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Idris Niazi ist angekommen

Ein tolles Land sei die Schweiz, sagt Idris Niazi. Sorgen macht er sich über den Rassismus.

Angekommen

Der damals 17-jährige Idris Niazi trieb während seiner Flucht aus Afghanistan im östlichen Mittelmeer, sass wegen geschlossenen Grenzen monatelang fest. Ende 2016 ist er in der Schweiz angekommen – und heute sehr zufrieden.

TEXT BENJAMIN VON WYL FOTO OLIVIER VOGELSANG

Idris Niazi tritt in seine erste eigene Wohnung bei Vevey am Genfersee. Aber das Seeufer ist weit weg, und anders als einst Charlie Chaplin hat Niazi keine Sicht auf die französischen Alpen, sondern bloss auf eine Autogarage. Niazi gefällt es. Kürzlich hat er die Wohnung einem Freund, der weniger Platz hat, für dessen Geburtstagsparty überlassen. Der heute 21-Jährige ist glücklich mit der Zweizimmerwohnung samt Galerie ganz für sich alleine.

Schuhe abziehen. Fast in der ganzen Wohnung sind Teppiche ausgelegt. Nur oben, gegenüber dem breiten Flachbildfernseher, steht eine Polstergruppe. «Die ist nur für Gäste», sagt Niazi und setzt sich auf den Teppich, nimmt die Fernbedienung und startet einen Film über ein riesiges Kreuzfahrtschiff auf Youtube. Kletterwand, Schlittschuhbahn, Sushi-Restaurants – auf diesem Schiff scheint es alles zu geben. Niazi ist begeistert: «Wenn du dort Minigolf spielst, merkst du gar nicht, dass du auf einem Schiff bist!» Eines Tages vielleicht, falls er es sich leisten kann, will er selbst so verreisen. «Ich bin auch mit einem Schiff gekommen», erzählt er, «aber nicht so eines.» Das war von Kos nach Athen. «Wir waren im Wasser, zu zehnt. Da hat uns ein Schiff mitgenommen. Es war Glück, viele Menschen sind umgekommen.»

Ende 2015 ist Niazi in Afghanistan losgezogen. Über den Iran in die Türkei gekommen, in der Ägäis fast ertrunken. Von den griechischen Inseln gelangte er mit der

Fähre aufs Festland. Als er an der mazedonischen Grenze ankam, wurde er aber nicht durchgelassen. Wenige Tage zuvor wurde die Grenze für Afghan*innen geschlossen, bald darauf auch für Menschen aus Syrien und dem Irak. Fünf Monate sass Niazi in Griechenland fest, dann kam er mithilfe eines Schmugglers nach Serbien. «Schmuggler sind rücksichtslos. Wer schlecht zu Fuss ist, wird zurückgelassen.» Dort – in Belgrad, im Spätsommer – habe ich Niazi kennengelernt. Die Balkanroute war damals bereits geschlossen. Viele der Geflüchteten fühlten sich verraten: dass der EU-Türkei-Deal Geflüchteten eine sichere Reise nach Europa per Flugzeug ermöglicht, daran glaubte niemand.

Retter in der Not

Niazi hat nicht darüber gesprochen, er war damals erst 17 und konzentrierte sich darauf, was ihm bevorstand: eine vier Meter hohe Grenzbefestigung zwischen Serbien und Ungarn. Die Armee patrouillierte ebenso wie Milizen, sie setzten Wasserwerfer, Schlagstöcke und Tränengas gegen die Flüchtenden ein. «Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie sie Hunde auf Geflüchtete hetzten. Die waren zu allem bereit», erzählt Niazi. Ihm gelang die Flucht über Kroatien. In seiner Erinnerung war die kroatische Polizei fair. Zwei Jahre später wird es Kroatien sein, das wegen Gewalt gegen Geflüchtete und illegalen Abschiebungen nach Serbien in der internationalen Kritik steht. Da war Niazi bereits in Lausanne in der Schule; im November 2016 kam er in der Schweiz an. «Von Mailand habe ich den Zug genommen. Als ich am Bahnsteig stand, kamen Polizisten auf mich zu. Ich fragte: «English?» Da blieben sie stehen und haben ihn kontrolliert. «Ich sagte, ich möchte Asyl. Sie sagten ok.»

«Ich liebe Bex», wiederholte er an diesem Tag 2018 unentwegt. Er lebte damals in einer Asylunterkunft im mondänen Bex in den Waadtländer Alpen. Die Berge, die Ruhe, die schönen Häuser. In einem Restaurant bestellten wir eine Apfelschorle. Die Kellnerin war betrunken, sie brachte uns gratis eine Apéroplatte zu den Getränken, und Niazi meinte: «Da siehst du nun, warum ich Bex liebe.» Aus dem Jungen, den ich in Belgrad kennengelernt hatte, ist ein muskulöser – aber nicht minder herzlicher – Typ geworden. Aus dem Flüchtenden ein Geflüchteter: Die Schweizer Behörden glaubten Niazi, dass ihn die Taliban bedrohen, dass sie ihm Messer an den Hals setzten, weil er sich ihnen nicht anschliessen wollte.

