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Migration

Migration Willkommenskultur, Aufstieg rechter Parteien, zähe Verhandlungen und schlimme Zustände an den Grenzen. Die sogenannte Flüchtlingskrise von 2015 hat unsere Gesellschaft verändert.

Geschichten von 1001 Flucht

In den letzten fünf Jahren haben Millionen Menschen versucht, über die Balkanroute in die EU zu gelangen. Viele sind steckengeblieben, für sie gibt es kein Vorwärts und kein Zurück.

TEXT UND FOTOS KLAUS PETRUS

1  — Grenze Albanien-Montenegro, 16. Januar 2017

Man müsse nur weiterlaufen, immer weiter, und jetzt, wie sie so gingen seit vielen Tagen, kam es ihnen vor, als wäre alles ganz leicht: das Heim zu verlassen, die Familie, Freunde, das Vertraute. Noch zwanzig Tage und Nächte, und noch einmal so viele, dann werden sie ankommen. Ankommen, bloss wo? Auf tausenden Kilometern Fluchtwegen sind die Spuren der Vertriebenen allgegenwärtig. Kleider, Spielzeug, Essensreste, Decken, Teile von Handys, Zahnbürsten, sie zeugen von einer verlorenen Heimat. Es gibt angeblich Menschen, die kennen kein Heimweh, sie sagen: Unsere Heimat ist da, wo wir gerne gesehen werden. Doch was, wenn niemand sie willkommen heisst?

2  — Horgoš, Serbien, 22. September 2018

Herbst 2015: Amar Z., achtzehn geworden, verlässt seine Heimat Waziristan, ein Berggebiet voller Taliban im Nordwesten Pakistans, er will nach Europa, will nach Deutschland. Auf dem Weg durch den Iran findet er für ein paar Wochen Arbeit, dann macht er sich auf in die Türkei, nach Lesbos, über Mazedonien nach Serbien, zu Fuss, auf Lastwagen, im Zug, manchmal bringen ihn Schlepper, oft geht er allein. Als er Belgrad erreicht, ist es Februar 2016 und kalt und eisig, er nimmt den Bus an die ungarische Grenze, jetzt, so denkt sich Amar, bin ich fast am Ziel. Mehr als zwei Jahre später sitzt er dort noch immer fest, haust mit Dutzenden Geflüchteten in einer verfallenen Baracke, eine knappe Stunde vom serbisch-ungarischen Grenzort Horgoš entfernt. Amar klagt über Müdigkeit und eine Schwere auf seiner Brust und dass er eigentlich nur noch schlafen will und nichts mehr behalten kann in seinem Kopf, keine Namen, keine Bilder, keine Gebete. Aufgeben? Niemals, sagte er damals. Im Herbst 2018 gelingt ihm die Flucht nach Ungarn und Slowenien, wo er abermals steckenbleibt. Mitte März 2019 nimmt sich Amar Z. in einem kleinen Dorf unweit der italienischen Grenze das Leben.

3  — Bihać, Bosnien, 28. Januar 2020

«Sie haben mir ins Gesicht geschlagen, die Hand gebrochen, mein Handy kaputtgemacht, mich verhöhnt und ausgelacht.» Die Berichte über gewaltsame Übergriffe der Grenzpolizei an der serbisch-ungarischen Grenze gaben schon 2016 zu reden, inzwischen häufen sie sich in Kroatien. Die Regierung stritt lange Zeit ab, überhaupt «Pushbacks» – Abschiebungen über die Grenze – vorzunehmen. Inzwischen räumt sie ein, dass zuweilen ein «bisschen Gewalt nötig sei», schliesslich handle es sich dabei um Leute, die «illegal» ins Land wollen. Einiges spricht dafür, dass Kroatien – wie andere Grenzländer – diese rigide Flüchtlingspolitik mit System verfolgt. Zwar ist das Land seit 2013 Mitglied der EU, doch nicht Teil des Schengenraums, und wird also alles daran setzen zu demonstrieren, dass es in der Lage ist, die Grenzen zur EU zu schützen.

