muss den Menschen zuhören, die Rassismus erleben.

Clementina: So ist es. Zwei Jahre habe ich am Flughafen Zürich als Reinigungskraft gearbeitet. Als ich neu war, zeigte mir jemand, wo ich mein Auto nachts gratis parken kann – alle können dort gratis parken. Zufälligerweise parkte ich auf dem Platz, den ein Mann als seinen per sönlichen betrachtete, sein Freund wurde wütend auf mich. Wir sind, fanden sie, schon seit zwanzig Jahren am Flughafen. Und wann ist sie gekommen? Wer ist sie über

haupt? Wie kann sie ihr Auto hier parken? Da parkt eine Schwarze Frau auf unserem Parkplatz, und das ist ein Problem. Sie hofften, dass unser Chef mich entlassen würde. Doch er entliess mich nicht. Ich bin seit siebzehn Jahren in Europa, und ich werde hier bleiben. Ob sie es gut finden oder nicht. Ich akzeptiere es nicht, rassistisch behandelt zu werden. Ich verstecke mich nicht, ich erhebe meine Stimme. Denn auch wir sind Schweizerinnen. Wenn der Mann vom Parkplatz mich nicht mag, ist das in Ord nung. Aber ich mag mich, weisst du?

Un/Doing Race, Rassifizierung in der Schweiz. Jovita dos Santos Pinto, Pamela Ohene Nyako, Mélanie Pétrémont, Anne Lavanchy, Barbara Lüthi, Patricia Purtschert, Damir Skenderovic (Heraus geber*innen), 2022, Seismo Verlag. Open Access: kostenloser pdf Download auf seismoverlag.ch

Bei der Arbeit und beim Einkaufen, bei Behörden, im Zug, beim Sport oder im Spital: Rassismus begegnet Khayrah und Clementina Nneka Magli überall.

BILD: ZVG

Der Tod durch tausend kleine Schnitte

Meine lieben Schwestern,

ich danke Euch für Euer bewegendes Gespräch. Ich schliesse mich Eurer Hoffnung an, dass mehr Menschen hier und über all ihre Stimme gegen Rassismus erheben werden. Wie die queer-feministische Dichterin Audre Lorde uns auf brillante Weise ermutigt hat: Sprecht laut, denn «Euer Schweigen wird Euch nicht schützen». Ich werde mich auf zwei Themen konzentrieren, die in Eurem Gespräch auftauchen, weil sie mit dem zu tun haben, was ich den Tod durch tausend kleine Schnitte nenne, den die meisten People of Color jeden Tag erleiden. Erstens geht es um die Hautfarbe, die von den Rassist*innen als unumstösslicher Beweis für Verschiedenheit angeführt wird. Zweitens die Toxizität der weissen Unschuld und des höflichen Rassismus in der Schweiz und anderswo, wo die meisten Weissen jede Diskussion über ihr rassistisches Verhalten als das Werk von Undankbaren ansehen.

Als eine Erinnerung aus meiner Lebens- und Reisezeit in der Schweiz und in Westeuropa ist mir geblieben, wie sehr sich die Menschen mit ihrer Vorstellung von sich selbst als Weisse identifizieren. Es war ziemlich komisch, traurig und auch ärgerlich, weil sie dieses Weisssein wie eine tödliche Waffe gegen den Rest von uns einsetzten. Ich sage komisch, weil der Anblick des Schwarzen Körpers für kleinliche und grossspurige Rassist*innen ein Zeichen dafür ist, dass hier jemand kommt, der ihre Zeit nicht verdient hat. Als ich neu hier war, wollte ich jemanden zu einem gemeinsamen Mittagessen abholen. Es ist nicht einfach, sich an einem neuen Ort zu orientieren, und so fragte ich ohne Zögern nach dem Weg. Die Frau am Infor mationsschalter drehte sich zu mir um, als hätte ich dort nichts zu suchen. Ich nannte meinen Namen und sagte ihr, dass ich wegen So-und-so da sei. Während sie mich von oben bis unten musterte, öffnete jemand die Tür und begrüsste mich über schwänglich: «Dr. Charumbira, das war eine wunderbare Präsentation Ihrer Forschung vor ein paar Wochen!» Schlagartig änderte sich das Verhalten der Frau am Schalter. Für sie war ich erst jetzt jemand, ich hatte einen Status sowie einen Titel und war kein Schwarzer Körper mehr in einem Raum, in dem Schwarze Körper normalerweise nicht willkommen waren. Sie tat mir leid, wie viele andere, die sich genauso verhielten. Ich weigere mich, dieses Spiel mitzuspielen, mit dem der Rassismus den Rest von uns vereinnahmen will. Natürlich ist dies eine rassistische Falle, denn Titel wie Dr. oder Prof. haben uns nie viel bedeutet, weil das Bildungssystem die Domäne der (weissen) Kolonisator*innen war. Im südlichen Afrika, wo ich geboren wurde, wurden unsere Väter «hey Boy» und unsere Mütter «you Girl» genannt – als ob es eine Beleidigung wäre, Afrikaner*in zu sein oder eine andere Hautfarbe oder ethnische Zugehörigkeit als die europäische zu haben. Und als unsere Eltern sich wehrten und ihr karges Einkommen dafür einsetz ten, uns Kinder zur Schule und Universität zu schicken, damit wir dieselben Titel erwerben konnten, änderten die Nachkommen der Kolonisator*innen das Spiel. Plötzlich spielten Titel und Anrede keine Rolle mehr, wir waren alle gleich. Das

funktionierte gut, denn nun konnten sie sich auf ihr Weisssein als Zeichen der Überlegenheit berufen. Für die meisten von uns hatten diese akademischen Titel ohnehin nie viel gezählt, denn wir wussten von unserer eigenen Bedeutung. Schliesslich lebten wir in diesen leuchtenden Schwarzen und Braunen Körpern, welche von der weissen Vorherrschaft als Plattform für Selbstvertrauen und Selbstbestätigung genutzt wurden. Wir hatten auch gesehen, was mit denjenigen unter uns geschah, die sich die weisse Vorherrschaft zu eigen machten und glaubten, ein akademischer Titel könne sie vor den kleinen und grossen Traumata des Schwarzseins in einer auf das Weisssein zugeschnittenen Welt schützen.

Ich möchte auch über die Toxizität der weissen Unschuld nachdenken, eine bösartige Form des Rassismus, die die Luft, die wir atmen, vergiftet und uns dazu bringt, unser Selbstver ständnis infrage zu stellen, gleich wo wir auf diesem Planeten leben. Weisse Menschen fragen oft, warum Migrant*innen nicht in ihren Ländern bleiben. Dabei hat das ausbeuterische «weisse kapitalistische Patriarchat» doch dieses System von Besitzenden und Nichtbesitzenden geschaffen – um einen Ausspruch der unnachahmlichen verstorbenen bell hooks zu zitieren. So ist die Schweiz berühmt für ihre Schokoladen- und Kaffeeexporte. Aber wir fragen uns nicht, wie das globale kapitalistische System das Leben, den Lebensunterhalt und die natürliche Umwelt derjenigen ausbeutet, die gezwungen sind, ihre Wälder, Flüsse, Wüsten und Ozeane zu zerstören. Es sind diese Länder, aus denen die Migrant*innen kommen, Länder, in denen despotische Regierungen die Ausbeutung ihrer eigenen Seelen und der Ressourcen ihres Landes für Gewinne zulassen, die schliesslich auf Schweizer oder OffshoreKonten landen. So deprimierend dies alles erscheinen mag, ich wäre nachlässig, wenn ich die Arbeit nicht erwähnen würde, die geleistet wird, um das Tabu des alltäglichen und strukturel len Rassismus in der Schweiz zu brechen. Unter ihnen sind Wissenschaftler*innen, Aktivist*innen und Praktiker*innen, von denen einige an der Konferenz «Race and Racism: Putting Switzerland on the Map» waren, die diesen Sommer von der Graduate School of Gender Studies der Universität Bern und dem Departement für Geschichte der Universität Freiburg veranstaltet wurde. Ausserdem gibt es in der Schweiz Bla*Sh, ein von Schwarzen Frauen und Schwarzen Queer-Personen gegründetes Netzwerk. Ich hoffe, Ihr findet in ihnen eine gute Begleitung auf dem Weg zur wahren Befreiung.

In Verbundenheit.

RURAMISAI CHARUMBIRA, Historikerin und Dichterin, lebt und arbeitet seit Kurzem nicht mehr in der Schweiz, sondern in Kanada. Der Text wurde bersetzt aus dem Englischen. ruramisaicharumbira.com/blog

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«Verfügbarkeit von Wohnraum ist ein Schlüsselfaktor»

Obdachlosigkeit Feantsa-Direktor Freek Spinnewijn appelliert an Politiker*innen, über ihre Amtsperioden hinauszudenken. Für die Abschaffung von Obdachlosigkeit brauche es Durchhaltevermögen.

Freek Spinnewijn, warum braucht es eine Allgemeine Erklärung der Rechte der Obdachlosen?

Freek Spinnewijn: Wir wollten als zentrale Idee dahinter zeigen, dass die Kriminali sierung von Strassenobdachlosen nicht funktioniert. Sie ist teuer, ineffizient und löst das Problem nicht. Und wir wollten eine Debatte anstossen – in der Politik, aber auch innerhalb und zwischen sozialen Institutionen. Erstmals hat eine Organisa tion in Los Angeles vor mehr als zehn Jah ren eine solche Erklärung verfasst.

Hat die Erklärung eine Debatte ausgelöst?

Mancherorts ja, auch unter unseren Mit gliedern. Ich würde es als ersten kleinen Erfolg der Erklärung bezeichnen, dass die Bestrafung und Kriminalisierung von Strassenobdachlosigkeit von unseren Mit gliedern als Problem erkannt wurde. Und einige Städte – knapp fünfzig – haben sich dem Aufruf angeschlossen.

Sie schreiben im Zusatzmaterial zur Erklärung, dass die Kriminalisierung und Bestrafung von Strassenobdachlosigkeit in Europa wieder zunehme. Wie kommt es, dass das Europaparlament gleichzeitig vom Ziel der Abschaffung der Obdachlosigkeit bis 2030 spricht?

