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Graphic Novel

Wenn die Schnürlischrift wegbleibt

Graphic Novel «Starkes Ding» ist die Geschichte von Lika Nüsslis Vater. Die Künstlerin erzählt stilistisch eindrücklich von seiner Kindheit als Verdingbub.

TEXT DIANA FREI

Es fängt an wie eine friedliche Kindergeschichte. Die Verhältnisse sind zwar ärmlich, die Naturverbundenheit aber gross, der Bub hat eine lustige Frisur und ist immer gut gelaunt. Das Spiegelei muss er sich mit den Geschwistern teilen, dafür ist Zeit für einen Hosenlupf mit dem Bruder, und wenn der Vater wieder einmal weg ist, lässt er die Hühner fliegen. In Schnürlischrift und in einer Ich-Erzählung aus Kinderperspektive zeichnet Lika Nüssli eine in sich stimmige Welt.

Doch wir wissen, es wird die Geschichte eines Verdingbuben. «Ich wollte am Anfang klarmachen, in was für einem Kontext und in was für einer Situation das überhaupt stattfinden konnte», sagt Lika Nüssli. Sie zeigt eine soziale Realität der ländlichen Schweiz in den 1940er-Jahren. Nüssli stellt kein Leiden aus, sondern erzählt von einer Normalität.

Doch dann ist die Schnürlischrift plötzlich weg. Die Bilder zeigen keine Landschaften und keine zusammenhängenden Szenen mehr. Die Seiten sind leerer, die Zeichnungen werden zu fragmentierten Eindrücken. Ein Mund hier, ein paar Schalen da und eine Flasche auf dem Tisch. Einige Sprechblasen. Ein Mann ist hergekommen, «Schweizer mein Name», er könnte eine Hilfe gut gebrauchen, «zum Poschtä», seine Frau habe einen bösen Fuss. Es sind Details, wie sie sich in der Erinnerung einbrennen.

Hier geschieht eine erzählerische Zäsur, ein Bruch mit der wilden Kindheit vom Anfang. Plötzlich ist die Stille da, der Rhythmus verändert sich, ein paar Überlegungen und Argumente gehen hin und her, und dann heisst es: «Also in dem Fall der Ernst.»

Er kommt zu Schweizers: Die Frau, pars pro toto, ist der böse Fuss, der Mann eine Schnapsflasche mit Gesicht. Es sind subtile Einordnungen, die Nüssli wie nebenbei setzt. Ernst, der Bub, denkt sich: «Ui, die ist

sicher froh, hat sie jetzt öpper zum Poschtä.» Er versucht sich innerlich zu schützen, indem er seine neue Rolle ausfüllt, und hält die Behauptung aufrecht, dass das Verdingtsein normal ist: In seiner Schulklasse sind sie zu viert. Nur einmal fragt er sich, wieso die Eltern ausgerechnet ihn weggeschickt haben– ob er wohl der frechste Schlingel gewesen sei. Oder der mit dem grössten Hunger.

Lika Nüssli setzt ihre Stilmittel bewusst, schafft Struktur und einen Erzählrhythmus, indem sie die comichaften Elemente immer wieder auf neue Art einsetzt. «Als Ernst von zuhause weg muss, beginnt für ihn eine andere Art von Wirklichkeit. Mir ist wichtig, dass man da auch die Differenz zu einer vorangegangenen Struktur spürt.» Es folgt ein Übergang ins Alptraumhafte, ein Gefühl des Stürzens auf grossformatigen Flächen, abwärts, bis die Seite nur noch schwarz ist. «Starkes Ding» erzählt zunächst ein fortlaufendes Jahr, danach folgen vier weitere. «Diese Jahre blieben praktisch gleich. Es war eine Sisyphusarbeit, die mein Vater immer wieder erledigen musste», sagt Nüssli. «Deshalb habe ich sie zusammengerafft in Tableaux, in denen sich die Szenen überlagern. Es sind Alpträume, aus denen man nicht mehr ausbrechen kann.»

Lika Nüssli: «Starkes Ding»,

Edition Moderne 2022, CHF 35.–