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Surprise-Porträt

«Wie sehr mir die Kontakte fehlten, merkte ich im Lockdown»

«Ich bin in Eritrea geboren und aufgewachsen in einer Zeit, als das Land eine Provinz von Äthiopien war. Davor war es bis zum Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang eine italienische Kolonie, und noch viel früher gehörte Eritrea 300 Jahre zum Osmanischen Reich. Als der eritreischen Bevölkerung in den Fünfzigerjahren mehr und mehr politische Rechte genommen wurden, bildeten sich verschiedene Widerstandsbewegungen, die für die Unabhängigkeit der Provinz Eritrea kämpften.

Ich erzähle das alles, um zu erklären, weshalb ich und viele Gleichaltrige bereits mit vierzehn in die Militärschule eintreten und mit achtzehn als Soldaten Dienst leisten mussten. Wir hatten keine Wahl und mussten auch nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges 1991 und der offiziellen Gründung des Staates Eritrea 1993 weiterhin im National Service bleiben. Ich selbst war jahrelang an der Grenze zu Äthiopien stationiert, die es zu verteidigen galt. Im Jahr 2000, nach fünfzehn Jahren im Militär, landete ich im Gefängnis – anscheinend hatte ich die falschen Fragen gestellt.

Erst zwei Jahre und acht Monate später gelang mir die Flucht. Als Deserteur musste ich mich im Ausland in Sicherheit bringen. Es gelang mir, die Grenze zum Sudan zu überqueren. In Khartum lernte ich eine Eritreerin kennen, die schon länger im Sudan lebte. Weil das Leben für Ausländer*innen im Sudan schwierig ist, wollten wir nach Europa. Nach der Durchquerung der Sahara hatten wir aber kein Geld mehr für die Weiterreise, so blieben wir in Libyen. Ich fand rasch eine Arbeit als Hauswart und Wachmann, doch wir wurden drei Mal von Schleppern betrogen. Sie nahmen unser Geld für die Überfahrt, danach waren sie verschwunden. So kam es, dass wir am Ende mehr als fünf Jahre in Libyen lebten, wo 2005 auch unsere Tochter geboren wurde.

Im August 2008 schafften wir es schliesslich auf ein Boot nach Italien. Dort angekommen, machten wir uns auf den Weg in die Schweiz, weil ich viel Gutes über dieses Land und die vielen internationalen Organisationen in Genf gehört hatte. Im Kanton Bern landeten meine Frau, meine Tochter und ich eher zufällig. Bereits in der Flüchtlingsunterkunft fing ich an, Deutsch zu lernen, damit ich hier gut zurechtkomme und leichter Arbeit finde. Später machte ich einen Kurs zur Arbeitsintegration mit verschiedenen Schnuppereinsätzen. Ich freute mich auf das Praktikum als Hauswart, weil ich darin schon Erfahrung hatte. Leider endete

KLAUS PETRUS FOTO:

Ramadan Mohamed, 49, musste mit vierzehn ins Militär, floh in die Schweiz und wäre dort gern Hauswart geworden.

es in einer grossen Enttäuschung: Der Chef meinte, mit meinen Rückenproblemen könne ich den Hauswartjob vergessen. Und er hatte recht. Seit dem Militärdienst, speziell seit den Schlägen im Gefängnis, plagen mich starke Rückenschmerzen. Ich wurde daraufhin untersucht und behandelt. Als die Therapie wenig half, folgte 2015 eine Bandscheiben-Operation. Doch die Schmerzen blieben. Sobald ich zu lange sitze oder stehe, wird es schlimmer. Ich würde sehr gerne eine Arbeit finden, aber wenn ich mich mit meinem Arztzeugnis bewerbe, will mich niemand einstellen. Surprise verkaufen kann ich, weil ich die Zeit selbst einteilen und zwischendurch herumlaufen kann. Ausserdem tun mir die Gespräche mit meiner Kundschaft gut. Wie sehr mir die Kontakte fehlten, merkte ich im Lockdown. Da ich mittlerweile geschieden bin und meine Tochter bei der Mutter wohnt, war ich immer allein und pflegte zu ihr und meinen Kollegen nur telefonischen Kontakt. Ende Mai war meine Freude dementsprechend gross, als ich nach zweieinhalb Monaten an meinen Platz beim Kornhaus zurückkehren konnte. Nun kann ich mein Deutsch wieder üben und sogar verbessern. Ein Ehepaar, das ich schon lange kenne, kam kürzlich bei mir vorbei. Bei der Begrüssung berührten wir uns nur mit den Armen – dank ihnen kenne ich nun das Wort ‹Ellbogen›.»

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So schützen wir uns gemeinsam beim Magazinkauf!

Liebe Kund*innen Wir waren alle lange im Lockdown und können nun dank der gelockerten Massnahmen endlich wieder das Surprise Strassenmagazin verkaufen. Das macht uns sehr froh. Damit dies so bleibt, bitten wir Sie, unsere Verkaufsregeln und die Hygieneregeln des BAG einzuhalten. Vielen lieben Dank!

Halten Sie Abstand. Zahlen Sie möglichst passend. Wir haben Desinfektionsmittel dabei.

Merci für Ihre Solidarität und danke, dass Sie uns treu bleiben. Bis zum nächsten Mal auf der Strasse. Die Surprise Verkäufer*innen.