4  — Šturlić, Bosnien, 14. August 2019

Wie zuvor Serbien, setzt auch Bosnien auf Abschreckungspolitik: Man möchte die Geflüchteten rasch wieder aus dem Land haben. Tatsächlich will kaum jemand dort bleiben, die Arbeitslosigkeit liegt bei 20 Prozent, die Regierung ist korrupt. Doch ein Weiterkommen wird immer schwieriger, für viele könnte Bosnien zur Sackgasse werden, auf der kroatischen Seite stehen 6000 Grenzwächter parat. Wer das nötige Geld für die Schleuser nicht hat – bis zu 3000 Euro pro Person –, wird die Grenze auf eigene Faust überqueren. Wie ein iranisches Paar mit drei Kindern von fünf, sieben und elf Jahren, die Mutter des Ehemannes und ihr jüngster Sohn, alle vollbepackt mit Rucksäcken und Taschen. Seit einem dreiviertel Jahr kommen sie nicht weg aus Bosnien, ihre Heimat haben sie vor bald zwei Jahren verlassen. Der Proviant für zehn Tage muss reichen, so lange rechnen sie, um zu Fuss durch Kroatien nach Slowenien zu gelangen. Die Route führt an Maisfeldern vorbei zu einem Fluss, der die Grenze zu Kroatien markiert. Drüben angekommen, nehmen sie einen Pfad durch den Wald, kämpfen sich durchs Unterholz, ein

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Surprise-Redaktor und Fotojournalist Klaus Petrus dokumentiert seit 2016 die Fluchtwege von der türkisch-griechischen Grenze über den Balkan in die EU-Länder. Eine Reportage von ihm über einen 17-jährigen Algerier, der in Bosnien feststeckt, ist in Surprise 471/2020 erschienen.

paar Stunden lang. Bis vier Männer vor ihnen stehen, wie aus dem Nichts, uniformiert und bewaffnet. Der eine sagt, es sei kein Durchgang hier, und: «Go back to Bosnia, you are not welcome!» Weitere Diskussionen gibt es keine, die kroatischen Grenzpolizisten bringen die Familie an die Grenze zurück. Das war im August vor einem Jahr. Einer der folgenden Versuche war erfolgreich, heute lebt die Familie in der Nähe von Frankfurt am Main.

5 — Velika Kladuša, Bosnien, 4. August 2019

«Ich will ihm keine Last sein, nur das nicht.» 2016 verliess die heute 73-jährige Samira S. mit ihrem Enkel Abdullah aus Angst vor den Taliban ihr Dorf unweit von Karatschi, im Herbst 2018 gelangten sie in zwei Monaten über Albanien und Montenegro nach Bosnien, 600 Kilometer insgesamt, fast immer zu Fuss. «Ich bin leicht, meine Gelenke sind stark, ich brauche nicht viel zum Essen und nur wenig Schlaf», sagt Samira. Zwei Jahre später sind die beiden noch immer im Norden Bosniens, sie leben bei einem Ehepaar im Keller, für 85 Euro im Monat, was viel Geld ist. Samira weiss, ihr Enkel würde es allein schneller über die Grenze schaffen. Doch Abdullah will nicht: «Entweder gehen wir beide, oder es geht niemand von uns.»

6 — Subotica, Serbien, 26 September 2016

«Rette mich von diesem Ort, an den ich nicht gehöre. Aus diesem Leben, das nicht meins ist.» Im Frühjahr 2016 floh Zarar Ch. aus Pakistan, schon zwei Monate später war er in Serbien, nie hätte er gedacht, dass alles so flott geht. Doch dann kamen sie, die langen Monate. Zuerst war Zarar in einem Lager in Šid an der kroatischen Grenze, dann in Obrenovac, später in den Baracken von Belgrad, in Sombor im Norden Serbiens und schliesslich in einer verfallenen Ziegelei bei Subotica nahe der ungarischen Grenze. Diese Zeit, sagt Zarar heute, sei die schlimmste gewesen. Mit zweihundert jungen Männern lebte er dort mehr als ein Jahr in engen, verdreckten Räumen, ohne fliessendes Wasser, ohne Strom und Toiletten. Im Sommer 2018 gelang ihm die Flucht, er kam nach Italien, liess sich registrieren, verbrachte ein halbes Jahr in einem Internierungslager bei Padua, arbeitete dann als Erntehelfer, zehn Stunden am Tag. Heute lebt der 27-Jährige in Verona und macht Schichten in einer Schokoladenfabrik. Und er will weiter. Vielleicht nach Kanada, so das Geld reicht.

7 — Horgoš, Serbien, 16. Februar 2019

Soya, das Reh, und Riaz, der Flüchtling: zwei Vertriebene, Verwundbare, Sorgende, beide ohne Familie, beide ohne ein Daheim. Am Fuss verletzt, in einem Stacheldraht zuckend, wurde Soya nahe der serbisch-ungarischen Grenze gefunden. Riaz gab dem Reh den Schoppen, hüllte es in Decken. Von da an begleitete das Tier ihn auf Schritt und Tritt, es hüpfte mit ihm, schlief bei ihm, ass mit ihm, fast zwei Jahre. So könnte diese rührselige Geschichte noch endlos weitergehen. Doch dann, im Sommer 2019, setzte sich Riaz, der mit Schleusern gute Geschäfte machte, nach Dänemark ab. Das Reh blieb allein.

