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Corona

Durch die Maschen gefallen

Corona Die Hilfsmassnahmen des Bundes reichten nicht bei allen aus, um die Pandemie zu überbrücken. Oft sind Private und NGOs in die Lücke gesprungen.

TEXT ANINA RITSCHER ILLUSTRATION PETRA BÜRGISSER

Hinter Jolanda Becker* liegen bereits mehrere gesundheitliche Krisen, als sie im Herbst 2019 einen Neuanfang wagt. Sie kündigt ihren Job und macht sich mit einer eigenen Praxis als Körpertherapeutin selbständig. Kaum findet sie ihre ersten festen Kund*innen, bricht die Corona-Pandemie aus. Es folgen zwei Jahre, in denen Becker jeden Rappen umdrehen, Schulden aufnehmen und Hilfe beanspruchen muss. Und in denen das Geld trotzdem nur knapp zum Überleben reicht.

Becker ist damit nicht allein. Kurz nachdem der erste Lockdown verhängt wurde, versprach der Bundesrat unbürokratische Soforthilfe für alle Krisengebeutelten. Das Versprechen wurde zwar teilweise eingelöst. Doch nicht für alle war die Hilfe ausreichend. Vor allem Menschen mit niedrigem Einkommen, Selbständige und Arbeitnehmer*innen in prekären oder irregulären Verhältnissen sind während der Corona-Pandemie in eine finanzielle Notlage geraten. Eine Studie der nationalen Plattform für Armut im Auftrag des Bundesamts für Sozialversicherungen zeigt auf, dass Personen aus einkommensschwachen Haushalten während Corona durchschnittlich 20 Prozent ihres Einkommens verloren. Vier von zehn Menschen aus dieser Gruppe mussten auf Erspartes zurückgreifen und eine*r von zehn verschuldete sich. Surprise hat drei Personen getroffen, die während Corona durch die Maschen der Hilfsnetze gefallen sind.

Jolanda Beckers Geschichte beginnt bereits einige Jahre vor Corona. Im Jahr 2011 arbeitet sie in einer grossen Firma in Bern als Direktionsassistentin. «Ich war umgeben von Menschen, die grossen Wert auf ihre Karriere legten, für die Arbeiten alles war.» Becker macht mit – bis ihr Körper aufgibt. Sie schlittert 2011 in ein Burn-out und muss sich teilweise krankschreiben lassen. Sie wird von der IV unterstützt. «Viele in meinem Arbeitsumfeld konnten nicht nachvollziehen, dass ich, obwohl ich nicht todkrank aussah, nicht in der Lage war zu arbeiten.» Sie schämt sich, nicht voll leistungsfähig zu sein.

Erster Lockdown: Plötzlich in Not

«Irgendwann wollte ich mich wieder normal fühlen», sagt Jolanda Becker heute. Deswegen meldet sie sich damals bei der IV ab und reduziert stattdessen ihr Pensum. Doch ihr gesundheitlicher Zustand verbessert sich nicht. 2016 kündigt Becker ihren Job. Sie beginnt eine Ausbildung als Körpertherapeutin. Ende 2019 kann sie in einer Gemeinschaftspraxis ihre Arbeit aufnehmen. Als das Geschäft gerade zu laufen anfängt, wird der erste Lockdown verhängt, und sie die Praxis muss für sechs Wochen schliessen. Für Becker beginnt eine Zeit, in der sie sich von Nothilfe zu Nothilfe hangelt und durch einen Antragsdschungel nach dem anderen kämpft.

Zur selben Zeit steht auch Mathias Dettlings Restaurant «Manger et Boire» in der Basler Innenstadt auf wackligen Beinen: Corona trifft den Wirt und sein Team in einem Moment der Schwäche. Denn obwohl die Beiz gut läuft, sind kaum finanzielle Rücklagen vorhanden. Zum einen, weil Dettling und sein Geschäftskollege, als sie das Lokal vier Jahre zuvor übernahmen, auch einen Schuldenberg erbten. Und zum anderen, weil sie in die Sanierung der in die Jahre gekommenen Gaststätte investiert hatten. Den ersten Lockdown überlebt das «Manger et Boire» mithilfe von Versicherungsgeldern und Kurzar-

beitsentschädigungen. Als es im Sommer seine Türen unter strengen Pandemieauflagen wieder öffnen darf, bleiben jedoch die Gäste aus.

