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«Die Rechte aus dem Mietvertrag gelten für alle»

auch für Untermietverträge gelten Kündigungsfristen, für eine ordentliche Kündigung sind das drei Monate.

Lamya B.s Ziel ist nun, die Wohnung mindestens bis zu den Schulferien im Juli behalten zu können. Damit Maher nicht aus seiner Klasse gerissen wird. Besser wäre es, wenn sie noch ein Jahr bleiben dürften – so könnte Maher ein weiteres Schuljahr bei seinen Freund*innen und Bezugspersonen bleiben, bevor die Klasse sowieso aufgeteilt wird. Zusammen mit der AVSL hat Lamya B. bei karitativen Organisationen und einer privaten Stiftung um finanzielle Unterstützung angefragt. Und was, wenn sie die Wohnung doch verliert? Nicht morgen, aber in den nächsten Monaten? Notschlafstellen wie das Sleep-In in Renens werden von vielen Sans-Papiers genutzt (siehe Surprise Nr. 525). Auch Kinder dürfen dort, wenn sie begleitet sind, übernachten, Frauen haben eine eigene Etage. Viele der Sans-Papiers, die seit Jahren in der Notschlafstelle übernachten, sind aber Männer über 60.

«Maher», sagt Lamya B., «muss wissen, was am Abend und am nächsten Morgen passiert. Eine Notschlafstelle könnte ihm nicht die Stabilität bieten, die er braucht.» Nun sucht sie nach anderen Lösungen, fragt Vereine an, die Zimmer anbieten. Vor allem aber will Lamya B. Zeit gewinnen. Zeit, in der sie doch noch einen Job finden kann. Am einfachsten wäre das in der Gastronomie. Doch dort werden vor allem Mitarbeiter*innen für den Abend gesucht. Das lässt sich kaum mit dem Stundenplan ihres Sohnes vereinbaren. Und wenn sie die Anzeigen für Putzkräfte in Privathaushalten durchgeht, wird nun meistens nach dem Aufenthaltsstatus gefragt.

Würde Lamya B. an diesem Tag nicht die Wohnung eines Bekannten putzen, so würde sie als Freiwillige beim Espace Solidaire das Mittagessen kochen. Bei einer anderen Organisation ist sie für die Lebensmittelspenden verantwortlich und bei einer Kirche organisiert sie ein Nachmittagsprogramm für Senior*innen mit. Die Freiwilligenarbeit tue ihr psychisch und sozial gut, sagt Lamya B. Und Maher, der ein absolutes Gehör hat, lernt teils unterstützt durch eine Stiftung am Konservatorium Cembalo und besucht eine Rhythmikklasse, die kostenlos ist. «Maher geht es besser und besser», sagt Lamya B. «Aber ich fühle mich jeden Tag schuldig, dass ich keine langfristige Lösung für ihn finden kann.»

Sans-Papiers können sich nicht an öffentliche Institutionen wenden, wenn sie mit ihrer Wohnsituation Probleme bekommen. Seit gut einem Jahr füllt der Verein AVSL im Kanton Waadt diese Lücke.

INTERVIEW LEA STUBER

Sarah Loor Bravo, die AVSL wurde im Dezember 2020 gegründet. Aus welcher Motivation?

Sarah Loor Bravo: In der Pandemie verloren viele Menschen ihre Jobs und hatten Mühe, die Miete zu zahlen. Menschen mit Aufenthaltsrecht können sich zum Beispiel an den Sozialdienst wenden. Wer aber ohne Aufenthaltsrecht ist, hat keinen Zugang. Erst wurde in Genf ein Verein gegründet, um auch diesen Menschen bei Wohnproblemen zu helfen, danach im Kanton Waadt die AVSL.

Wie viele von denen, die sich an Sie wenden, sind Sans-Papiers?

Am Anfang waren es fast keine. Es meldeten sich Menschen, die ein Aufenthaltsrecht haben, allerdings ein prekäres. Etwa eine vorläufige Aufnahme (F) oder eine Aufenthaltsbewilligung (B) seit weniger als einem Jahr. Wenn sie zum Beispiel Sozialhilfe beantragen, kann dies die Erneuerung ihres Ausweises gefährden. Darum wollen viele nicht zum Sozialdienst der Stadt Lausanne. Inzwischen kommen mehr Sans-Papiers, viele sind Frauen mit Kindern.

Wie geht die AVSL konkret vor, wenn Menschen ihre Miete nicht mehr zahlen können?

Sobald eine Person mit ihrer Miete einen Monat im Rückstand ist und danach nicht innerhalb von 30 Tagen zahlt, kann die Verwaltung ein Räumungsverfahren einleiten. Manche Verwaltungen tun das sofort, andere sind kooperativer. Für uns gibt es zwei Wege, um eine Zwangsräumung zu verhindern. Erstens müssen die ausstehenden Mieten bezahlt werden. Für finanzielle Unterstützung kontaktieren wir Organisationen wie die Caritas, das Centre Social Protestant oder – bei Menschen, die Anrecht darauf haben – den Sozialdienst von Lausanne. Normalerweise geht es um eine bis drei Mieten.

Und der zweite Weg?

Wir erklären den Hauptmieter*innen, also denen, die das Zimmer oder die Wohnung untervermieten, welche Pflichten sie dabei haben. Wir fragen sie nach dem Mietvertrag, um herauszufinden, ob sie zu viel draufschlagen und Gewinn machen. Ist dies der Fall, verhandeln wir eine Senkung der Miete. Man könnte auch vor die Schlichtungsstelle gehen, das ist kostenlos und unabhängig vom Aufenthaltsstatus der Untermieter*in – denn diese haben die gleichen Rechte wie Mieter*innen. Die Rechte aus dem Mietvertrag gelten für alle. Das wollen viele Sans-Papiers aber nicht. Sie haben Angst, dass sie – falls sie eines Tages einen Ausweis beantragen, etwa mit der Härtefallregelung – deswegen Probleme bekommen. Manchmal gehen wir auch zur Verwaltung. Dann wird es kompliziert, denn diese Untervermietungen sind illegal – die Verwaltung gab ihr Einverständnis normalerweise ja nicht, und es kann für die Verwaltung Grund für eine Kündigung sein. Wenn wir mit den Hauptmieter*innen keine Lösung finden, suchen viele Sans-Papiers lieber etwas anderes.

ZVG

FOTO: Sozialarbeiterin Sarah Loor Bravo, 40, arbeitet als Koordinatorin bei der AVSL, der Association vaudoise pour la sauvegarde du logement des personnes précarisées. Der Verein unterstützt im Kanton Waadt Menschen mit und ohne Aufenthaltsrecht, damit sie ihre Wohnung behalten können.