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Obdachlosigkeit

78,7 %

der obdachlosen Menschen in Lausanne sind Sans-Papiers

Schweizweit sind es 61,1 %

Obdachlosigkeit Erste landesweite Erhebungen geben einen Eindruck von der Lage der Ärmsten in der Schweiz. In Lausanne sind vier von fünf obdachlosen Menschen Sans-Papiers.

Gefangen im Teufelskreis

Wer keine Papiere hat, findet keine reguläre Arbeit. Ohne Arbeit kein Einkommen, ohne Einkommen keine Wohnung. Gegen diese Gleichung konnte Lamya B. sich bisher wehren.

TEXT LEA STUBER

Seit Monaten nimmt sie jetzt nur noch Tag für Tag, und dieser Tag ist einer, der ihr ein paar Franken einbringt. Ein Bekannter zieht um, sie putzt seine Wohnung, drei Stunden à 20 Franken. Die Miete für den März konnte sie zahlen. Für den April aber noch nicht, für den Mai und Juni auch nicht. Drei Monate ist sie in Verzug, 3000 Franken, und weil ihr Mitbewohner gerade ausgezogen ist, muss sie für den Juni auch seinen Anteil übernehmen, plus 1000 Franken.

Lamya B.*, helle Bluse, dunkler Blazer, erzählt so lange von den grossen Plänen, die sie einmal hatte, bis auch ihr zweiter Kaffee kalt vor ihr steht, und sagt dann: «Voi là, ich habe Angst.» In den Augen Tränen. Für welche Jobs sie sich denn interessiere? Sie habe aufgehört, sich diese Frage zu stellen, sie brauche einfach ein regelmässiges Einkommen, mit dem sie Miete und Rechnungen für die Sonderschule ihres Sohnes zahlen könne. Sonst stehe sie «sehr, sehr bald» auf der Strasse. Lamya B., gut 40 Jahre alt, wohnt seit drei Jahren ohne Aufenthaltsbewilligung in Lausanne.

Im Kanton Waadt leben 9000 bis 15 000 Sans-Papiers, in der Schweiz je nach Schätzung 80 000 bis 300 000. Die Mehrheit arbeitet in der Landwirtschaft, in Privathaushalten, auf dem Bau oder in der Hotellerie. In keiner anderen Bevölkerungsgruppe ist das Risiko so hoch, obdachlos zu werden. 61,1 Prozent der obdachlosen Menschen in der Schweiz sind Sans-Papiers, in Lausanne sogar 78,7 Prozent, wie eine Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz zeigt.

Am Anfang scheint für Lamya B., autodidaktische Unternehmensberaterin, vieles möglich. In Tunesien hat sie eine eigene Dienstleistungsfirma, spezialisiert auf Rechnungsprüfung, Consulting und Telemarketing. Ihre Kunden sind ausländische Unternehmen, besonders aus der Schweiz. Infolge der Revolution 2011 verliert sie 90 Prozent ihrer Kund*innen. Die Schweiz, so ihr Eindruck, ist ein Markt voller Potenzial.

Primär für Schweizer*innen

2016 kommt sie, die neben Arabisch früh Französisch und Englisch lernte, für einige Wochen in die Schweiz, eingeladen von einem Kunden, 2017 zum zweiten Mal. Sie arbeitet in diesen Wochen in der Versicherungsbranche, im Jahr darauf im Steuerwesen. Ihr Sohn Maher* bleibt bei ihrer Mutter und Schwiegermutter in Tunesien, von ihrem Mann ist Lamya B. heute geschieden.