In diesem Frühjahr 2020, als alle zuhause sitzen und Reisen untersagt sind, bricht auch Ebe Mutabazis* Einkommen weg. Er arbeitet als selbständiger Taxifahrer im Kanton Zürich. Wenn die Strassen leer sind und das Telefon nicht klingelt, verdient Mutabazi keinen Rappen. Er beschliesst in dieser Zeit, Sozialhilfe zu beantragen, obwohl ihm das gegen den Strich geht. «In einer normalen Situation würde ich das nie machen», sagt er heute.

Zu gut weiss er um das Risiko, das Geflüchtete wie er auf sich nehmen, wenn sie Hilfe vom Staat in Anspruch nehmen. Wer ohne Schweizer Pass in der Schweiz lebt und von Sozialhilfe abhängig ist, kann seine Aufenthaltsbewilligung verlieren. Das befürchtet auch Mutabazi. Er ist vor zwanzig Jahren aus Ruanda in die Schweiz geflüchtet, hat drei Kinder, die er allein grosszieht. Die Familie lebt mit einem Status F als anerkannte Geflüchtete. Besonders den Kindern will Mutabazi das Risiko nicht aufbürden. Seit Jahren kämpft er dafür, dass seine Kinder eine reguläre Aufenthaltsbewilligung erhalten. «Ich will, dass sie ein Leben haben wie alle anderen Kinder.»

Doch die finanzielle Not ist gross und Mutabazi hofft, dass eine globale Gesundheitskrise die Schweizer Behörden ein Auge zudrücken lässt. Vergeblich: Wenn er wolle, dass seine Kinder die Aufenthaltsbewilligung erhielten, dürfe er keine Sozialhilfe beantragen, teilt ihm das Migrationsamt mit. Das stellt Mutabazi vor eine unmögliche Wahl: entweder Sicherheit für seine Kinder – oder aber Geld, um das Leben der Familie zu finanzieren. Er entscheidet sich für die Chance auf den Aufenthaltstitel für seine Kinder. «Ich habe drei Monate lang die Miete nicht bezahlen können. Es war eine schwierige Zeit», erzählt er.

Einen nächsten Versuch startet Mutabazi beim kantonalen Amt für Sozialversicherungen, wo er eine Corona-Entschädigung beantragt. Doch auch dort blitzt er ab: Sein Einkommen 2019 sei zu tief gewesen, um sich dafür zu qualifizieren. Dass er als alleinerziehender Vater drei Kinder betreut, interessiert beim Amt niemanden.

Während einige Selbständige im ersten Lockdown von der Coronahilfe ausgeschlossen sind, kommt sie für die Körpertherapeutin Jolanda Becker schnell. Doch die Hilfe beträgt nur rund 20 Franken pro Tag – bei weitem nicht genug, um alle Rechnungen zu bezahlen. Auch hier wird der Betrag aufgrund vergangener Umsätze berechnet, die bei Becker eher bescheiden ausfielen. Sie hat ihre Praxis ja gerade erst eröffnet.

Ab Herbst 2020 gelten folgende Kriterien: Das ursprüngliche Geschäft musste seit Beginn der Pandemie um 55 Prozent eingebrochen sein und mindestens 10 000 Franken jährliches Einkommen betragen, damit sich Selbständige für Erwerbsersatzentschädigung qualifizieren. Beides trifft auf Becker nicht zu. «Man ging davon aus, dass jemand wie ich sich auf ein Einkommen eines Partners verlassen kann», sagt sie heute. So kommunizierte es damals das Finanzdepartement. «Ich konnte mir schon in den Jahren vor der Pandemie nur das absolute Minimum leisten», sagt Becker. Schliesslich absolvierte sie in dieser Zeit ihre Ausbildung. Auch bei der IV klopft Becker erneut an – erfolglos. Da sie sich dort abgemeldet und ihre Situation sich nicht grundlegend verändert habe, habe sie ihren Anspruch auf Hilfeleistungen verwirkt, so die Argumentation. Aus Not und Verzweiflung fängt Becker im Herbst 2020 an, in einem Restaurant zu kellnern. Doch dann klettern die Infektionszahlen auf neue Höchstwerte und der Bundesrat verhängt einen zweiten Lockdown.

