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Verkäufer*innenkolumne

Der Tag rennt nicht davon

Heute morgen war ich in Schaffhausen. Im HB habe ich den Zug bestiegen, der 7.03 Uhr abfährt. Die freundliche Frauenstimme – zwar viel zu laut – gab durch, dass der Zug infolge Betriebsstörung 14 Minuten später abfährt. Jemand sagte: Dammi, schon wieder, und stieg aus. Im Zug schlürfen die Leute Kaffee, ich höre es noch, wenn ich auf dem hintersten Sitzplatz sitze. Oder der Papiersack mit dem Essbaren, dafür darf man die Maske ja abziehen. Oder sie rascheln mit der Zeitung. Oder sie telefonieren so, dass man das ganze Gespräch mithören kann. Ich habe mich auf die Sudokus konzentriert, beide Rätsel ganz ruhig ausgefüllt und erst in Bülach gemerkt, dass der Zug ja schon lange abgefahren ist. Das gelingt mir auch nicht immer. Aber es gelingt mir immer häufiger in letzter Zeit.

Wenn ich in Schaffhausen aussteige und Richtung Fronwaagplatz gehe, weiss ich: Ich bin in einem guten Alltag. Ich laufe durch die Altstadt, da kommen mir schon die Leute entgegen, rufen mir zu, «Hoi Hans, hast du das neue Heft?», oder grüssen mich im Überholen. Die Menschen hier haben eine spezielle, ruhige Ausstrahlung. Ich bin am Dienstag und Samstag jeweils in Schaffhausen, dann ist immer Bauernmarkt. Ich plaudere schon mit den Leuten, bevor sie auf dem Markt sind.

In Zug habe ich meinen zweiten Standplatz, das ist ein ganz anderes Pflaster. Die Leute kommen mit der Bahn von Luzern her und aus der ganzen Schweiz. Praktisch alle kommen zur Arbeit. Von meinem Standplatz aus, Ende Bahnhofspassage, sehe ich die Passant*innen. Mit den Elektrorollern, die man mieten kann, fahren sie, vom Zug eilend, kopflos durch die Leute durch. Oder sie verlieren etwas, sie rennen weiter, sie merken es nicht einmal. Denen, die ich kenne, rufe ich zu: «Guten Morgen! Guten Wochenstart!» Manchmal sage ich: «Nicht so schnell! Der Tag rennt nicht davon!» Ich versuche Gegensteuer zu geben. Die Leute kaufen mir dann ein Heft ab und sagen, ich würde ihnen guttun. Manchmal gehe ich durch in die Einkaufsmeile Richtung Migros. Zum Café Speck, das sind die mit dem ChrütliTee. Am Nebentisch reden sie von Stress und Mobbing. Ich fühle eine Dankbarkeit, dass ich alldem selbst nicht ausgesetzt bin. Das sind Momente, in denen ich innerlich ganz ruhig werde.

HANS RHYNER (65) verkauft Surprise in Schaffhausen und Zug und ist Stadtführer in Zürich. Manchmal zählt er mit dem Sekundenzeiger der Bahnhofsuhr genau eine Minute lang mit, von 1 bis 60. Dann dasselbe retour. Eine Minute hat immer gleich viele Sekunden.

Die Texte für diese Kolumne entstehen in Workshops unter der Leitung von Stephan Pörtner und der Redaktion. Die Illustration zur Kolumne entsteht in Zusammenarbeit mit der Hochschule Luzern – Design  & Kunst, Studienrichtung Illustration.