Niazi besuchte die Schule, joggte und ging ins Boxtraining in Lausanne. Bereits nach ein paar Monaten war er der Zweitbeste im Team. Er hat schnelle Reflexe, nicht nur im Sport, sondern auch in brenzligen Situationen: Niazi war bei einer Kollegin in Basel im Urlaub, als er Schreie hörte. Sie rannten aus dem Haus, das Nachbarhaus stand in Flammen. Es gab viele Zeug*innen, aber weder Feuerwehr noch Ambulanz. Niazi überlegte nicht lange, ging in die Wohnung, über der das Feuer loderte, und zog die darin eingesperrte ältere Frau heraus. Danach: Ambulanz, Spitalaufenthalt, Abklärung auf Rauchvergiftung – alles gut. Die böse Überraschung erlebte Niazi erst Wochen später. Das Spital schickte Niazi die Rechnung für die Ambulanz. Dabei wurden mehrere Menschen ins Spital gebracht, darunter auch die Frau, die er herausgeholt hatte. Niazi, der als Schüler noch von Asylsozialhilfe lebte, wusste nicht, wie er das bezahlen sollte. «Die Antwort meines Sozialarbeiters: jeden Monat 50 Franken.» Niazi erhebt Einsprache – danach sei die Rechnung noch erhöht worden. Es regt ihn noch heute auf, selbst wenn ihm danach eine Ärztin dabei geholfen hat, die Kosten über seine Versicherung abzuwickeln. Es regt ihn auf, weil es keinen Sinn macht: Wer Gutes tut, wird bestraft? Ähnlich erging es ihm mit der Wohnungssuche. Niazi sagte zu seinem Sozialarbeiter, er brauche als Schüler eine eigene Wohnung, um konzentriert zu lernen zu können. «Der sagte ok, such dir eine. Aber ich hatte doch keine Ahnung, wie!» Bei der Wohnungssuche unterstützt wurde er erst, als er für einen Job auf die Schule verzichtet hatte. Unlogische Unterstützung: Er wollte etwas lernen, damit er eine gute Ausbildung erhält – aber bekam Bedingungen für konzentriertes Lernen erst, als er auf die Ausbildung verzichtete, um zu arbeiten. Diese Erkenntnisse schmälern aber nicht seine Zufriedenheit; sie bewahren ihn bloss vor einem naivem Vertrauen ins Schweizer System.

Dankbar, aber nicht demütig

«Die Schweiz ist ein tolles Land», sagt Niazi oft und meint es auch so. Er ist zufrieden darüber, an welchem Punkt er jetzt steht. Dankbar um seinen Job in einem türkischen Buffetrestaurant, die Wohnung und darüber, dass es nicht täglich ums Überleben geht. «Die Schweizer Behörden wissen sogar besser als ich, was mir in Afghanistan droht.» Nur der Rassismus mancher Schweizer*innen schmerzt und bedroht ihn. Einer Frau, die gegen Geflüchtete gewettert hat, habe er gesagt: «Du bist ein Mensch, ich bin ein Mensch. Wir haben dieselben Knochen, dieselbe Haut, egal welcher Farbton. Ich bin hierhergekommen, weil mir in Afghanistan Probleme gemacht wurden. Ich kam hierher, um ein Leben zu haben. Das hatte ich nicht in Afghanistan.» Seither komme sie ab und zu ins Restaurant und grüsse freundlich.

Als Niazi 2019 seinen Job antrat, lebten fast tausend Menschen zwangsweise auf einer bosnischen Mülldeponie, Vučjak. Nun verfolgen ihn die Bilder aus dem abgebrannten Flüchtlingslager Moria auf der Insel Lesbos, das für knapp 3000 Menschen geplant war. Zeitweise lebten 20000 da auf engstem Raum, 12000 verloren durch das Feuer ihr Obdach. «Für ein europäisches Land wäre die Aufnahme von 20 000 Geflüchteten nichts», sagt Niazi. «Und es gibt ja viele Länder. Ich verstehe die Politik nicht. Wenn wir sterben, kommen wir alle an denselben Ort. Niemand wird nach deinem Pass fragen.» Im Leben müsse man immer bescheiden bleiben, findet er. «Ich habe eine Wohnung, einen Job, ich habe alles.»

Hintergründe im Podcast: Benjamin von Wyl spricht mit Radiomacher Simon Berginz über die Hintergründe. surprise.ngo/talk