Zweiter Lockdown: Noch mehr Schulden

Anfang Dezember müssen erneut alle Gastronomiebetriebe schliessen, und Becker fällt wieder durch die Maschen des Systems. Sie war noch nicht lange genug in ihrer neuen Anstellung und erhält daher keine Kurzarbeitsentschädigung. Becker befindet sich in einer Zwickmühle: Kurzfristige Aushilfsjobs sind schwer zu finden,

und auf einen langfristigen Vertrag will sie sich nicht einlassen – es könnte ja sein, dass sie schon bald wieder in der Praxis oder wenigstens im Restaurant weiterarbeiten kann. Niemand weiss, wie lange diese Pandemie andauern wird. Erst einige Monate später erhält Becker Kurzarbeitsgelder, aber auch die fallen für Arbeitnehmer*innen im Stundenlohn, wie es Becker ist, tief aus.

Weil sie keinen anderen Ausweg sieht, wendet Becker sich an ihre Familie, die ihr ein privates zinsfreies Darlehen überweist. Sozialhilfe will sie erst beantragen, wenn sie alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hat. «Es fühlt sich nicht toll an, in meinem Alter nicht für seinen Lebensunterhalt sorgen zu können», sagt sie, die längst mitten im Leben steht, und seufzt. Auch deswegen will sie in diesem Text anonym bleiben.

Im Verlauf des Jahres 2020 wächst auch der Schuldenberg des «Manger et Boire» wieder an. Er wird dem Betrieb letztlich zum Verhängnis. Der Kanton Basel-Stadt unterstützt Gastronomiebetriebe nämlich nur unter der Bedingung, dass sie bis zum ersten Lockdown im Frühjahr 2020 weder unbezahlte Löhne noch offene Steuerrechnungen haben. Das «Manger et Boire» hat aber beides. Der zweite Lockdown im November 2020 gibt dem Lokal schliesslich den Rest. «Wir wussten: Entweder machen wir jetzt zu oder wir stehen in einem halben Jahr noch schlechter da.» Im Januar melden Mathias Dettling und sein Geschäftskollege Konkurs an.

Für das Personal sei das ein grosser Verlust, «wir waren wie eine Familie», sagt Dettling. Die Schliessung trifft auch die Freund*innen der Beiz, die ein traditioneller Treffpunkt für viele ist. «Unten in der Bar waren unsere Stammgäste, einige von ihnen kamen morgens und gingen abends», erzählt Dettling. Dazwischen trafen sich Studierende zum Kaffee, Berufstätige zum Mittagessen oder für das Feierabendbier. «Das ‹Manger et Boire› war eine Anlaufstelle: Man kam hin und es waren Menschen dort, die man kannte. Und wenn niemand da war, dann kannte man das Servicepersonal», sagt Dettling. Gewissen Stammgästen laufe er in Basel manchmal über den Weg. Andere habe er aus den Augen verloren.

Nachdem sich die Mietschulden bei Mutabazi über Monate angehäuft haben, meldet er sich beim Regionalverband des Schweizerischen Roten Kreuzes, welches zu dieser Zeit einen Corona-Fonds verwaltet. Das SRK übernimmt seine Schulden. «Das war für mich eine Brücke, um durch die schwierigste Zeit zu kommen», sagt Mutabazi. Im März 2022 zahlt sich sein Durchhaltevermögen endlich aus und Mutabazis Kinder erhalten die Aufenthaltsbewilligung für die Schweiz. «Ich kämpfe weiter, auch wenn es immer noch schwierig ist. Aber ohne Sozialhilfe, weil das mich und meine Familie blockiert», sagt er.

Dettling war nach der Schliessung seines Lokals ein halbes Jahr lang arbeitslos, bevor er im Service eines anderen Restaurants anfing. «Ein bisschen Nostalgie wird bleiben», sagt er. «Das ‹Manger› war uns eine Herzensangelegenheit.»

Im Herbst 2021, als ihre Reserven endgültig aufgebraucht sind, erfährt Jolanda Becker vom Projekt «Lohnteilen». Die Initiant*innen sammeln Geld und verteilen es an Menschen, die während Corona in eine prekäre finanzielle Lage gerutscht sind. Seit vergangenem Winter kann Becker ihre Rechnungen wieder ohne Unterstützung bezahlen.