Es existieren eine Menge Widersprüche und Unstimmigkeiten im politischen Um gang mit Obdachlosigkeit. In den meisten Ländern gibt es ein grosses Interesse an Housing First, gleichzeitig werden die Not schlafstellen ausgebaut – während auch noch Verfolgung und Kriminalisierung zu nehmen. Das hat auch damit zu tun, dass die Politik in diesem Bereich auf verschie denen Ebenen agiert: Die Kriminalisierung findet oft auf lokaler Ebene statt, während Housing-First-Ansätze eher auf regionaler und nationaler Ebene erarbeitet werden. Zudem passiert die Kriminalisierung von

Strassenobdachlosigkeit häufig aus einem grundlegenden Missverständnis von Ob dachlosigkeit heraus.

Und das wäre? Kriminalisierung geht oft davon aus, dass Obdachlose auf der Strasse leben wollen, dass sie stören wollen und die Menschen nerven wollen. Das ist ganz offensichtlich falsch. Denn Obdachlosigkeit wird durch strukturelle Faktoren bedingt und braucht demzufolge strukturelle Lösungsansätze –wobei die Verfügbarkeit von Wohnraum ein Schlüsselfaktor ist. Lokale Politiker*in nen und Behörden durchschauen das nicht immer bis ins Detail.

Gibt es weitere Schlüsselfaktoren? Natürlich gibt es auch eine Verbindung mit dem Thema Migration. In Europa kann man beobachten, dass die im Freien über nachtende Bevölkerung zunehmend Migrant*innen sind: Menschen aus der EU, Fahrende, abgelehnte Asylbewerber*innen. Für Sans-Papiers wäre der einzige Weg, sie

in die Gesellschaft zu integrieren, ihnen einen Aufenthaltstitel zu geben. Solange sie kein Aufenthaltsrecht haben, müssen sie in Notunterkünften oder auf der Strasse leben. In Skandinavien kann man sehen, dass die Kriminalisierung von Obdachlo sigkeit klar auf Migrant*innen abzielt.

Vermutlich befassen sich häufig verschie dene Ministerien oder Behörden mit Obdachlosigkeit oder mit Migration. Richtig. Es gibt schon ein Bewusstsein da für, dass Migration auch im Bereich Ob dachlosigkeit ein Faktor ist, aber der Poli tikbereich Obdachlosigkeit wird noch nicht als feste Grösse im Bereich Migration an gesehen. Auch nicht auf europäischer Ebene.

Wie gross ist der Faktor Migration im Bereich Obdachlosigkeit?

Zählt man die Menschen in den Notschlaf stellen und die Strassenobdachlosen zu sammen, kommt man in den meisten eu

«Das Problem in Schweiz wäre lösbar»

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ropäischen Ländern auf eine Verteilung von etwa 50 Prozent Ortsansässige und 50 Pro zent Migrant*innen. Das ist seit etwa 2015/16 der Fall. Vorher war diese Vertei lung nur in Südeuropa gegeben. Der Ein fluss der Migration auf die Obdachlosigkeit hat sich überall erhöht. Nur Osteuropa ist eine Ausnahme, dort stellt Obdachlosigkeit immer noch fast kein Problem dar.

Hat Ihr Dachverband der Organisationen für Obdachlose denn Ideen, wie damit umzugehen ist?

In Bezug auf Lösungen versuchen wir in erster Linie darauf hinzuwirken, dass die Mitgliedsstaaten das EU-Recht einhalten. Zum Beispiel gibt es in meinem Heimat land Belgien Hunderte Asylsuchende, die keinen Zugang zu Notunterkünften haben. Das ist gegen das Gesetz. Also führen wir Prozesse gegen Belgien und die Nieder lande, um diese Situation zu ändern. Auch Sans-Papiers sollten regulären Zugang zu Notunterkünften haben. Von den langfris tigen Debatten aber halten wir uns fern, weil es auch innerhalb von Feantsa keinen Konsens beispielsweise zum Thema Regu larisierung gibt.

Viele Betroffene sind ja auch EU-Binnen migrant*innen, zum Beispiel Fahrende. Das ist nochmal eine andere Frage: Hier müsste die EU Verantwortung überneh men, Freizügigkeit ist ein EU-Recht. Doch die EU verschliesst die Augen davor, dass es Tausende, ja Zehntausende EU-Bür

in der lösbar»

ger*innen gibt, die als Obdachlose in einem anderen EU-Land leben. Dabei könnte EURecht allen Bürger*innen den Zugang zu Notunterkünften zusichern. Ich verstehe nicht, warum dies nicht beschlossen wird.

Zwischen der EU-Gesetzgebung auf supranationalem Level und den kommu nalen Hilfsangeboten ist eine riesige Distanz: Ein Beschluss auf EU-Ebene braucht wahrscheinlich ewig, bis er auf die lokale Ebene heruntergebrochen wird. Auf lokaler Ebene ist das Problem meist, dass die Umsetzung der Gesetze oft viel komplizierter ist, als von den Gesetzge ber*innen beabsichtigt. Wir müssen mit den lokalen Behörden Verständnis haben. Ausserdem ist der Faktor Zeit absolut es senziell. Um Obdachlosigkeit signifikant zu reduzieren, braucht es Durchhaltever mögen. Die Politiker*innen müssen über ihre Amtszeiten hinausdenken. In Finn land brauchte es zwanzig Jahre konsisten ter Wohnraumpolitik, um dorthin zu kom men, wo sie jetzt sind. Das sind in den meisten Ländern im Schnitt fünf Politik mandate!

Manche Städte in der Schweiz haben entschieden, die Notschlafstellen auch für Sans-Papiers zu öffnen. Jedoch ergibt sich daraus keine Perspektive für eine Ver besserung der Lebenslage der Betroffenen. Das ist überall so. Es ist keine Lösung des Problems, aber man verhindert das Schlimmste. Die einzige Lösung wäre, die sen Menschen einen legalen Aufenthalt zu ermöglichen oder aber sie auf nachhaltige Art und Weise zurückzuschicken – sofern das überhaupt möglich ist. Ausserdem kostet es viel Geld, abgelehnte Asylbewer ber*innen oder EU-Migrant*innen über Jahre auf der untersten Stufe im Hilfssys tem zu halten, weil man die Anzahl der Plätze kontinuierlich erhöhen muss.

Finnland mit seinem Housing-FirstAnsatz wird oft als erfolgreiches Modell für die Abschaffung von Obdachlosigkeit präsentiert. Ist das eine Lüge? Schliess-lich haben Sans-Papiers und EU-Migrant*innen in der Regel keinen Zugang zu Housing First. Bevor Sie es als Lüge bezeichnen, müsste man vielleicht erst einmal zurückfragen: Wer hat denn die Lüge verbreitet? Es ist definitiv nicht die Finnland. Ich habe noch keine finnische Person sagen hören, sie hätten die Obdachlosigkeit abgeschafft.

Das ist interessant!

Finnland hat gerade erst eine neue Strate gie verabschiedet, in der das Ende der Ob dachlosigkeit auf 2027 angepeilt wird. Sie stecken viel Geld und Ressourcen hinein und die neue Wohnungsministerin enga giert sich immens. Sie konnten die Not schlafstellen-Plätze auf ein absolutes Mi nimum reduzieren. Das ist beeindruckend. Aber es ist wahr: In Ländern wie Finnland und Dänemark gehören die Themenberei che Immigration und Obdachlosigkeit zu verschiedenen Systemen. Sans-Papiers und Migrant*innen tauchen nicht im Sys tem der Bekämpfung der Obdachlosigkeit auf. Den oder die Politiker*in, die*der mir sagt, lass uns Housing First für Sans-Pa piers machen, muss ich erst noch treffen. In Finnland oder Dänemark wird diese Frage gar nicht gestellt.

Für wen ist dann Housing First? Housing First will die Lage von Langzeit obdachlosen mit komplexen Bedürfnissen verbessern. Nicht alle Obdachlosen haben komplexe Bedürfnisse – manche brauchen einfach nur Wohnraum. Wir müssen nuan ciert über Housing First reden, sonst ste cken wir zu viele falsche Erwartungen hi nein und machen das Konzept kaputt.

Die Schweiz ist nicht Teil der EU, liegt aber mittendrin. Könnten Schweizer Städte wie Basel, Bern, Zürich oder Genf die allgemeine Erklärung der Obdachlosenrechte ebenfalls ratifizieren? Natürlich. Es ist ein sehr praxisorientiertes Dokument; vieles davon ist einfach umzu setzen. Es ist nicht schwer, auf die Vertrei bung obdachloser Menschen aus öffentli chen Parks zu verzichten. Das Problem ist in der Schweiz nicht so gross, dass es nicht lösbar wäre.

FREEK SPINNEWIJN aus Belgien ist seit 2001 Leiter von Feantsa (Fédération Européenne des Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri). Der 1989 gegründete Dachverband vereint als europäisches Netzwerk über 120 Organisa tionen aus 30 Ländern, die mit Obdach losen arbeiten. feantsa.org

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Die Allgemeine Erklärung der Obdachlosenrechte

Seit 2017 können Städte die Erklärung ratifi zieren, die Feantsa und andere Menschenrechts organisationen erarbeitet haben.

