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Im Wandel der Zeit Die Solothurner Filmtage sind ein Filmfestival mit Werkschaucharakter. Und damit immer auch ein bisschen Abbild eines Gesellschaftszustandes. TEXT DIANA FREI

Letzten August wurde bekannt, dass die im Vorjahr eben erst angetretene Direktorin der Solothurner Filmtage Anita Hugi ihren Posten unfreiwillig schon wieder räumt. Die genauen Hintergründe blieben unklar, von Strukturproblemen und einem internen Konflikt mit ihren Mitarbeitenden war die Rede. Dieses Jahr teilen sich Marianne Wirth und David Wegmüller die künstlerische Leitung interimistisch, ergänzt durch die administrative Leiterin Veronika Roos. Wirth ist als Attachée de programme seit 2017 unter anderem Ansprechpartnerin für die Filmschaffenden, Wegmüller Programmleiter der Sektion «Rencontre». Die Stellen werden ab der nächsten Ausgabe neu besetzt, das Modell der Co-Leitung – aufgeteilt in eine künstlerische und eine administrative Leitung – damit auch regulär eingeführt. Aber nach Hugis unschönem Abgang drängt sich die Frage auf: Wie viel Gestaltungsfreiraum bietet sich eigentlich in der Leitungsposition? Die Werkschau hat eine Tradition von über fünf Jahrzehnten, Vorstandsmitglieder fallen durch lange Amtszeiten auf: Ist da frischer Wind ein Problem? «Nein, überhaupt nicht. Gestaltungswille ist auf jeden Fall wichtig. Gerade in der Art und Weise, wie wir mit Gesprächsreihen versuchen, die Filme in ihrem Kontext und ihrer grösseren Bedeutung zu sehen, gibt es grossen Freiraum», sagt die derzeitige Co-Leiterin Wirth. «Das Spezielle an den Filmtagen ist aber, dass sie auch von den Schweizer Filmschaffenden selbst gegründet wurden, und das spürt man bis heute. Man muss von der Vorstellung wegkommen, dass eine Person alleine die Filmtage gestaltet. Das war noch nie so und wird es künftig mit der dualen Leitung noch viel weniger sein.» Wirth spricht gern von Schwarmintelligenz, von der Schwarmidee. Die Solothurner Filmtage sind, wie jedes andere Festival 24

auch, Teamwork, es ginge ja gar nicht anders. Bei den Filmtagen kommt aber noch etwas dazu: Sinn und Zweck des Anlasses. Nämlich, den aktuellen Schweizer Film so repräsentativ wie möglich abzubilden und auch ein Stück weit die Filmgeschichte lebendig zu halten (gerade in Sektionen wie den «Histoires du cinéma suisse», siehe S. 22). Die Filmtage haben Werkschaucharakter und deswegen, sagt Wirth, könne man sich in Solothurn zum Beispiel nicht auf bestimmte Genrevorlieben, Erzählstile oder Ästhetiken festlegen. «Hier kann sich ein anderes Festival stärker positionieren, indem es sich auf bestimmte Formen oder Inhalte fokussiert. Die kuratorische Arbeit kann da enger definiert sein. Unser Auftrag ist aber ein anderer. Wir schauen alle Filme mit der gleichen Offenheit an und selektionieren dann. Deshalb reden wir von der demokratischen Leinwand. Das ist ein Unterschied zu anderen Festivals wie Locarno oder dem Zurich Film Festival ZFF.» Ausbildungen spät institutionalisiert Dieses Jahr werden 78 von 150 eingereichten Langfilmen gezeigt. Immer wieder mal haben sich in den vergangenen Jahren gerade ältere Filmemacher*innen empört, wenn ihr aktueller Film nicht selektioniert wurde. Schliesslich gehörte man seit fünfzig Jahren zur Branche. Das ist insofern verständlich, als es vor fünfzig Jahren noch tatsächlich so war: Es hatte Platz für alles. Die Filme entstanden analog, es wurden daher sehr viel weniger Filmminuten produziert und die Gilde der professionellen Filmemacher(*innen) war überschaubar. Aber die Zeiten ändern sich. In den 1980er-Jahren kamen Videoformate auf, später wurden auch hierzulande Filmstudiengänge aufgebaut. Zwar existierte bereits von 1967 bis 1969 mit den Filmarbeitskursen an der Kunstgewerbeschule Zürich erstmals eine Ausbildung, in der Autor*in-

nen wie Clemens Klopfenstein, Jacqueline Veuve, Luc Yersin, Markus Imhoof, Roman Hollenstein oder Jürg Hassler (der dieses Jahr als «Rencontre»-Gast in Solothurn ist) ihre Erstlinge realisierten. Danach gab es aber erst wieder ab 1992 eine Weiterbildungsklasse Film/Video an der damaligen Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich HGKZ, 2005 wurde ein Studiengang Film eingeführt. Davor kam vieles informell zustande – was gerade den Karrieren von Frauen auch hinderlich sein konnte. Die Schweiz als Koproduktionsland Bei der ersten Ausgabe 1966 hiessen die Filmtage «Tagung Schweizer Film heute», organisiert wurden sie von der Filmgilde Solothurn, mit fast tausend Mitgliedern einer der grössten Filmklubs der Schweiz. Hier wurde der neue Schweizer Autorenfilm ausgerufen, Vorstandsmitglied Stephan Portmann schrieb in der NZZ voller Aufbruchsstimmung: «Der neue Film wird unsere Wirklichkeit als Rohmaterial gebrauchen. Nicht aber die des 19. Jahrhunderts, in dem der Schweizer Film hoffnungslos steckengeblieben ist. Er wird Migros-Läden, Akkordarbeiter, Bauern als landwirtschaftliche Unternehmer, Handwerker als Betriebsleiter von industriellen Filialen, die seelische und materielle Wohlstandsarmut, er wird die Gleichschaltung der Assoziationen durch die Massenmedien zeigen.» Anfang der 1980er-Jahre wurde an den Filmtagen erstmals eine Auswahlkommission für die Selektion der Filme eingesetzt. «Das war ein Wendepunkt», sagt Marianne Wirth. «Die Kommission hat man eingesetzt, weil man die Menge an Einreichungen anders gar nicht mehr hätte bewältigen können. Man hat damit auf den technischen Wandel reagiert.» Heute kann man Film kaum mehr innerhalb von Landesgrenzen denken. Wie reagiert eine Schweizer Werkschau darauf? Surprise 516/22


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