5 minute read

Interview mit Jean Ziegler

«Die EU verstösst gegen Menschenrechte»

Die Abschreckungspolitik der EU gegenüber Geflüchteten sei nicht nur moralisch inakzeptabel, sondern auch politisch ineffizient, sagt der Genfer Soziologe Jean Ziegler im Gespräch.

INTERVIEW KLAUS PETRUS

Herr Ziegler, im August 2015 sprach die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel angesichts der Flüchtlingskrise die berühmten Worte «Wir schaffen das!» Was ging ihnen damals durch den Kopf?

Ich dachte: Diese Frau zeigt Herz, sie findet die richtige Sprache, wendet die richtige Politik an. Ich war begeistert.

Und doch hat diese Politik die Gesellschaft gespalten.

Das Argument der xenophoben, rassistischen Regierungen, Geflüchtete würden eine Bedrohung für unsere Gesellschaft darstellen, wird durch die Tatsachen widerlegt. Beispiel Deutschland: Von den 1,3 Millionen Menschen, die das Land seit 2015 aufgenommen hat, sind 78 Prozent integriert, sie sprechen Deutsch, gehen in eine Schule, haben Arbeit. Allein dieses Faktum gibt Merkels Politik recht.

Rechte Strömungen und Parteien erleben in den letzten Jahren einen massiven Aufschwung, auch das ist ein Fakt.

Richtig: AfD, Rassemblement National, Orbán oder Salvini, sie alle legen mit ihrer Sündenbocktheorie bei jeder neuen Wahl an Stimmen zu. Sie geben den Geflüchteten für alles Mögliche die Schuld – für die Arbeitslosigkeit im eigenen Land, den maroden Sozialstaat usw. –, und die Menschen glauben ihnen. Das Schlimmste aber: Sogar die EU kuscht vor diesen Rassisten.

Inwiefern?

Ursula von der Leyen, die Präsidentin der Europäischen Kommission, glaubt, sie könne diese rassistischen Strömungen stoppen, indem sie die Zahl der Geflüchteten niedrig hält. Das aber ist ein fataler historischer Irrtum. Man konnte noch nie mit Rassisten verhandeln. Sie sind Feinde der Menschheit, Punkt. Man muss sie mit allen demokratischen und konstitutionellen Mitteln bekämpfen. Ursula von der Leyen aber will ihnen mit Konzessionen entgegenkommen und glaubt allen Ernstes, sie würden dadurch weniger rassistisch. Deshalb verfolgt sie diese grausame Abschreckungspolitik und will die Flüchtlingszahlen mit allen – auch illegalen – Mitteln runterdrücken.

Mit illegalen Mitteln?

Die EU verstösst gegen die Menschenrechte, ihre Präsidentin Ursula von der Leyen gehört vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.

Erklären Sie das.

Das Asylrecht besagt: Wer in seinem Heimatland bombardiert, gefoltert oder verfolgt wird, hat das Recht, in einem anderen Land um Schutz nachzusuchen. Schliesst man die Grenzen, verunmöglicht man einem Menschen, sein Asylgesuch zu deponieren – ob es dann wirklich angenommen wird, ist eine andere Frage. Genau das tut die EU: Sie schliesst die Grenzen und schickt Menschen, die übers Meer kommen oder es über die Grenze schaffen, oft mit Gewalt zurück. Und sie toleriert wissentlich Tragödien, wie sie sich zuletzt im abgebrannten Lager Moria abgespielt haben, wo tausende Geflüchtete unter absolut menschenunwürdigen Bedingungen zusammengepfercht werden. Ich habe dies mit eigenen Augen gesehen und in meinem neuen Buch «Die Schande Europas» ausführlich beschrieben.

Soll das alles nicht der Abschreckung dienen – und ist diese Strategie inzwischen nicht doch aufgegangen?

Erstens ist die Abschreckungspolitik politisch völlig ineffizient. Wer aus Idlib im Nordwesten Syriens, wo der Massenmörder Putin Wohnquartiere, Spitäler und Schulen bombiert, fliehen muss, wird nach Europa kommen, egal wie schlimm die Zustände in den Lagern auf Lesbos sind. Und zweitens tritt diese Abschreckungspolitik das Asylrecht mit Füssen. Damit zerstört die EU das Fundament, auf dem sie 1957 errichtet wurde, und verliert ihre Glaubwürdigkeit.

Was müsste von der Leyen tun?

Seit 2016 gibt es einen Verteilungsplan für Geflüchtete, der für alle EU-Mitgliedstaaten verbindlich ist. Doch die osteuropäischen Länder – darunter xenophobe, rassistische Staaten wie Polen, Ungarn, Rumänien und Bulgarien – verweigern kategorisch jegliche Aufnahme von Geflüchteten. Von der Leyen müsste als Erstes diese Regierungen sanktionieren.