Vielerorts in Europa werden die Massnahmen gegen Ob dachlose und sichtbare Armut im öffentlichen Raum ver schärft: sei es mittels architektonischer Umbauten, die das Schlafen im öffentlichen Raum verunmöglichen, oder mittels härterem Vorgehen gegen Bettler*innen. Gleich zeitig hat sich das EU-Parlament vorgenommen, bis 2030 die Obdachlosigkeit abzuschaffen. Unbeabsichtigte Gleichzeitigkeit oder zwei Seiten derselben Medaille? Geht es bei der Absichtserklärung des EU-Parlaments denn auch um die Rechte derer, die mitten unter uns in bitterer Armut leben müssen? Um die Entscheidungsträger*innen daran zu erinnern, dass auch und gerade für Obdachlose dieselben Menschenrechte gelten wie für alle anderen Bürger*innen, hat Feantsa – der Dachverband der euro päischen Organisationen, die mit Obdachlosen arbeiten –in Zusammenarbeit mit anderen Menschenrechtsorgani sationen eine «Erklärung der Menschenrechte für Obdachlose» erarbeitet. Sie basiert auf bereits existieren den Menschenrechten und soll als Aufruf verstanden wer den, den besonders Schutzbedürftigen mehr Aufmerk samkeit zu widmen. WIN

Artikel 2 Das Recht auf Zugang zu Notunterkünftenangemessenen Kann eine Wohnlösung nicht sofort zur Verfügung gestellt werden, müssen Obdachlose Zugang zu einer angemessenen Notunterkunft haben. Die Stadtregierung verpflichtet sich, mit den zustän digen Behörden zusammenzuarbeiten, um sicher- zustellen, dass genügend Notunterkünfte für ausnahmslos alle zur Verfügung stehen. Niemand soll gezwungen sein, auf der Strasse zu schlafen.

Artikel 3

Das Recht, den öffentlichen Raum zu nutzen und sich darin frei zu bewegen Obdachlose Menschen sollten ohne Einschränkun gen das gleiche Recht wie alle anderen haben, den öffentlichen Raum zu nutzen und sich darin frei zu bewegen. Dazu gehört unter anderem der Aufenthalt auf Gehwegen, in öffentlichen Parks, in öffentlichen Verkehrsmitteln und in öffentlichen Gebäuden. Es gelten die gleichen Bedingungen wie für alle anderen Bewohner*innen des Stadtgebiets. Auch für das Ausruhen im öffentlichen Raum sollen die gleichen Regeln für alle gelten – ohne zusätz liche Einschränkungen für Obdachlose.

Artikel 1

Das Recht, die Obdachlosigkeit hinter sich zu lassen Das wichtigste Recht einer obdachlosen Person ist es, die Obdachlosigkeit hinter sich lassen zu können. Die Projekte, die angemessene Wohnlösun gen bereitstellen, müssen ausnahmslos allen Obdachlosen zugänglich sein. In Zusammenarbeit mit anderen Behörden setzt sich die Stadtregierung dafür ein, dass genügend Wohnungen zur Verfügung stehen, um den Bedarf zu decken.

Das Recht auf Gleichbehandlung Die Stadtregierung verpflichtet sich, dafür zu sorgen, dass ihre eigenen Mitarbeiter*innen und Dienste das Recht auf Gleichbehandlung für alle einhalten, ohne diskriminierende Einschränkungen gegenüber jenen, die keine Wohnung haben.

Artikel 4

Das Recht auf eine Postadresse Obdachlosen werden häufig alle möglichen Rechte auf dem Arbeitsmarkt und bei der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen verweigert, weil sie keine Postanschrift angeben können. Die Stadtre gierung verpflichtet sich, den Menschen, die obdachlos sind und diese Hilfe benötigen, eine Post adresse zur Verfügung zu stellen.

Artikel 5

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Artikel 6

Das Recht auf Zugang zu grundlegenden sanitären Einrichtungen

Wenn die Stadtregierung nicht in der Lage ist, geeignete Dienstleistungen innerhalb einer Unterkunft bereitzustellen, verpflichtet sie sich, in jedem Fall das Recht auf Zugang zu grundlegenden sanitären Einrichtungen zu gewährleisten: fliessendes Wasser (Trinkbrunnen), Duschen und Toiletten, die ein Mass an Hygiene ermöglichen, wie es für die Wahrung der Menschenwürde unabdingbar ist.

Artikel 7

Das Recht auf Notdienste Das Recht auf die Inanspruchnahme von Notdiens ten – Sozialdienste, Gesundheitsdienste, Polizei und Feuerwehr – zu den gleichen Bedingungen wie für alle anderen Bewohner*innen der Stadt, ohne Diskriminierung aufgrund der Wohnsituation oder des Aussehens eines Menschen.

Artikel 8

Das Recht zu wählen

Das Recht zu wählen, in das Wählerverzeichnis eingetragen zu werden und bei Wahlen die not wendigen Dokumente zum Nachweis der Identität zu erhalten, ohne wegen der Wohnsituation diskriminiert zu werden.

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Das Recht auf Datenschutz

Die Daten von Obdachlosen sollen von öffentlichen und anderen Diensten nur mit deren Zustimmung und nur in Zusammenhang mit sie betreffenden Dienstleistungen und Lösungen weitergegeben werden dürfen. Obdachlose haben das gleiche Recht wie andere Bürger*innen auf Kontrolle über ihre persönlichen Daten, insbesondere über ihre Gesundheitsdaten, ihr Strafregister (falls sie eines haben), ihre Wohnsituation, ihr Privatleben und ihre Familiengeschichte.

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Artikel 10

DasRechtaufPrivatsphäre

Artikel 11

Das Recht, im Rahmen des Gesetzes so zu handeln, dass ein Überleben auf der Strasse möglich ist Auch wenn die Stadtregierung eine Stadt anstrebt, in der spezifisches Handeln wie Betteln oder das Durchsuchen von Abfällen nicht mehr not wendig ist, muss gleichzeitig anerkannt werden, dass Menschen, die keine andere Möglichkeit haben, Unterstützung bei anderen Menschen suchen, betteln und Abfälle durchsuchen. Solche Überlebenspraktiken sollen nicht kriminalisiert, verboten oder willkürlich auf bestimmte Gebiete beschränkt werden.

von Unterkünften, einschliesslich Gemeinschafts- unterkünften und informellen Unterkünften, in denen Obdachlose leben, so weit wie möglich respektiert und geschützt werden. Die Stadtregierung setzt sich dafür ein, dass dieses Recht in allen Notunterkünften gewahrt wird. 6 7 11

Seit ihrer Einführung 2017 wurde die «Erklärung der Menschenrechte für Obdachlose» von folgenden Städten ratifiziert: Barcelona, Móstoles und Santiago de Com postela in Spanien, Maribor, Slovenj Gradec, Kranj und Murska Sobota in Slowenien, Gdańsk in Polen, Villeurbanne in Frankreich, Brighton und Hove in Grossbritannien und Thessaloniki in Griechenland. Auch Schweizer Städte können sich der Erklärung anschliessen, bisher ist die Schweiz bei Feantsa nicht vertreten. housingrightswatch.org/billofrights feantsa.org

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Das Recht auf Privatsphäre muss in allen Arten Surprise 538/22 17
Bisher keine Schweizer Städte vertreten
Artikel 9

Serie: Die Unsichtbaren  Wer sind die Menschen, an welche die Schweizer Mittelschicht immer mehr Arbeiten dele giert? Und wieso tut sie das?

Eine Artikelreihe über neo-feudale Strukturen und ihre Hintergründe.

Kamils letzte Kartoffel

Seit vielen Jahren kommt der Pole Kamil W. in die Schweiz, um Obst und Gemüse zu ernten. Er arbeitet viel, verdient wenig. Und sagt sich: Lieber das als nichts.

Auf den Werbeplakaten der Grossverteiler sieht man ihn nicht. Dort pflücken Schweizer Landwirte Tomaten, die Bäuerinnen schneiden Salate, alle schauen zufrieden, die Sonne lacht. Auch im 1500-Seelen-Dorf im Berner Seeland hat man ihn kaum ge sehen in all den Jahren – dreizehn, um genau zu sein. So lange reist Kamil W.* aus Polen zweimal im Jahr in die Schweiz und hilft Bauer Michael H.* bei der Obst- und Gemüseernte.

Dabei hatte er mit Äpfeln und Kartoffeln nicht viel am Hut. Fast zwanzig Jahre arbeitete Kamil W. als Mechaniker, er war in den 1980ern Teil von Solidarność, einer selbstverwalteten Ge werkschaft, die aus der Streikbewegung hervorging und dann unter dem späteren Staatspräsidenten Lech Wa sa massgeblich an der Revolution 1989 beteiligt war. Anfänglich euphorisch, ge hörte Kamil W. später zu denen, die den Preis zahlen mussten für die marktwirtschaftlichen Reformen, auf die sich sein Land einliess: Nach der Privatisierung des Unternehmens, für das er so viele Jahre gearbeitet hatte, verlor er mit Ende dreissig – er war jetzt Vater von drei Kindern – Knall auf Fall seinen Job. Zwei Jahre war er arbeitslos, dann fuhr er als Fernfahrer quer durch Europa. «Damals musste sich meine Familie daran gewöhnen, dass ich immer wieder fort bin, manchmal Wochen, oft Monate.»

Dann, das war 2009, erfuhr Kamil W. per Zufall über ein In serat, dass in der Schweiz dringend Erntehelfer*innen benötigt würden. Er reiste hin, arbeitete eine Saison lang bei Bauer Mi chael H. auf den Feldern, der Chef passte ihm, die Arbeit auch, und er kam wieder und wieder.

In der Regel ist Kamil W. im Frühjahr für zwei Monate im Seeland und dann wieder ab September für weitere drei Monate. Die Arbeit sei eintönig, die Tage ebenso, sagt der Erntehelfer: «Morgens um halb sechs Uhr ist Tagwacht, um sechs werden wir – ein Dutzend Männer, die meisten Polen – von einem klei nen Bus abgeholt. Dann fahren wir auf die Felder, beginnen mit der Arbeit, sortieren zum Beispiel Kartoffeln. Um neun gibt es eine kurze Pause, dann wieder Kartoffeln. Mittagessen ist pünkt lich um zwölf, ohne Ausnahme. Gegessen wird vor Ort, nur bei schlechtem Wetter geht’s zurück auf den Bauernhof. Meist sind

wir nach einer halben Stunde wieder bei den Kartoffeln. Norma lerweise arbeiten wir bis halb sechs, oft aber auch länger.» Je nach Wochentag – Bauer Michael H. bringt immer dienstags und sams tags sein Gemüse und Obst auf den Dorfmarkt – kann es sein, dass Kamil W. zehn Stunden arbeitet. Im Schnitt kommt er auf 50 bis 55 Stunden die Woche.

