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Buch

liche Formate genau dazu. Er hat zusammen mit einem Künstler innerhalb des Games Fortnite eine begehbare Serpentine Gallery gebaut. Dadurch waren Millionen von Gamern, die dort nie hingehen würden, virtuell in dem Ausstellungsraum. Obrist hat natürlich andere Kapazitäten, dafür stellen wir nun ein Team beim Strassenfussball-Turnier im Juni. Dahinter steht für uns ein ähnlicher Gedanke.

Wenn Sie beim Pizzaessen mit dem Schwarzen Peter ein paar Kunstbücher mitbringen würden, um sie an Menschen zu verschenken, die vielleicht nicht oft mit Kunst in Berührung kommen, welche wären das?

Ich habe bestimmte Publishers, die ich toll finde, zum Beispiel Conservative Books. Sie holen einen mit viel Humor und einer gewissen Unverschämtheit ab. Das ist sehr erfrischend – vielleicht gerade auch, wenn man selbst nicht nach der absoluten Norm lebt. Oder Calypso Press aus Kolumbien. Sie arbeiten mit Riso Druck, der ähnlich funktioniert wie die Siebdrucktechnik. Riso hat eine ganz bestimmte Ästhetik und ist eine Methode, mit der sich schnell und sehr günstig eine kleine Auflage herstellen lässt. Die Drucktechnik wird so quasi zur politischen Haltung, weil sie eine Möglichkeit der breiten Meinungsäusserung ist. In Lateinamerika ist das Publizieren als Kulturtechnik oft politisch aufgeladen. Die unabhängige «press» ist ein Sprachrohr zwischen Kunst und Aktivismus.

Ihnen geht es um das integrative Moment der Kunst, um Austausch, das Spiegeln von Gesellschaft. Gleichzeitig gibt es den Kunstmarkt, auf dem Milliarden von Dollars durch die Welt geschoben werden. Ich habe nie ganz verstanden, wie zwei Pole entstehen konnten, die dermassen weit voneinander entfernt sind.

Der Kunstmarkt funktioniert wie jeder andere Markt über Angebot und Nachfrage. Und bei der Kunst ist es nun mal so, dass damit spekuliert wird. Durch die aktiven Teilnehmer daran und das viele Geld, das in diese Wertanlagen – wozu Kunst in dem Moment wird – investiert wird, entstehen Spekulationsmechanismen und die Preise schiessen in die Höhe.

Strassenmagazine gehen immer wieder Kooperationen mit Institutionen ein, die nah am internationalen Kunstmarkt sind. So hat Gerhard Richter dieses Jahr nicht zum ersten Mal das Düsseldorfer Strassenmagazin fiftyfifty mit dem Erlös einiger Werke unterstützt, und die geheimnisumwitterte Künstler*innenliste der Documenta Kassel wurde im Strassenmagazin Asphalt publiziert. Die NZZ taxierte solche Aktionen als «merkwürdige Medienpartnerschaften». Was meinen Sie dazu?

Ich gehe davon aus, dass die Redaktionen dieser Magazine wissen, was sie tun, und traue ihnen den nötigen Verantwortungssinn zu. Ich selbst plädiere immer dafür, Austausch zu ermöglichen und unterschiedliche Welten zusammenzubringen. Aber es ist in Ordnung, wenn die NZZ das kritisiert. Denn der Diskurs dazu ist sicher wichtig. Wir selbst sind ein Verein und verdienen mit solchen Kooperationen kein Geld. Da halte ich die Gefahr für kleiner, dass man gegenseitig in seltsame Abhängigkeiten gerät.

«I Never Read», Art Book Fair Basel, 15. bis 19. Juni, Kaserne Basel, Klybeckstrasse 1b. ineverread.com

Apokalyptisches Szenario

Buch In «Das Jahr des Dugong» denkt John Ironmonger die Klimakatastrophe zu Ende und fragt nach der Verantwortung eines jeden von uns.

Als Toby Markham erwacht, ist es wie eine Wiedergeburt, verbunden mit peinigenden Schmerzen. Und alles um ihn herum ist merkwürdig, unverständlich. Menschen in schäbigen Kleidern umgeben ihn. Gestalten mit seltsamen Namen, die eine unbekannte Sprache sprechen und keinerlei Mitleid zeigen. Die Wände sind trist, das Essen eintönig, die Fenster ohne Glasscheiben. Telefone scheint es nicht zu geben. Und plötzlich tritt eine Anwältin auf, und er ist nur noch der Angeklagte. Was man ihm vorwirft, ist schwerwiegend. Komplizenschaft bei Terrazid und Genozid, mitschuldig am globalen Massensterben.

Anfangs hält Markham das Ganze für einen schlechten Scherz. Schlimmstenfalls ist er in die Hände fanatischer Umweltschützer*innen gefallen. Doch allmählich stellen sich Erinnerungen an sein früheres Leben ein. An ein Leben in Saus und Braus, als Vielflieger mit Vermögensverwaltung in London, Wohnort in Dubai und Skiferien im Val d’Isère. Aber auch an die letzte Strategiesitzung, an der ein apokalyptisches Szenario präsentiert wurde, Folgen einer Klimaerwärmung um 4 Grad Celsius. Doch den Vorschlag eines klimapositiven Vermögensportfolios lehnte er ab. Damit vergraule man nur die Klientel der Superreichen. Und dann Val d’Isère – und die Lawine.

Langsam begreift der Protagonist, dass das Jetzt die Welt nach der Apokalypse ist. Und dass er für die Verbrechen der Vergangenheit zur Verantwortung gezogen werden soll. Eine Vergangenheit, in der alle alles gewusst und es doch aus selbstsüchtigen Motiven ignoriert haben. So wie er, Toby Markham, der stellvertretend für alle zur Rechenschaft gezogen werden soll. Auf ihn wartet die Todesstrafe, langsam und qualvoll.

Das Szenario, das John Ironmonger in «Das Jahr des Dugong» entwirft, ist so radikal konsequent wie erschreckend realistisch. Und es stellt anhand des Schicksals des Protagonisten ganz allgemein die Frage nach der Verantwortung und der Schuld eines jeden. Wie würden wir auf eine solche Anklage reagieren? Wie uns rechtfertigen? Und was haben wir gegen die Katastrophe, auf die wir sehenden Auges zusteuern, unternommen?

Doch «Das Jahr des Dugong» ist mehr als nur ein apokalyptisches Schreckensbild. Denn Ironmonger stellt diesem ein versöhnliches Ende entgegen, einen melancholischen Abgesang voller Poesie. Das macht dieses lesenswerte und fesselnde Buch zu einem Plädoyer für die Schönheit der Schöpfung. Und zu einem Appell, die Augen zu öffnen, bevor es zu spät ist.

CHRISTOPHER ZIMMER

John Ironmonger: Das Jahr des Dugong – Eine Geschichte für unsere Zeit

S. Fischer 2021, CHF 22.90