Konkret?

Die Länder Osteuropas profitieren massiv vom Kohäsionsfonds der EU. In den letzten fünf Jahren hat dieser Fonds 64,5 Milliarden Euro ausgeschüttet. Würde man jenen Staaten, die keine Geflüchteten aufnehmen

wollen, diese Milliarden streichen, kämen sie innerhalb von vierzehn Tagen zur Vernunft und wären bereit, den Verteilungsplan umzusetzen.

Und doch passiert das nicht, es fliessen weiterhin Gelder.

Wie gesagt, die EU kuscht vor diesen menschenverachtenden Regierungen. Kommt hinzu: Im Juli 2019 wurde Ursula von der Leyen knapp mit nur neun Stimmen Vorsprung in ihr Amt gewählt –entscheidend waren die Stimmen der polnischen Nationalisten, der Abgeordneten von Orbán und Le Pen sowie der Bündnispartner von Salvini. Das macht sie zu einer Geisel dieser Rechtsextremen.

Auch die Schweiz zahlt 1,3 Milliarden Franken in den Kohäsionsfonds ein ...

... und damit sind wir direkt verantwortlich für diese grausame Flüchtlingspolitik, schliesslich sind das unsere Steuergelder.

Justizministerin Karin Keller-Sutter sagt, die Schweiz könne keine zusätzlichen Flüchtlinge aufnehmen, es fehle an Platz.

Blödsinn. Unsere Auffangzentren stehen zu drei Viertel leer. Nach dem Brand von Moria haben die acht grössten Schweizer möglich. Doch Bundesrätin Keller-Sutter, Städte – und mit ihnen viele Gemeinden zusammen mit der bürgerlichen Mehrheit, – bekanntgegeben, sie wären bereit, Ge- erschwert das Bemühen des Staatssekreflüchtete aufzunehmen. Und was tat Frau tariats für Migration SEM. Keller-Sutter? Sie wehrte ab mit der BeJa, aber mit einem Unterschied: Das Machtwäre auf politischer Ebene also einiges gründung, nur der Bund sei für die Flücht- Das alles klingt ernüchternd. Was bleibt lingspolitik verantwortlich. Hinter dieser uns in der gegenwärtigen Situation? arroganten, zynischen Haltung steckt die Es mag dies und das mit der Schweiz im Angst vor der SVP. Argen liegen, doch wir leben hier in einer Demokratie. Und in der Demokratie gibt Dass die Partei die Flüchtlingskrise es keine Ohnmacht. Wir haben alle verfasweiter instrumentalisiert? sungsmässigen Mittel, um die Regierung Genau. Zusammen mit der bürgerlichen zur Umkehr zu zwingen. Die Forderungen Mehrheit starrt Frau Keller-Sutter wie das sind klar: Nein zur Abschreckungspolitik, Kaninchen auf die Schlange – auf die SVP. Ja zur strikten Einhaltung des universellen Man will der Partei ja keinen Anlass für Menschenrechts auf Asyl und Ja zur maseine neue, menschenverachtende Initiative siven Aufnahme von schutzbedürftigen geben. Auch das ist ein grosser Irrtum, die Geflüchteten. Meine Hoffnung liegt in der SVP wird ihre Kampagnen so oder so fah- Mobilisierung der Menschen, im Aufstand ren. des Gewissens. Dieser Kampf für die Dann verfolgt Keller-Sutter im Kern ich bin zuversichtlich, dass wir ihn gewindieselbe Strategie wie von der Leyen? nen können. gefüge in Bern ist komplexer. Denn mit ZVG Jean Ziegler: «Die Schande Mario Gattiker haben wir einen Staatssekretär für Migration, der sich für eine huFOTO: Europas» Von Flüchtlingen und Menschenrechten. manitäre Flüchtlingspolitik einsetzt. Es Bertelsmann, 2020. CHF 24.90 Menschlichkeit muss geführt werden, und

Die EU schliesst Grenzen und schickt Menschen, die übers Meer kommen oder es über die Grenze schaffen, oft mit Gewalt zurück.

JEAN ZIEGLER gilt als einer der bekanntesten Kapitalismus- und Globalisierungskritiker. Zuletzt ist von ihm «Die Schande Europas» (Bertelsmann 2020) erschienen. Er beschreibt darin seine Begegnung mit Geflüchteten auf Lesbos, schildert die Einsätze von Hilfsorganisationen und kritisiert die Abschottungspolitik der EU.