Sie will Maher Sicherheit und Lebensqualität bieten, beides sieht sie in Tunesien seit der Revolution nicht mehr. In der Kita erlebte Maher sexualisierte Gewalt, sie selber war, auf ein Taxi wartend, Zeugin eines Überfalls mit einem Messer. Und Maher ist anders als die anderen, das führt zu Schwierigkeiten. 2018 besucht sie die Schweiz mit ihm. In diesen Wochen lernt er, damals fünf Jahre alt, im Park mit anderen Kindern zu spielen, mit ihnen zu sprechen. Dinge, die er in Tunesien nicht tat. Später, ebenfalls in der Schweiz, wird bei Maher Asperger-Syndrom und Hochbegabung diagnostiziert. «Anders sein, das wird hier im Schulsystem akzeptiert. In Tunesien aber nicht.» In der Schweiz geht Maher in die Schule und bekommt zusätzlich Integrationshilfe, eine Heilpädagogin und einen Kinderpsychiater.

Für Lamya B. ist klar: Jemanden heiraten, nur um Papiere zu bekommen, will sie nicht. Und Asyl zu erhalten ist aussichtslos. «Unabhängig zu sein, war meine einzige Möglichkeit», sagt sie. Sie hat eine Geschäftsidee, zwei Geschäftspartner und einen Businessplan für eine Finanz- und Anlagegesellschaft. 2017 stellt sie ein Gesuch für eine Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung. Das Arbeitsamt lehnt ab. Die Begründung: Sie stamme aus einem Drittland. «Der Arbeitsmarkt, hiess es, ist in erster Linie für Schweizer*innen und Europäer*innen reserviert.» 2018 stellt sie ein zweites Gesuch, auch dieses wird abgelehnt. Aufgeben will Lamya B. aber nicht.

Als sie und Maher, heute neun Jahre alt, im Sommer 2019 mit einem Visum wieder in die Schweiz einreisen, findet Lamya P. in Lausanne eine Wohnung, drei Zimmer zur Untermiete. Sans-Papiers haben keine Möglichkeit, auf ihren Namen einen Mietvertrag zu unterschreiben. So wohnen etliche Personen in Wohnungen, deren Vertrag andere

City Card

Das Leben von Sans-Papiers könnte mit einer City Card, einem offiziellen Ausweis für alle Menschen, die in der Stadt leben, vereinfacht werden. Seit 2015 erhält, wer in New York lebt, unabhängig vom Aufenthaltsstatus die «City ID» und kann damit beispielsweise einen Mietvertrag abschliessen. Am 15. Mai hat die Stadt Zürich mit 51,7 Prozent für die Züri-City-Card gestimmt, die nun in einem nächsten Schritt ausgearbeitet wird. In anderen Städten wie Basel, Bern, Biel, La Chaux-de-Fonds, Fribourg, St. Gallen oder Winterthur werden ähnliche Projekte vorangetrieben. Auch das Lausanner Parlament diskutiert über eine City-Card.

59,3 %

der obdachlosen Sans-Papiers kommen aus Rumänien, Nigeria, Algerien, Marokko, Frankreich

Personen, die als Hauptmieter*innen fungieren, unterschrieben haben. Lamya B. leitet schwarz einen Kleiderladen, zehn Stunden pro Tag, sechs Tage pro Woche, und verdient 2500 Franken.

Alleine kann sie sich die Wohnung für 2000 Franken nicht leisten. Eine erste Mitbewohnerin zieht ein und wieder aus, weitere Mitbewohner*innen folgen. Sie kommen aus Frankreich oder auch aus Ar- gentinien oder Marokko.

Jedes Mal, wenn ein*e Mitbewohner*in auszieht, kommt auf Lamya B. eine stressige Zeit zu. Maher fällt es nicht leicht, sich auf neue Menschen einzulassen, und viele bevorzugen eine WG ohne Kinder. Und doch muss sie schnell eine neue Person finden, die einen Teil der Miete bezahlt. Ein Mitbewohner raucht im Zimmer Gras, ein anderer ist eines Tages weg, schreibt eine Nachricht, dass er die Miete nicht mehr zahlen könne.

Den Job im Kleiderladen verliert Lamya B. nach einem Jahr. Sie zerstreitet sich mit ihrem Chef. Er wirft ihr vor, sie zu betrügen, sie wirft ihm vor, den Lohn und die AHV-Beiträge nicht vollständig zu zahlen. Weil sie gültige tunesische Ausweis papiere hat, kann Lamya B. sich bei der AHV melden, nicht aber Sozialhilfe beziehen, denn dafür bräuchte sie eine Aufenthaltsbewilligung.

