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Tour de Suisse

Pörtner in Bern

Surprise-Standort: Casinoplatz, Bern Einwohner*innen: 133 883 Sozialhilfequote in Prozent: 4,6 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 16,6 Anzahl Casinos in der Schweiz: 21

Schon bei der Anreise, der ersten Zugfahrt seit Ausbruch der Corona-Pandemie, lerne ich eine neue Art von Menschen kennen: den Nasenraushänger, in dem Fall ohne Sternchen, denn es sind ausschliesslich Männer, schnäuzende, hustende, die ihre Maske nur für den Kondukteur kurz über den Zinken ziehen.

Hoch über dem Casinoplatz mitten in Bern weht die Fahne von – geraten –Venezuela oder Ecuador (gegoogelt: Ecuador). Vorne befindet sich ein Laden für Foto und Video. Zwei Sparten, die es nicht einfach haben. Solche Geschäfte verschwinden zusehends aus den Innenstädten. Mit einem Klappständer weist die Stadt auf eine betreute WCAnlage hin. Daneben verbreitet eine französische Edelboutique Pariser Charme. International und mondän, wie es zu einem Casino gehört. Etwas deplatziert wirkt da die seriöse Universitätsbibliothek, die wohl auch Werke zur Spieltheorie oder zum Casinokapitalismus im Sortiment hat.

Die Plakatständer wirken ziemlich verloren, als hätte sie jemand hier abgestellt, um sie später an ihren Bestimmungsort zu bringen. «Rassismus ist auch ein Virus», steht auf einem Plakat. Eine beunruhigende Vorstellung, eines Tages von diesem Virus befallen zu werden und dann solange Rassist zu sein, bis man genug Antikörper entwickelt hat. Ob sich dabei Frühsymptome wie ein Hang zum Herrenmenschentum zeigen? Ist ein entsprechender Impfstoff in Entwicklung und werden Impfgegner*innen dagegen protestieren und behaupten, Rassismus sei natürlich und stärker als das Immunsystem?

Wieder in Gang gekommen, wenn auch bescheiden, ist der Tourismus, es sind fremde Sprachen zu hören. Die langen Bänke sind bis auf eine unbesetzt, dort verzehren Teenager Fastfood. Teenager sind die treuesten Bankkund*innen. Ein Mann wäscht sich an dem Brunnen, an dem sich Trinkflaschen nur von denjenigen füllen lassen, die über lange Arme verfügen. Zwei Velofahrerinnen haben den Haarschmuck, grün bzw. orange, auf die Farbe ihres Fahrzeugs abgestimmt. Eine knapp meterhohe rotweisse, viereckige Säule steht etwas verloren da neben einem Paar verschlungener Beine aus Bronze.

Ein Auto und ein Roller fahren mitten auf den Platz und warten auf irgendetwas. Ein telefonierender Mann, eine ins Handy vertiefte und eine in der Tasche wühlende Frau, sie alle warten auf irgendetwas. Zwei Hunde an langen Leinen treffen sich und können doch nicht zueinander. Die Leine des einen versperrt zwei Joggern den Weg. Der Hund hat unter der Steinbank etwas zu fressen entdeckt, das andere Ende der Leine schaut ins Handy. Zwei Frauen reichen sich zur Begrüssung die Füsse.

Ein Mann mit einer Tasche, in der sich unschwer zu erkennen ein Alphorn befindet, fährt auf dem Velo vorbei. Die Polizei fährt heran und begutachtet ein verlassen herumstehendes Auto. Es kommt das von dem telefonierenden Mann erwartete Lieferauto, und auch der Besitzer des von der Polizei betrachteten Wagens erscheint und fängt sich eine Busse ein. Die Mahnung des Polizisten an den Gebüssten, er möge das Licht einschalten, ignoriert dieser. Es ist ein alter Mann mit einer tiefen Nummer, der sich nicht sagen lässt, wie er autozufahren hat.

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.