3300 Franken kriegen Erntehelfer*innen dafür im Monat, das ist so etwas wie der Richtlohn in einer Branche, die vergleichs weise unreguliert ist. Tatsächlich unterliegt die Schweizer Land wirtschaft bis heute nicht dem Arbeitsgesetz; mithin gibt es auch keinen Gesamtarbeitsvertrag. Was die Arbeitszeiten angeht, un terscheiden sich die Normalarbeitsverträge von Kanton zu Kan ton. So beträgt die Maximalarbeitszeit im Kanton Genf 45 Stun den die Woche, im Kanton Glarus dagegen 66 Stunden. Von den 3300 Franken werden fast 1000 für Kost und Logis abgezogen, dazu kommen Telefonrechnungen und Reisekosten – im Fall von Kamil W. betragen sie aufs Jahr gesehen bis 700 Franken, wäh rend Corona kamen 400 für PCR-Tests dazu. Rechnet man die Ausgaben auf einen durchschnittlichen Monatslohn um, so ver dient Kamil W. noch 2200 Franken, macht auf 55 Arbeitsstunden pro Woche einen Stundenlohn von 10 bis 12 Franken.

Hohe Marge

«Könnte mehr sein, ja. Aber ich will nicht klagen», sagt Kamil W. dazu.

Und Bauer Michael H. meint: «Klar würde ich Kamil gerne mehr bezahlen. Aber eben.»

Wenn Michael H. ausholt und über die Veränderungen in der Schweizer Landwirtschaft während der letzten Jahrzehnte refe riert, so ist der «Bauer aus Leidenschaft», wie er sich selbst titu liert, nicht zimperlich. Von «sklavenähnlichen Arbeitsbedingun gen» redet er – «auch ich rackere 50 Stunden die Woche, habe kaum mal Ferien» – und von «Knüppelverträgen», welche die Grossverteiler ihnen aufzwingen und die sie langsam, aber sicher ausbluten liessen. «Früher bekam der Landwirt von einem Fran ken 60 oder 70 Rappen, heute sind es noch 30; den Rest nehmen

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die Detaillisten. Und nun sagen Sie mir: Wie soll ich mit 30 Rap pen auch noch meine Erntehelfer bezahlen können?»

Eine ernüchternde Antwort darauf gibt eine Studie aus Ös terreich: Von 80 Cent, die ein Bund Radieschen im Supermarkt kostet, gehen 50 Cent an den Grossverteiler – was eine deutlich geringere Marge ist als in der Schweiz – und von den 30 Cent für den Landwirt bleiben am Ende noch 3 Cent für den Erntehelfer.

Dass Kamil W. im Vergleich zum Durchschnittslohn in der Schweiz – er liegt bei 6600 Franken – so viel arbeiten muss für so wenig Geld, ist ihm klar. Auch weiss er um Bemühungen, die Arbeitsbedingungen der Erntehelfer*innen zu verbessern. Im Oktober 2021 übergab das Netzwerk «Widerstand am Tellerrand» in Bern und Zürich eine Petition an die jeweiligen Kantonsregie rungen. Die zentrale Forderung: eine Festlegung der Arbeitszeit für Erntehelfer*innen auf 45 Stunden die Woche sowie die Ein führung eines über die Kantone hinweg verbindlichen Monats lohns von 4000 Franken.

Natürlich hätte Kamil W. nichts dagegen, weniger zu arbeiten und mehr zu verdienen. Doch er hat auch Vorbehalte. «Bisher ist diese Arbeit für Einheimische schon wegen des Lohnes unattrak tiv. Was aber, wenn sie dabei mehr verdienen?» Hinter der Frage steht die Befürchtung, dass Erntehelfer*innen aus Ost- oder Sü deuropa den Kürzeren ziehen und ihre Jobs verlieren würden. «Dann lieber das als nichts», sagt Kamil W. und zuckt mit den Schultern.

Wie sehr Michael H. – sein Jahreseinkommen liegt übrigens bei 80 000 Franken – von Leuten wie Kamil W. abhängig ist, wurde ihm bewusst, als im Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie ein setzte und Erntehelfer*innen namentlich aus Osteuropa, Spanien und Portugal rar wurden. «Ich hatte stattdessen Schweizer*innen angeheuert, Student*innen, Lehrlinge, Arbeitslose, aber vergiss es! Die Arbeit ist hart, und der Lohn für hiesige Verhältnisse ja wirklich lausig. Kein Wunder, waren sie nach ein paar Tagen alle wieder fort. Und ich in der Patsche.»

Hinterm Bauernhof

Als die Grenzen innerhalb der europäischen Länder geschlossen wurden, fehlten also plötzlich genau jene, die in der Landwirt schaft ansonsten gar nicht erst wahrgenommen werden: die rund 30 000 ausländischen Erntehelfer*innen allein in der Schweiz –in Italien sollen es 370 000 sein, in Frankreich 200 000 und in Spanien bis 150 000.

Seit Jahren leben Kamil W. und die anderen Erntehelfer hin ter dem prachtvollen Bauernhof von Michael H. in eigens für sie hergerichteten Behausungen, die von der Strasse her nicht zu sehen sind. Früher handelte es sich dabei um eine Art Schopf; heute stehen dort vier Container mit Klappbetten, einem Schrank und einem kleinen Tisch, Toilette und Dusche sind separat – ganz so, wie man es von Asylzentren für Geflüchtete kennt.

«Das hat mich nicht wenig gekostet, aber es lohnt sich: Gute Unterkunft verspricht gute Leistung, nicht wahr?», sagt Bauer Michael H. und nickt sich selber zu. Für ihn sind seine Erntehel fer ein unverzichtbares Kapital, genauso wie es seine Traktoren und all die anderen Gerätschaften sind.

Im Container hinterm Bauernhaus verbringt Kamil W. seine Abende. Die Erntehelfer essen miteinander Znacht, sie trinken ein Bier oder zwei, dann verziehen sie sich in die Container, lö schen früh das Licht. «Nach solchen Tagen bist du geschafft, da bleibt nicht viel Zeit und Energie für anderes.» Mit «anderes»

meint Kamil. W.: ein Kartenspiel, ein Gespräch über Gott und die Welt oder ein wenig Tratsch, ein Spaziergang ins Dorf, ein Nacht essen in der Wirtschaft. Er ist mit seinen 62 Jahren der Älteste unter den Erntehelfern, was ihm zu schaffen macht. «Die Jungen hängen die ganze Zeit am Handy oder haben ihre Kopfhörer an und hören Musik.»

Dass sich Kamil W. über die Jahre isoliert hat, entfremdet von seiner Familie und den Freund*innen, ist ihm erst spät aufgefal len. «Bin ich in der Schweiz, gibt es nichts anderes als Rüben, Tomaten, Peperoni, Kohl, Salate oder Kartoffeln. Bin ich zuhause, fühl ich mich ausgepumpt. Dann bin ich am liebsten für mich. Oder ich nehme kleinere Jobs an, fahre Lastwagen, auch da bin ich meist alleine.» Die Kinder seien inzwischen erwachsen, seine zurückgezogene Art würde ihnen gar nicht auffallen. Anders sei ner Frau. Schon manches Mal sei die Ehe auf der Kippe gewesen, sie wollte ihn verlassen. Kamil W. kann ihr das nicht verübeln. «Ich habe sie zu oft allein gelassen, mit den Kindern, dem Haus halt, mit allem. Aber hatte ich denn eine Wahl?»

Das soll sich jetzt ändern. Es ist Oktober und bald Schluss mit der Ernte, und zwar endgültig. «Ich bin über sechzig, meine Ge lenke knirschen, die Arbeit wird nicht leichter. Das waren meine letzten Kartoffeln. Jetzt sind meine Söhne dran.» Der eine arbei tet, wie einst Kamil W., als Fernfahrer, der andere hat eine gut bezahlte Stelle bei einem polnischen Unternehmen. Die beiden würden ihm und seiner Frau gewiss unter die Arme greifen, soll ten die Rente und das bisschen Ersparte nicht reichen. Vielleicht wird er auch noch den einen oder anderen Auftrag als Fahrer annehmen. «Und ansonsten lege ich endlich die Beine hoch», sagt Kamil W., und in seinem runden Gesicht liegt ein zufriede nes Grinsen.

* Namen geändert

Die Unsichtbaren — eine Serie in acht Teilen

— Teil 1/Heft 522: Reinigungspersonal

— Teil 2/Heft 524: Care-Arbeiter*innen

— Teil 3/Heft 526: Klärwerkfachleute

— Teil 4/Heft 528: Nannys

— Teil 5/Heft 531: Lagerlogistiker*innen

— Teil 6/Heft 535: Gig-Worker

— Teil 7/Heft 537: Serviceangestellte

— Teil 8/Heft 538: Erntehelfer*innen

Wir lagern immer häufiger unliebsame oder wenig angesehene Arbeiten an andere aus: Putzen, Ernte, Care-Arbeit, Müllabfuhr. Wir möchten wissen, wer diese Arbeiten verrichtet und unter welchen Bedingungen. Und was dies für Folgen hat.

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Viel bücken für wenig Lohn

Wir geben immer weniger Geld aus für Nahrungsmittel. Die Grossverteiler erzielen dennoch ihre Gewinne. Unter Druck geraten landwirtschaftliche Betriebe und ihre Erntehelfer*innen.

familienexterne Arbeitskräfte arbeiteten 2018 auf Schweizer Höfen, davon 11 982 ausländische Männer und 5667 ausländische Frauen. Vermutet werden zusätzlich 6000 Sans-Papiers.

Der Graubereich 2020 erzielte der Schweizer Detailhandel einen Rekordumsatz mit Lebensmitteln. Die fehlende Transparenz der führenden Grosshändler bezüglich vermuteter Höchstbruttomargen macht jegliche Vergleiche schwierig. Ein Verdacht auf Missbrauch der enormen Marktmacht bleibt weiter bestehen.