Kommentar

Abschrecken und abschieben

Als im September das Camp Moria auf Lesbos abbrannte, gingen die Diskussionen über die «europäische Flüchtlingskrise» wieder einmal los: ob man derlei Lager per sofort evakuieren müsse, welche europäischen Länder wie viele Geflüchtete aufnehmen sollten oder inwieweit die EU-Flüchtlingspolitik gescheitert sei. Dass sie wahrhaft unmenschliche Züge trägt, daran gibt es kaum Zweifel. Zwar steht im neuen Migrationspakt der EU-Kommission – vor einigen Wochen in Brüssel präsentiert – die EU-Flüchtlingspolitik solle fortan «humaner» werden. Aber auch: «effektiver». Was dies bedeutet, wird rasch klar: Die Asylverfahren der Geflüchteten sollen an den Aussengrenzen beschleunigt und mehr Menschen schneller abgeschoben werden. Will heissen: Es wird auch in Zukunft Camps wie Moria geben, die vor allem einem Zweck dienen: der Abschreckung. Ein Punkt im Pakt ist allerdings neu, und er ist besonders perfide: Die EU-Mitgliedstaaten müssen sich nicht mehr verpflichten, Geflüchtete aufzunehmen, sie dürfen fortan ihren Beitrag auch dadurch leisten, dass sie sich an der Ausschaffung abgelehnter Asylbewerber*innen finanziell beteiligen. «Return sponsorship» nennt sich das.

Abschotten, abschrecken, abschieben – das scheint also weiterhin die Stossrichtung der EU-Flüchtlingspolitik zu sein. Und damit wird auch der Druck auf die Länder an den Aussengrenzen zunehmen. Dazu gehören nicht nur Griechenland, Spanien oder Italien, sondern auch die Balkanstaaten. Wurde vor drei Jahren Serbien für die Geflüchteten zur Sackgasse, ist es nun Bosnien, ein kleiner Staat, dessen Regierung heillos überfordert ist und korrupt dazu: Von den 24 Milliarden Euro, die das Land seit 2018 von der EU zwecks «Migrationskontrolle» erhalten hat, fliesst kaum Geld an die bosnisch-kroatische Grenze, wo abertausende Geflüchtete unter prekären Bedingungen zu überleben versuchen.

Ob der neue Plan überhaupt umgesetzt werden kann, wird sich zeigen. So oder so: Um die bisherige EUFlüchtlingspolitik behutsam und besonnen auf einen humaneren Kurs zu lenken, ist es wohl zu spät. Es bräuchte drastischere Schritte, wie Sanktionen gegen jene Staaten, die sich bereits seit Jahren dagegen wehren, Geflüchtete aufzunehmen (siehe Interview, Seite 14). Inzwischen gilt es, sich mit allen demokratischen Mitteln – Protesten, Hilfsaktionen – für Menschenrechte, Solidarität und Schutzverantwortung einzusetzen; im Übrigen alles Werte, auf denen sich auch die EU einst gegründet hat. KP

Flucht in die EU Schweiz 2015 stieg die Zahl der q Fast alle Länder Europas waren von der Migration betroffen, die vor fünf Jahren eine Wende in der Flüchtlingspolitik markierte – und bis heute Konseuenzen hat für die Menschen, die nach Europa kommen und die bereits hier leben. Asylbewerber*innen deutlich an, darunter Menschen aus Syrien. 2016 wurde die Schweiz zunehmend zu einem Transitland für Geflüchtete, was zu verstärkten Kontrollen an der Grenze zu Italien führte, z.B. in Wir leben in einer Zeit der Mauern und Zäune; zusammengenommen ergeben sie Frankreich Im Oktober 2016 wurde der «Dschungel von Calais» mit Como, wo sich im Sommer 2016 ein Zeltlager bildete. 41000 Kilometer, 8000 Geflüchteten in Nordfrankreich geräumt. Um das entspricht dem Erdumfang. 57% dieser Absperrungen wurden das Camp wurde eine Mauer errichtet, um die Geflüchteten daran zu hindern, auf Lastwagen durch den Euroseit 2011 gebaut und dienen dem tunnel nach Grossbritannien Zweck, Migrant*innen auszuschliessen. zu gelangen. Im Juli 2018 lebten bis zu 400 000 Geflüchtete im Grossraum Ende 2019 waren weltweit von Paris.