Das Geld, das sie auf der Seite hat, reicht für einen, zwei Monate, und sie ist optimistisch, etwas zu finden. Ihr neuer Job: Als Putzkraft und Betreuerin arbeitet sie bei drei älteren Menschen zuhause. Daneben macht sie zehn Stunden pro Woche das Sekretariat eines Bauunternehmens.

Als im Frühling 2020 die Pandemie kommt, sagen ihr die Senior*innen ab, aus Angst vor Ansteckung. Und auf den Baustellen wird weniger gearbeitet. So braucht das Bauunternehmen Lamya B. im Sekretariat nicht mehr. Der Chef schuldet ihr noch immer 1500 Franken, auch die AHV-Beiträge hat er nicht bezahlt. «Wenn du in einer guten Situation bist, respektieren dich die Menschen», sagt Lamya B. «Aber wenn du keine Papiere hast, zahlen sie dich nicht, beleidigen dich und urteilen über dich.»

Weil sie nie ein Asylgesuch gestellt hat, erhält sie keine Nothilfe. Über Monate zahlt die Caritas Lamya B.s Teil der Miete, sie bekommt Lebensmittelgutscheine und von der Stiftung Mère Sofia und vom Verein Solid-ère einen Lebensmittelkorb. Am Anfang unterstützen sie auch Freund*innen finanziell. «Ich bin mir nicht gewohnt, um Hilfe zu fragen», sagt Lamya B., «das hat mich sehr deprimiert.» Manchmal kann sie bei Freund*innen im Haushalt kleinere Arbeiten übernehmen oder Essen für Apéros kochen, für kurze Zeit bietet sie über soziale Medien tunesische Spezialitäten an. Nach einem Jahr – gerade als ihr Mitbewohner unverhofft auszieht – läuft auch die finanzielle Unterstützung durch die Caritas im Juli 2021 aus. «Da wurde es wirklich schwierig.» Seither rackert sie sich ab, um ihren Teil der Miete zahlen zu können. Und nachzuzahlen, was sie noch nicht zahlen konnte. Einmal etwa bezahlte eine Politikerin, die sie von einer Hilfsorganisation kennt, ihre Miete.

Ende 2021 erhält Lamya B. einen Anruf von ihrer Untervermieterin, der Hauptmieterin der Wohnung. Sie bittet sie, entweder eine*n Nachmieter*in zu suchen oder auszuziehen, dann würde sie den Mietvertrag bei der Verwaltung kündigen.

Bloss die Wohnung behalten

Lamya B. meldet sich bei der AVSL, einem Waadtländer Verein, der Menschen ohne Zugang zum Sozialdienst gezielt zu unterstützen versucht, damit sie ihre Wohnung behalten können (siehe Interview Seite 21). Ein AVSL-Mitarbeiter schaut sich den Mietvertrag an und spricht mit Lamya B.s Vermieterin, der Hauptmieterin der Wohnung. Diese vermietet Lamya B. die Wohnung teilmöbliert unter, mit einem Tisch, Sofa, Schrank und Fernseher. Sie darf dafür maximal 20 Prozent mehr Miete verlangen, was sie auch nicht überschreitet. Wäre der Aufschlag höher gewesen, hätte die AVSL die Vermieterin bitten können, die Miete zu senken und den zu hohen Anteil zurückzuerstatten. Für die AVSL-Mitarbeiter*innen ein Hebel, mit dem sie den Untermieter*innen häufig Erleichterung verschaffen können. Nicht aber in diesem Fall.

Kurz darauf schreibt Lamya B.s Vermieterin, sie solle kündigen. «In diesem Moment», sagt Lamya B., «hatte ich Panik.» Sie kann aber nicht von einem auf den anderen Tag auf die Strasse gestellt werden, denn