177 Einwohner*innen

kommen 2021 in der Schweiz auf einen Landwirtschaftsbetrieb. 47,2 Kilo Kartoffeln wurden 2020 pro Kopf konsumiert. Die Anzahl der grossen Betriebe von über 50 Hektar hat sich seit 1985 verfünffacht.

ein*e Bäuer*in an einem Kilo Speisekartoffeln. CHF 2.73 verlangt 2021 der Grosshandel im

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üb er 50 Hektar: 39551Betriebe R ü ck gang der Landwi rtschaftsbetriebeinderSchweiz
5 Hektar)
bis 10 Hektar: 2605 Betriebe 5bis10Hektar: 17486Betriebe 5 bis10Hektar: 6237Betriebe
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INFOGRAFIK
QUELLEN: NZZ; BFS; STATISTA; NIELSEN SCHWEIZ; BWL; AGRISTAT; EIGENE BERECHNUNGEN
Schnitt. CHF 0.28 3 4 CHF 3200 35,1 % 2 4,2 % 9,1 % 34,8 % betrug 2018 der durchschnittliche Monatslohn für landwirtschaftliche Hilfskräfte in der Schweiz. Abgezogen werden CHF 1000
Kost und Logis. Führende Detailhändler der Schweiz Top 4 der höchsten Marktanteile im Jahr 2020 Coop Migros Denner Volg 1 Im Jahr 1969 31 % 2 Im Jahr 1989 21 % 3 Im Jahr 2009 9,9 % 4 Im Jahr 2019 9,8 % Ausgaben für Nahrungsmittel Anteil an gesamten Konsumausgaben Vermutet wird auf sieben Hilfskräfte eine Person ohne Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung. Jährlicher Durchschnitt pro Schweizer Privathaushalt. 1 Surprise 538/22 21
MARINA BRÄM
verdient
für

Die Unsichtbaren: eine Gesellschaftsanalyse

Es gibt einen Wandel hin zu neo-feudalen Strukturen. Sichtbar ist er in der Arbeitswelt. Während eine berufliche Tätigkeit in der Regel gesellschaftlich anerkannt ist und als wertvoll gilt, haben «unsichtbare» Arbeiten kein Sozialprestige und werden schlecht vergütet.

Ein oder zwei Klicks, ein Telefonat, ein Formular auf einer Online-Börse, und schon haben wir die Pizza im Haus, ein Buch, eine Reinigungskraft, eine Nanny, einen Hun desitter oder eine Rundumbetreuung für unsere erkrank ten Eltern – und können so Arbeiten abgeben, für die wir keine Zeit haben oder die wir nicht selber verrichten möchten.

Tatsächlich lagern wir, als Einzelne und als Gesell schaft, immer mehr Tätigkeiten an andere aus. Dieses Phänomen geht häufig damit einher, dass jene, welche diese ausgelagerten Arbeiten ausführen, unsichtbar blei ben – sei es, weil sie Schwarzarbeit verrichten, weil sie in Privathaushalten oder zu Randzeiten arbeiten.

Diese unterschiedlichen Facetten waren für uns An lass, im Rahmen der achtteiligen Serie «Die Unsichtba ren» drei Fragen nachzugehen: Wieso schieben wir immer mehr Arbeiten ab; wer sind die Leute, welche diese aus gelagerten Arbeiten verrichten; und was macht das mit unserer Gesellschaft? Bedeutet das: Sind wir auf dem Weg zu einer neuen Dienerschaft? Folgende Einsichten haben sich aus unseren Recherchen ergeben.

Zeit ist Geld

Wer Arbeiten auslagert, die sie oder er selber verrichten könnte – Putzen zum Beispiel, Einkaufen oder sich um jemanden Kümmern –, tut dies meist, um Zeit zu sparen. Es ist dies Zeit, welche die betreffende Person anderwei tig einsetzen kann: um sich zu erholen, um ihr Privatleben zu pflegen, um ihren Hobbys nachzugehen oder schlicht, um (noch mehr) zu arbeiten. Letzteres ist, das belegen Studien, sehr häufig der Fall. Dafür gibt es verschiedene Gründe, sie reichen von Prestige bis Überforderung. Ein anderer besteht darin, dass wir es zunehmend mit For men der «entgrenzten Arbeit» zu tun haben: Immer mehr Menschen arbeiten von zuhause aus oder haben flexible Arbeitszeiten. Was aber nicht bedeutet, dass sie dadurch mehr Zeit zur Verfügung hätten, im Gegenteil.

Offenbar führt diese Flexibilität dazu, dass sie sich allzeit bereithalten müssen, quasi in einer Art Pikettdienst stehen (wie Gig-Worker; Surprise 535). Entsprechend ver wischen sich Arbeits- und Lebenswelten bzw. sie müssen neu ausbalanciert werden (dafür gibt es das Modewort «Work-Life-Balance»). Der «flexible Mensch» wird so pa radoxerweise zu einem, der infolge seiner permanenten Verfügbarkeit immerzu eingespannt ist, kaum Ressourcen

hat und ständig in Zeitnot ist. ¹ Möglichst alle Arbeiten zu delegieren, was ihm Zeit verschafft, wird unter solchen Bedingungen gewissermassen zur Notwendigkeit.

Ungleiche Wertigkeit

Und doch bleibt ein Gefälle, und das hat auch strukturelle Gründe: In den allermeisten Fällen werden Arbeiten aus gelagert, von denen man glaubt, sie seien weniger wert als jene Arbeiten, mit denen man sein eigentliches Geld verdient. Ob dies tatsächlich durchwegs der Fall ist – etwa wirtschaftlich gesehen –, ist fragwürdig. So oder so wi derspiegelt sich die ungleiche Wertigkeit der Arbeit auch

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in ihrer Entlöhnung: Ausgelagerte, zumal unsichtbare Jobs sind in aller Regel ungleich schlechter bezahlt als jene Ar beiten, um derentwillen sie ausgelagert werden. Wäre es andersherum, hätten vermutlich nur Superreiche und Ade lige überhaupt die Möglichkeit, Arbeiten zu delegieren.

Prekäre Arbeitsbedingungen

Zwar ist es nicht so, dass ausgelagerte sowie unsichtbare Arbeiten grundsätzlich unter prekären Bedingungen ver richtet werden – unser Porträt eines Angestellten in einer Kläranlage ist dafür ein Gegenbeispiel (siehe Surprise 526). Dennoch gilt für die meisten Fälle, dass derlei Ar beiten nur deswegen so leicht und günstig zu haben sind, weil sie prekär sind. Damit verbunden sind zwei Punkte, die abermals strukturelle Probleme betreffen: Erstens werden ausgelagerte Arbeiten auch deshalb so breit in Anspruch genommen, weil es nicht genügend Alternativen gibt; das heisst, es fehlen Angebote, die nicht nur fair ausgestaltet, sondern für eine Mehrheit auch be zahlbar sind. An einem Beispiel gezeigt: Solange Alters heime bis 10 000 Franken pro Monat kosten, ist eine 24-Stunden-Care-Betreuung aus Osteuropa für 3200 Franken oder weniger für viele eine echte, weil überhaupt erst erschwingliche Alternative. Was wäre zu tun? Die So ziologin Nicole Mayer-Ahuja sagte dazu im Interview: «Der Staat müsste hier mehr Angebote zur Verfügung stellen – Pflegeheime, Kitaplätze etc. – oder bestehende besser unterstützen» (Surprise 524).

Zweitens werden viele der ausgelagerten, prekären Arbeiten in der Schweiz von Migrant*innen verrichtet; davon sind rund zwei Drittel Frauen (Surprise 522 und 537). Es handelt sich hierbei demnach um Tätigkeiten, die aufgrund von geringem Lohn und niedrigem Ansehen für Schweizer*innen kaum von Interesse sind – bisher jeden falls. So dringend das politische Bemühen sein mag, die Bedingungen für ausgelagerte Arbeiten zu regulieren –nicht immer sind solche Kämpfe auch im Sinne derer, welche diese Arbeiten ausführen müssen. Auch hierzu ein Beispiel: Im Porträt über einen Erntehelfer aus Polen äu ssert dieser die Befürchtung, dass die Feldarbeit auch für Schweizer*innen an Attraktivität gewinnen könnte, sobald sie angemessen entlöhnt wird – was aus seiner Sicht da rauf hinausläuft, dass seine eigenen Chancen auf den Job sinken (siehe Seite 8).

Soziale Identität und Vereinsamung

Wer unsichtbare Arbeit verrichtet, versteckt sich – oder wird versteckt. Auch dafür gibt viele Gründe. Personen zum Beispiel, die schwarz angestellt sind, haben selbst verständlich kein Interesse, über den engen Kreis von Vertrauten hinaus ihre Arbeit zu thematisieren, was be deutet: als Arbeitende kommen sie im Grunde gar nicht vor. Das betrifft nicht bloss die Schwarzarbeit, sondern auch Tätigkeiten, die typischerweise zu Randzeiten ge macht werden (Reinigungsarbeiten; Surprise 522), oder quasi hinter verschlossenen Türen (Küchendienst in Kan tinen; Surprise 537), im Privathaushalt (Care-Arbeit, Kin derbetreuung; Surprise 524 und 528) oder weit weg von den Zentren gesellschaftlichen Treibens (Erntehilfe; Seite

8). Unter diesen Umständen reden viele, die ausgelagerte, unsichtbare Arbeiten verrichten, von Vereinsamung, was kaum erstaunt: Wer einer Arbeit nachgeht, die in der öf fentlichen Sphäre verrichtet wird und gesellschaftlich anerkannt ist, erhält dadurch unzweifelhaft eine soziale Existenz und Identität. Die betreffende Person ist einge gliedert in ein Netz von Beziehungen, wo sie sich (weit über die Arbeit hinaus) austauschen kann. Natürlich ist die Arbeitswelt dafür nicht der einzige Ort. Doch sie ist unzweifelhaft eine jener Welten, die prägend sind für un sere soziale Eingliederung. Fällt sie weg, muss sie kom pensiert werden– oder es besteht die Gefahr, dass Un sichtbarkeit zu sozialer Isolation führt.