79,5Mio. Spanien

Menschen auf der Flucht, die höchste je In Spanien wurden 2015 rund registrierte Zahl. Sie hat sich seit 2010 fast 13 000 Asylanträge gestellt, verdoppelt. doppelt so viele wie 2014, die 85% der Geflüchteten leben im meisten der Geflüchteten zogen weiter in andere EUStaaten. 2018 wurde der Staat globalen Süden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Kollektivabschiebung von Die Zahl der nach Europa eingereisten Geflüchteten verurteilt. Asylbewerber*innen lag 2014 bei

627000

sie verdoppelte sich 2015 auf über 1300000 und betrug 2018 rund 645 000 Italien Die meisten Geflüchteten in Italien kommen übers Mittelmeer, allein 2016 waren es 181 000. Bereits 2017 kündigIn der Schweiz beantragten 2015 etwa te die Regierung an, Schiffe Mittelmeerroute 39 400 Menschen Asyl, 2018 mit Geflüchteten nicht mehr Im Oktober 2013 sank vor Lamnoch 15 100. in Häfen anlegen zu lassen, pedusa ein Boot mit 545 Geflüchtewas bis heute Anlass zu Kon- ten aus Somalia und Eritrea, 390 troversen gibt. ertranken. Schon 2011 sassen 6000 Menschen auf der Insel fest, in den Jahren 2014/15 nahm die Zahl der Westliche Mittelmeerroute Geflüchteten weiter zu. Insgesamt erZentrale Mittelmeerroute tranken bei der Flucht übers MittelAlte Balkanroute meer seit 2014 über 20 000 Menschen. Neue Balkanroute

Deutschland

Im August 2015 sprach Angela Merkel die berühmten Worte «Wir schaffen das!», was bis heute zu einer Polarisierung der Politik und Gesellschaft geführt und sowohl Solidarität wie auch den Rassismus gefördert hat. Inzwischen haben 1,85 Millionen Geflüchtete in Deutschland einen Asylantrag gestellt, 1,3 Millionen wurden aufgenommen.

Ungarn

Im Sommer 2015 errichtete die Regierung von Viktor Orbán an der Grenze zu Serbien einen 175 Kilometer langen Zaun, sie baute als erste Internierungslager und lehnte eine EU-Verteilquote für Geflüchtete ab. Anfänglich massiv kritisiert, wird Ungarns Abschottungspolitik inzwischen toleriert oder gar akzeptiert.

Serbien

Tausende Geflüchtete trafen im Herbst 2015 täglich in Belgrad ein, hunderte Journalist*innen aus aller Welt berichteten darüber. Vor laufender Kamera trug der heutige Präsident Aleksandar Vučić einem syrischen Jungen den Rucksack über die serbische Grenze; man wolle den Geflüchteten einen «humanitären Korridor» in Richtung Norden bieten. Inzwischen hat sich Vučićs Flüchtlingspolitik derjenigen von Ungarn angenähert.

Bosnien

Ende 2017 hat sich die Balkanroute nach Westen verschoben, die Geflüchteten versuchen nun über Bosnien nach Kroatien und von dort in die EU zu kommen. Bis heute haben fast 40 000 Geflüchtete Bosnien durchquert, die meisten stecken im Nordwesten in provisorischen Lagern oder verlassenen Gebäuden fest. Bosniens Regierung ist weitgehend untätig, obschon sie seit 2018 24 Millionen Euro für die «Migrationskontrolle» erhalten hat.

Griechenland / Ägäische Inseln

Seit 2015 kommen die meisten Geflüchteten über Griechenland in die EU, im Februar 2016 etwa waren es bis 2000 Menschen pro Tag. Damals wurden fünf «Hotspots» eingerichtet, der bekannteste ist das chronisch überfüllte Lager Moria auf der Insel Lesbos mit 12 500 Menschen, das im September 2020 abbrannte.

Türkei

Im März 2016 schloss die EU mit der Türkei einen Pakt ab: Gegen Milliardenzahlungen verpflichtet sich Ankara, Geflüchtete von Europa fernzuhalten. Damals befanden sich 1,9 Millionen Geflüchtete in der Türkei, heute sind es vier Millionen, 90 Prozent stammen aus Syrien. Vermehrt wurde das Abkommen von 2016 von Recep Tayyip Erdogan als Druckmittel gegen die EU eingesetzt, zuletzt im März 2020.