Geld über alles Sieht man einmal elitären Kreisen ab, so wurden viele der heute aus gelagerten Arbeiten früher selbst verrichtet – die meisten übrigens ohne Lohn. Man denke an Haus halts- und Betreuungsarbeiten oder an die Selbstversorgung. Niemand will das Rad der Zeit zurückdrehen, zumal viele dieser Arbeiten von Frauen verrichtet werden mussten. Sie wurden dadurch in soziale Rol len gedrängt («die Hausfrau», «die Fürsorgende»), die sie nachhaltig diskriminiert haben – und bis heute diskriminieren. Dennoch stellt sich die Frage, ob es der richtige Weg ist, alle Formen der Auslagerung wie derum zu «verökonomisieren». ² Offensichtlich ist dies bei der Fürsorge: Wird sie rein öko nomisch definiert und als kapitalistische Dienstleistung organisiert, unterliegt sie gleichermassen dem neolibe ralen Diktat von Angebot und Nachfrage, von Effektivität, Nutzen und Zeitersparnis. Damit wird die Sorge-Verant wortung aus dem Sozialen herausgenommen und ins Privatwirtschaftliche geschoben – dies ist die These der Soziologin Sarah Schilliger (Surprise 524). Für sie läuft die Monetarisierung von Tätigkeiten, die heute ausgela gert werden, am Ende wiederum auf deren Abwertung hinaus. Stattdessen schlägt sie vor, Arbeits- und Lebens welten neu zu denken – und zwar so, dass wir genügend Zeit haben für die Aufgaben, die mit unserem Lebensstil einhergehen, und dass wir «ohne Angst vor Erschöpfung, Armut und Renteneinbussen» für uns selbst und andere sorgen können.

Der «flexible Mensch» ist immer verfügbar und ständig in Zeitnot.

1 Eine eindringliche Studie über den flexiblen Menschen liefert Richard Sennett, «Der flexible Mensch» (Berlin 1998).

2 Der Ausdruck stammt von André Gorz; er hat mit seiner «Kritik der ökonomischen Vernunft» (1988) ein wegweisen des Buch über die Auflösung der Trennung von Leben und Arbeit verfasst.

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«Pech und Glück hängen auch vom Umfeld ab»

Kultur Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner hat mit «Heimatlos oder Das abenteuerliche Leben des Jakob Furrer von der Halde bei Wald» einen historischen Roman geschrieben, der prägende soziale Themen aus dem 19. Jahrhundert anschneidet. Gradlinig im Ton und mit viel Gespür für die Schicksalshaftigkeit des Lebens.

«Heimatlos» erzählt vom Schweizer Bauern Jakob Furrer, der nach Amerika auswandert. Sein Schicksal scheint unausweichlich. Wie bewusst haben Sie diese Wirkung zu erzielen versucht? Weil ich das Ende als Erstes hatte, war die Geschichte in Hinblick darauf unausweichlich. Theoretisch könnte aber jedes der schick salhaften Ereignisse auch in eine andere Richtung gehen, aller dings entstünde dann eine andere Geschichte. Das ist etwas, das mich interessiert: wie oft ein kleiner Moment, eine kleine Begeg nung grossen Einfluss haben kann. Man spielt ja als Autor auch Schicksal, indem man einer Figur ein paar bedeutende Momente mehr ins Leben baut, als im durchschnittlichen Leben passieren.

Bei alldem ist das Buch dicht an grossen Themen: Es geht um das Machtgefälle zwischen gesellschaftlichen Schichten, um die Rolle der Frau, um Schweizer und amerikanische Geschichte und um Auswanderung. Was war Ihnen das Wichtigste? Ich reiste 2008 durch die USA und war da an der Gedenkstätte von Little Big Horn. Ich erfuhr, dass 44 Prozent von jenen, die mitkämpften und umkamen, keine amerikanischen Bürger wa ren. Ich habe «Switzerland» eingegeben, und tatsächlich waren es sieben oder acht Schweizer Männer, die gestorben sind, und etwa fünfzehn, die mitkämpften. Ich fragte mich: Wie kommt man nur dazu? Anfangs ahnte ich nicht, wie viele Themen ich damit anschneiden würde. Ich wusste, dass die Industrialisierung und die damalige Armut in der Schweiz eine Rolle spielen wür den. Die Geschichte der First Nations in den USA hat mich auch interessiert. Allerdings sind die Erzählungen aus jener Zeit sehr oft von einem kolonialistischen Blick geprägt. Oder man findet Romantisierungen. Man muss aufpassen, dass man das nicht übernimmt. In der Schweiz stiess ich auf Einzelschicksale – es waren ja oft gescheiterte Existenzen, die es zuhause nicht ge schafft haben. Einer von ihnen wurde bei mir zum Protagonisten Jakob. Ein junger Mann, der als Bauer überleben, irgendwann eine Familie ernähren will – eigentlich eine relativ simple Sache. Die sich aber als äusserst schwierig erweist.

Sie brechen die Bauernidylle sehr deutlich. Es gab damals zwar noch die kleinen Arbeiterbauern, aber eben auch die Grossbauern, die sich die Allmenden einverleibten, um Futtermittel anzubauen. Sie verdienten gutes Geld mit dem Ex port von Käse, in gewisser Weise war das schon der Anfang der Globalisierung. Die reichen Bauern und die Industriellen auf dem Land schufen die Strukturen, die ihnen zum Vorteil gereichten,

Autor von Aussenseitern

Stephan Pörtner ist Schriftsteller und Übersetzer in Zürich, bekannt ist er für seine sechs Krimis mit Köbi Robert, dem Detektiv wider Willen. Der letzte Band, «Pöschwies», wurde mit einem Werkbeitrag ausge zeichnet. Er gewann den Zürcher Krimipreis. «Heimat los» erhielt von der Literaturkommission des Kantons Zürich einen Anerkennungsbeitrag. Für die «Tour de Suisse» besucht Pörtner Surprise-Verkaufsorte.

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alle anderen hatten nicht viel zu sagen. Selbst wenn man einen eigenen Hof hatte. Das ging schon Richtung Schuldknechtschaft. Arme Bauern mussten ihre Arbeitskraft verpfänden. Die Bedin gungen waren haarsträubend, weil es mehr Menschen als Arbeit gab. Die Legende von der guten alten Zeit, als die Schweizer noch Bauern waren, ist ein Mythos.

Es gab die bäuerliche Welt auf der einen, die Industrialisierung auf der anderen Seite. Genau. Die Industrialisierung wurde eigentlich nur möglich, weil es in der Schweiz eine Bevölkerungsexplosion gegeben hatte. Und die gab es, weil man Kartoffeln anzupflanzen begann. Mit Kartoffeln konnte man doppelt so viele Kalorien pro Quadrat meter herstellen wie mit Getreide. Die Kartoffeln kamen vom amerikanischen Kontinent zu uns. Das sah ich als Ironie des Schicksals. Hätten diese Kartoffeln aus Amerika nicht ihren Weg nach Europa gefunden, hätte es hier keine Überbevölkerung ge geben. Dann hätte diese Auswanderungswelle gar nicht stattge funden. Der industriellen Revolution ging eigentlich eine Agrar reform voraus. Diese Zusammenhänge fand ich spannend.

Der Zürcher Stadtteil Aussersihl ist immer wieder Schauplatz Ihrer Geschichten. Interessiert er Sie wegen seiner bewegten Geschichte als Arbeiterquartier?

Ich habe da über zwanzig Jahre gelebt, von 1987 bis 2008. Wir wohnten zu dritt als WG in einer Dreizimmerwohnung, die Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurde, mit Holzheizung. Ich wusste, dass auf dem gleichen Raum früher achtköpfige Familien haus ten, die vielleicht noch einen Zimmerherrn in der Küche hatten. Die Langstrasse gab es schon, als Aussersihl noch gar nicht zur Stadt gehörte. Jakob im Buch ist in den Jahren gegen 1870 da. Ich kannte die Strassen und ihre Geschichte. Als ich da wohnte, gab es noch die alten Arbeiterhäuser, Handwerksbetriebe, kleine Werkstätten in Hinterhöfen. Unter anderem lebten dort allein stehende Männer, die Saisonniers, in ihren Einzimmer-Apart ments, und entsprechend gab es die Spunten, das Milieu, güns tige Verpflegung. Die Männer, die am gleichen Ort arbeiteten, redeten oft die gleiche Sprache, blieben als Gruppe unter sich. Es ist interessant zu sehen, was im historischen Vergleich mit Jakobs Zeit geblieben ist und sich nur in der Ausprägung verändert hat. Inzwischen wurden die Arbeiterfamilien allerdings weiter stadtauswärts gedrängt.

Sowohl Aussersihl als auch Amerika und die Schiffsreise –die Schauplätze sind von Gefahren geprägt: Diebstahl, Betrüge reien, Mord. Realität oder Fiktion?

Es geht um individuelle Notlagen, und die sind nun einmal oft ein wesentlicher Grund für das Abrutschen in die Kriminalität. Im Buch geht es mir auch um Beziehungen und wie sie sich auf das Leben auswirken. Wen man kennt gibt vor, wo eine Tür auf geht. Vieles an Pech und Glück hängt auch vom Umfeld ab, das man hat. Diejenigen, die sich ausserhalb des bürgerlichen Sys tems befinden, kommen da auch nicht so einfach hinein. Diese Dynamiken haben mich interessiert. Eine kriminelle Handlung zu begehen, drängt sich einem je nach Lebenslage einfach eher auf, auch ohne dass die Person eine stärkere kriminelle Energie besitzt als andere. Es kommt auch auf die Position und die Mög lichkeiten im Leben an. Das ist eine soziale Realität, und sie be steht heute noch.

Die Widerstände, auf die die Figuren stossen, sind oft den geltenden Normen geschuldet. Geht es grundsätzlich um die Frage, ob man sich darin zurechtfinden kann oder ob man daran scheitert?

Ja, letzten Endes schon. Normen ändern sich aber mit der Zeit und sind irgendwo auch willkürlich. Deswegen kann man vieles an vergangenen Zeiten besser zeigen: Die Normen von früher kommen einem oft ziemlich absurd vor. Man sieht auch die Un gerechtigkeiten, die sie mit sich bringen, mit dem zeitlichen Ab stand besser. Normen spürst du auch erst dann richtig, wenn du ihnen nicht entsprichst, wenn du sie nicht erfüllen kannst. Wenn dich die Normen einschränken in dem, was du bist und tust. Es geht um die Frage, ob sie dir Grenzen setzen. Wenn du einen Schweizer Pass hast, merkst du praktisch nicht, dass es Grenzen gibt. Wenn du keinen Pass hast, merkst du es sehr wohl. Wer kommt wie weit womit? Und für wen gelten welche Normen? Für manche Gruppen von Menschen gelten mehr, strengere und an dere Normen als für andere.

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AB 24. NOVEMBER IM KINO
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Roman
Stephan Pörtner: Heimatlos oder Das abenteuerliche Leben des Jakob Furrer von der Halde bei Wald, Bilger Verlag 2022, CHF 34.00
oder
Das abenteuerliche Leben des Jakob Furrer von der Halde bei Wald
BILD: ZVG

Veranstaltungen

St. Gallen

«Alexander Hahn. Memory of Light – Light of Memory», Ausstellung, bis April 2023, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi bis 20 Uhr, Kunstmuseum St. Gallen, Museumstrasse 32. kunstmuseumsg.ch

Alexander Hahn, 1954 in Rapperswil geboren, ist Computerkünstler und einer der profiliertesten Video-Pioniere der Schweiz – bereits seit 1981 (!) ist er in den elektronischen und digitalen Medienkünsten zuhause (in den USA ebenso wie in Europa). Hahn verschmilzt Ereignisse aus seinem persönlichen Leben, aus Geschichte, Kunst und Wissenschaft zu Werken der Videokunst, die Bildwelten sind irgendwo in den inneren Welten der Psyche, in der Erinnerung und im Traum angesiedelt. Nebst Bildern prägen Animation, Virtual Reality, Installation und das Schreiben über die neuen Medien Hahns Kunst. Zwei begleitende Kunstgespräche behandeln denn auch Game Design und Fragen des Kuratierens von digitaler Kunst. Am Mi, 14. Dezember ist der Künstler selbst anwesend. DIF

Zürich «Bijou oder Bausünde? Über unseren Umgang mit Baukultur», Ausstellung, bis Anfang 2024, Mi, Fr, Sa 14 bis 17 Uhr, Do und So 12 bis 17 Uhr, Villa Patumbah, Zollikerstrasse 128. heimatschutzzentrum.ch

immer wichtiger. Denn um eine «hohe Baukultur» zu erreichen, wie es die «Erklärung von Davos» der europäischen Kulturminis ter*innen aus dem Jahr 2018 for dert, braucht es die Beteiligung der Zivilgesellschaft und eine infor mierte und mündige Öffentlich keit. In der Villa Patumbah, einem Baudenkmal, das lange Zeit Gegen stand von Diskussionen über den Erhalt war, kann man sich mit sei ner gebauten Umwelt und ver schiedenen Haltungen dazu aus einandersetzen. Mit vielfältigem Rahmenprogramm und Diskussi onen mit Architekturhistoriker*in nen, Projektentwickler*innen und auch Investor*innen. DIF

die nächste Folge rieb sich an «Ödi pus Tyrann» am Schauspielhaus Zürich, und der dritte Teil beschäf tigt sich nun mit heutigen «Sehern»: mit Science-Fiction-Autor*innen. Edwin Ramirez, Performan ce-Künstler und Stand-up-Come dian aus Zürich, stellt die Erzählwelt der Autorin Octavia E. Butler vor, als Ausgangspunkt eines Gesprächs über Dystopie, Protopia und die Lust am Erschaffen von literarischen Schreckenswelten. «Erzählwelten» ist ein locker erscheinender Podcast des Maison du Futur, in dem Betei ligte rund um Regisseur Samuel Schwarz Themen analysieren und diskutieren sowie auch mal neue, eigene Adaptionen besprechen. Maison du Futur versteht sich als nationales Innovationszentrum für die Künste, in dem neue Formen des audiovisuellen und performa tiven Erzählens in Kombination mit modernen Technologien wie Arti ficial Intelligence (AI), Augmented Reality (AR) und Big Data entwi ckelt werden. DIF Zürich «Ich bin wü ü ü ü ü ü ü ü tend» –Sophie Taeuber-Arp / Mai-Thu Perret, Ausstellung, bis So, 30. April, Cabaret Voltaire, Spiegelgasse 1. cabaretvoltaire.ch

Mit den kürzlich editierten Briefen Sophie Taeuber-Arps kann erstmals ihre eigene Sicht auf die Dinge re konstruiert werden. Da wäre etwa der Satz «Ich bin wü ü ü ü ü ü ü ü tend», der zum Ausstellungstitel geworden ist: Er ist einem Brief Taeuber-Arps an Hans Arp aus Arosa vom 4. Mai 1919 entnommen, in dem sie sich über einige ihrer Meinung nach effekthascherischen

männlichen Dadaisten als «radikale Künstler» echauffierte. Der Brief steht stellvertretend für die Ableh nung von Hierarchien und der Enge, die selbst künstlerischen Me thoden zuweilen innewohnt. Im Gewölbekeller des Cabaret Voltaire treten nun auch andere ausge wählte Briefe Taeuber-Arps, Arbei ten sowie Zeugnisse ihrer Tätigkeit als Lehrerin für textilen Entwurf in der Kunstgewerbeschule Zürich in Dialog mit Werken der Genfer Künstlerin Mai-Thu Perret (geboren 1976 in Genf). Dada und speziell

Sophie Taeuber-Arp stellen eine wichtige Inspirationsquelle für Per ret dar. In ihrem multidisziplinärem Schaffen verbinden sich feministi sche Anliegen, literarische Referen zen und Fragen zu Kunsthandwerk mit den Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts. DIF

Wir sind für Sie da.

grundsätzlich ganzheitlich

Baukultur ist Verhandlungssache: Was wird abgerissen und muss oder kann Neuem weichen? Wer entscheidet über Qualität und Schutzwürdigkeit? Der Diskurs über die Baukultur wird von Fach personen dominiert – die Sicht der Bevölkerung, ihre Mitwirkung und ihr Engagement werden jedoch

Podcast «Erzählwelten», Maison du Futur; Episoden «Oedipus», zu finden und hören auf Spotify

Drei Episoden «Oedipus»: die erste war angeregt von der Inszenierung «König Teiresias» am Theater Basel,

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WETTER
BILD(1): ALEXANDER HAHN, BILD(2): KARINBUERKI, BILD(3): MAI-THU
PERRET / FOTO ANNIK
365 Tage offen von 8-20 Uhr St. Peterstr. 16 | 8001 Zürich | 044 211 44 77 www.stpeter-apotheke.com ANZEIGE

Pörtner am Dreispitz in Basel

Surprise-Standort: Dreispitz

Einwohner*innen: 201 967

Sozialhilfequote in Prozent: 5,9

Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 36,9

Grosser Plan: am Dreispitz Nord sollen 800 Wohnungen und 4000 Veloeinstellplätze gebaut werden

Das Wichtigste an einem Einkaufszentrum sind die Parkplätze. Hier gibt es zwischen den beiden Hauptgebäuden eine Menge davon, und falls sie nicht rei chen, führt eine Rampe hinauf aufs Dach. Wer zu viel einkauft, kann auch gleich einen Anhänger erwerben, um die Ware heimzukarren. Rechts befindet sich das Hobby und Gartencenter, links das traditionelle Einkaufsparadies.

Ein riesiges Plakat am Eingang wirbt für ein Kaffeesystem, das weniger Abfall verursacht, weil es kompostierbar ist. Das ist eine begrüssenswerte Entwicklung, wenn auch Kaffee an und für sich schon immer kompostierbar war. Aber eben nicht das System, und System reimt sich auf bequem. Der Bequemlichkeit ist auch der Aufstieg dieser Systeme zu verdanken, welche die dank Kaffeevollautomaten an

sich schon denkbar bequeme Kaffeezu bereitung noch weiter vereinfacht haben. Allerdings haben solche Systeme ihren Preis, die praktischen Portionen sind teuer, ihre Herstellung und Verpackung ver schlingen Unmengen an Energie und Material, zurück bleibt ein Haufen Abfall. Bis jetzt, zumindest, denn letzteres Problem wurde gelöst, was beweist, dass alles in die richtige Richtung geht.

Die Menschen hier gehen entweder schnell Richtung Parkplatz oder gemäch lich Richtung Läden. Ein Handwerker tätigt seine Kundenanrufe vor dem Ein gang. Ein älteres Ehepaar sitzt auf einer der nicht allzu einladend wirkenden Betonbänke, die den Fussgängerbereich vom Parkplatz trennen. Die Einkaufswägen werden herummanövriert, ein Teil ist Handarbeit, für den Abtransport gibt

es ein rotblinkendes Gefährt, eine Art Roboter, der schiebt von hinten und ani miert nicht ganz junge, nicht ganz nüchterne Menschen, so zu tun, als wollten sie aufspringen.

Verlassen stehen ein blauer, mit Klebband zusammengehaltener Koffer und die Tasche eines Möbelhauses neben den Bistrotischen. An einem Flughafen würde dies für Aufsehen und zum Einsatz eines Bombenroboters führen, hier scheint sich niemand Sorgen zu machen, nicht einmal der Einkaufswagen schieb Roboter. Eher misstrauisch beäu gen sich hingegen die Personen, die auf dem Platz vor dem Einkaufszentrum auf jemanden oder etwas warten.

Der Besitzer des blauen Koffers kehrt zurück, es ist ein älterer Mann, der einen grossen Rucksack trägt. Wahrscheinlich hat er sein ganzes Hab und Gut dabei, auf dem Rucksack ist auch eine Schlafmatte befestigt.

Erstaunlich viele Menschen hinken, gehen gebückt oder gar an Krücken. Als habe vor Kurzem eine Unfallwelle die Gegend heimgesucht. Es mag aber auch daran liegen, dass Menschen, die nicht gut zu Fuss sind, lieber mit dem Auto einkaufen und darum hier vermehrt anzutreffen sind. Bei guter Gesundheit ist hingegen der Mann, der eine dicke Zigarre raucht, als befinde er sich auf der Terrasse eines Jachtclubs, nicht am Aussentisch eines Grossverteiler Take aways. Auch Familien mit Kindern finden sich ein, wo bei es für die Eltern gar nicht einfach ist, die in alle Richtung strebenden Kleinen zusammenzuhalten und sicher zum Familienwagen zu bringen. Eine Frau hievt eine schwere Sacoche aus dem Einkaufs wagen und befestigt sie an ihrem Velo. Nicht alle sind mit dem Auto angereist.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht

Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Tour de Suisse

Die 25 positiven Firmen

Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung.

Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit.

Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist.

Maya-Recordings, Oberstammheim

Arbeitssicherheit Zehnder, Zürich

Femisanum - natürliche Intimpflege, Zuzwil Scherrer & Partner GmbH, Basel Breite-Apotheke, Basel Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden Kaiser Software GmbH, Bern Cornelia Metz, Sozialarbeiterin, Chur Fachschule LIKA, Stilli b. Brugg

Liberty Specialty Markets, Zürich Schwungkraft GmbH, Feusisberg Coop Genossenschaft, Basel AnyWeb AG, Zürich

Gemeinnützige Frauen Aarau Dipl. Steuerexperte Peter von Burg, Zürich Itsmytime.ch, Stefan Küenzi, Berlingen Beat Vogel – Fundraising-Datenbanken, Zürich Stadt Illnau-Effretikon

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau hervorragend.ch | Grusskartenshop debe bijouxtextiles Bern Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti Sterepi, Trubschachen

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GEMEINSAM SCHAFFEN WIR CHANCEN

Nicht alle haben die gleichen Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Aus diesem Grund bietet Surprise individuell ausgestaltete Teilzeitstellen in Basel, Bern und Zürich an – sogenannte Chancenarbeitsplätze.

Aktuell beschäftigt Surprise acht Menschen mit erschwertem Zugang zum Arbeitsmarkt in einem Chancenarbeitsplatz. Dabei entwickeln sie ihre persönlichen und sozialen Ressourcen weiter und erproben neue berufliche Fähigkeiten. Von unseren Sozialarbeiter*innen werden sie stets eng beglei tet. So erarbeiteten sich die Chancen arbeitsplatz-Mitarbeiter*innen neue Perspektiven und eine stabile Lebens grundlage.

Eine von ihnen ist Marzeyeh Jafari «2019 bin ich als Flüchtling in der Schweiz angekommen – und wusste zunächst nicht wohin. Ich hatte nichts und kannte niemanden. Im Asylzent rum in Basel hörte ich zum ersten Mal von Surprise. Als ich erfuhr, dass Sur prise eine neue Chancenarbeits platz-Mitarbeiterin sucht, bewarb ich mich sofort. Heute arbeite ich Teilzeit in der Heftausgabe – jetzt kann ich mir in der Schweiz eine neue berufliche Zukunft aufbauen.»

Schaffen Sie echte Chancen und unterstützen Sie das unabhängige Förderprogramm «Chancenarbeitsplatz» mit einer Spende. Mit einer Spende von 5000 Franken stellen Sie die Sozial- und Fachbegleitung einer Person für ein Jahr lang sicher.

Unterstützungsmöglichkeiten:

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½ Jahr CHF 2500.–¼ Jahr CHF 1250.–

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«Viel Arbeit»

Tolle Frau, die ihre schwie rige Lebensgeschichte distanziert erzählt. Es hat bestimmt viel Arbeit bedeutet, um an diesen Punkt zu kommen. Meinen Respekt!

I. LEU, Riehen, an Danica Graf, Stadtführerin Basel

#536: Wir brauchen Grenz g än g er*innen «Überrissen»

#Stadtrund g an g ZH «So dankbar, an der Wärme schlafen zu können»

Vielen Dank für die Offenheit, uns aus dem eigenen Leben zu erzählen. Ich bin tief beeindruckt. Sandra hat uns das Hudelwetter fast vergessen lassen mit ihren Erzählungen. Ich stieg am Abend in mein Bett und war so dankbar, an der Wärme schlafen zu können. Ich hätte mich sehr gefreut, einen Blick ins Stauffacherhaus oder in den Sunneboge zu werfen. Ich bin mir bewusst, dass dies aufgrund der Coronasituation leider nicht möglich war.

D. BACHER, Hünenberg See, an Sandra Brühlmann, Stadtführerin Zürich

#Stadtrund g an g ZH «Beeindruckt»

Wenn nicht stetig Steuergelder im Sand vergraben und verschleudert würden, könnten einige Steuern und Gebühren gestrichen werden. Dann bräuchte es auch keine allgemeine Einführung der Quellensteuer. Auch die stark überrissenen Gehälter und Gagen sollten rigoros gestrichen werden. Dann sähe die finanzielle Lage ausgeglichener aus.

A. MARTINI, Hunzenschwil

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Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Simon Berginz, Monika Bettschen, Christina Baeriswyl, Dina Hungerbühler, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Priska Wenger, Christopher Zimmer

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Marina Bräm, Ruramisai Charumbira, Nicolas Gabriel, Ruben Hollinger, Mina Monsef, Daniel Sutter, Leah van der Ploeg Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt.

Gestaltung und Bildredaktion

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Dani hat das grossartig gemacht. Selbst in Zürich aufgewachsen mit ähnlichem Jahrgang, war das sehr eindrücklich, eine Reise in die Vergangenheit aus einer Perspektive, der viel mehr Beachtung geschenkt werden soll. Ich bin sehr beeindruckt von Dani, wie reflektiert er sein Leben wiedergibt. Was für ein Beitrag zu unserer Gesellschaft, unbezahlbar!

ANONYM, an Stadtführer Daniel Stutz, Zürich

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Surprise 538/22 29 Wir alle sind Surprise
538/22
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«Im Moment fühlt es sich hier gut an»

«Ich bin in Kanada aufgewachsen, lebe aber schon viele Jahre in Europa. Mein Vater war Schweizer, ein Bauern sohn aus dem Luzerner Hinterland, der sehr gerne reiste und sich schliesslich im Westen von Kanada niederliess. Meine Mutter, eine Mapuche aus Chile, die von einer spanischstämmigen Familie adoptiert worden war, lernte er auf einer Reise durch Chile kennen. Über die Schweizer Bevölkerung hatte sie schon viel Gutes ge hört, und aus Kanada stammte ihr damaliger Lieblings sänger Paul Anka – das konnte nur gutgehen, hatte sie sich gedacht, und zog zu meinem Vater nach Kanada.

Leider ging es nicht so lange gut. Die Familie brach aus einander, als mein Bruder und ich Teenager waren. Ich ging bald meinen eigenen Weg, zuerst in Kanada, wo ich unter anderem auf Baustellen jobbte, in einer Sägerei mithalf und als Verkäufer in einem Elektronik geschäft arbeitete. Später reiste ich südwärts und lebte längere Zeit an einem Ort. Doch irgendwann lief einiges schief, meine Beziehung ging in die Brüche – ich will mich gar nicht mehr an alles erinnern. Jedenfalls stand ich am Ende ohne Geld da. Ich schob dann an einem Flughafen für ein paar Cents so lange Gepäckwagen, bis das Geld für einen Flug zusammen war. Ich entschied, irgendwohin nach Europa zu ziehen, weit weg von dort, wo ich war, und kaufte ein One-way-Ticket nach New castle. In England angekommen, in Shorts, T-Shirt und ohne Geld, wollten mich die Behörden gleich wie der ins nächste Flugzeug nach Kanada setzen. Ein mittelloser Kanadier war nicht erwünscht. Schon er staunlich, gehört Kanada doch zum Commonwealth. Gerettet hat mich schliesslich mein Schweizer Pass; einen Schweizer ohne Geld liessen sie einreisen.

In dieser Zeit war ich in halb Europa unterwegs, bin mal kürzer, mal länger an einem Ort geblieben und habe meinen Lebensunterhalt immer wieder mit dem Ver kauf von Strassenmagazinen verdient, unter anderem in England und Schottland, in Hamburg, in Hannover und seit neun Jahren immer wieder mal in der Schweiz.

Im Moment verkaufe ich Surprise in Solothurn, wo ich auch wohne. Der Auslöser, weshalb ich in die Schweiz kam, war Covid-19. Ich war davor recht lange in England und hatte keinen festen Wohnsitz. In Winchester schlief ich ein Jahr lang meistens in einem Lift im FlughafenParking, in Brighton oft auf einem Baum. Auf Bäumen übernachten hat auch schöne Seiten. Denn jeder Baum, jede Umgebung ist anders, und man ist frei, im mer draussen an der frischen Luft. Ausserdem finde ich es interessant, was man von oben alles beobachten

kann. In der ersten Pandemiephase, während des Lock downs, habe ich die beste Zeit seit Langem erlebt. Das Wetter war immer schön, der Himmel blau und frei von Flugzeugen, es war alles so ruhig.

Doch dann war ich eines Tages unachtsam, fiel vom Baum und musste mit einem verletzten Rücken und einem gebrochenen Fussgelenk ins Spital. Bei der Entlassung fragten sie mich, wohin ich jetzt gehe, ich dürfe nicht mehr draussen leben. In England mussten in jener Zeit wegen ‹Stay at home› alle zwingend eine Unterkunft haben. Die Lösung, für mich und für viele andere Menschen ohne Wohnung auch, war schliesslich Wohnen im Hotel.

Im Februar 2021 hatte ich genug von England, dem Brexit-Theater und Corona-Regeln, deshalb machte ich mich auf den Weg in die Schweiz, wo ich mich wieder bei Surprise anmeldete. Wie lange ich noch bleibe, weiss ich nicht. Im Moment fühlt es sich hier gut an. Wenn ich Geld für ein Ticket hätte, würde ich auch gerne wieder einmal meine Familie in Kanada besuchen. Lange hatten wir kein gutes Verhältnis und kaum Kon takt, doch in letzter Zeit telefonieren wir wieder regel mässig. Das tut gut.»

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Neil Achermann, 43, verkauft Surprise in Solothurn und hat schon an vielen Orten auf der Welt gelebt – auch auf Bäumen. Aufgezeichnet FOTO: RUBEN HOLLINGER

SURPRISE WIRKT

Lebensfreude Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten Unterstützung Expertenrolle

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Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkäufer*innen des Strassenmagazins sowie die Stadtführer*innen, die Spieler*innen des Strassenfussballs und die Chormitglieder erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeiter*innen.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 450 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag.

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