Surprise Nr. 469

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Strassenmagazin Nr. 469 14. bis 27. Februar 2020

CHF 6.–

davon gehen CHF 3.– an die Verkaufenden

Bitte kaufen Sie nur bei Verkaufenden mit offiziellem Verkaufspass

Selbstbestimmung

Urs kehrt zurück Er zog aus nach Kamerun, doch die Malaria machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Jetzt bricht er von neuem auf – vielleicht für immer. Seite 8 Surprise 469/20

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Kultur

Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude

Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BERATUNG

Unterstützung

Job

STRASSENMAGAZIN Information

Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten

Erlebnis

STRASSENFUSSBALL

Expertenrolle

SOZIALE STADTRUNDGÄNGE Perspektivenwechsel

SURPRISE WIRKT Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESCHICHTEN VOM FALLEN UND AUFSTEHEN Kaufen Sie jetzt das Buch «Standort Strasse – Menschen in Not nehmen das Heft in die Hand» und unterstützen Sie einen Verkäufer oder eine Verkäuferin mit 10 CHF. «Standort Strasse» erzählt mit den Lebensgeschichten von zwanzig Menschen, wie unterschiedlich die Gründe für den sozialen Abstieg sind – und wie gross die Schwierigkeiten, wieder auf die Beine zu kommen. Porträts aus früheren Ausgaben des Surprise Strassenmagazins ergänzen die Texte. Der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart zeigt selbstbewusste Menschen, die es geschafft haben, trotz sozialer und wirtschaftlicher Not neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe aufzubauen. Surprise hat sie mit einer Bandbreite an Angeboten dabei unterstützt: Der Verkauf des Strassenmagazins gehört ebenso dazu wie der Strassenfussball, der Strassenchor, die Sozialen Stadtrundgänge und eine umfassende Beratung und Begleitung. 156 Seiten, 30 farbige Abbildungen, gebunden, CHF 40 inkl. Versand, ISBN 978-3-85616-679-3 Bestellen bei Verkaufenden oder unter: surprise.ngo/shop

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Weitere Informationen T +41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo | Facebook: Surprise NGO

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TITELBILD: KLAUS PETRUS/RAHEL NICOLE EISENRING

Editorial

Aus der Rolle Man liest ja viel über die moderne Gesellschaft, in der das Individuum über allem steht – und meint das oft negativ. Ich fühle mich da hin- und hergerissen. Eigentlich bin ich ganz froh, nicht in einer Gesellschaft leben zu müssen, die mir eine Rolle vorgibt, welche ich von morgens bis abends zu erfüllen habe. Mir macht es nichts aus, so gesehen aus der Rolle zu fallen, denn Unabhängigkeit und Freiheit sind mir wichtig. Ziemlich sehr sogar. Das Problem mit der modernen Gesellschaft scheint mir ein anderes zu sein: Sie gibt zu vielen von uns das Gefühl, dass wir nicht dazugehören. Irgendwie versuchen wir die ganze Zeit, uns von allen anderen zu unterscheiden. Kein Wunder, stehen wir am Ende alleine da – in überfüllten Bussen, Restaurants, Warenhäusern. Wir können von Menschen umgeben sein, und doch fühlen wir uns zutiefst einsam. Dieses Gefühl, man gehört nicht dazu, ist ein fürchterliches. Ich glaube, es ist für uns Menschen schrecklicher als jede Entbeh-

4 Aufgelesen

14 Depressionen

Kein Wundermittel

rung. Wer nicht dazugehört, wird nicht gebraucht. Und wer nicht gebraucht wird, ist nutzlos. Gibt es Schlimmeres? Angeblich braucht der Mensch wenigstens dreierlei, damit er zufrieden ist: erstens ein authentisches Leben, also eines, das nicht aufgesetzt ist und entgegen seinen tiefsten Überzeugungen verläuft; zweitens Beziehungen zu anderen Menschen; und drittens das Gefühl, von diesen Menschen gebraucht zu werden. Das ist nicht viel, möchte man meinen. Und doch. Was all das mit diesem Heft zu tun hat? Urs Saurer, der Mann auf dem Titelblatt, ist schon oft aus der Rolle gefallen, musste sich wieder und wieder zurechtfinden – und reist jetzt an einen Ort, der kein leichtes Leben verspricht – aber an dem er gebraucht wird. Doch lesen und schauen Sie selbst. KL AUS PETRUS

Redaktor

24 Kultur

Kulturelle Teilnahme

28 SurPlus Positive Firmen

6 Vor Gericht

Verfahren 7 Auf Reisen

Athen, Griechenland

16 Sudan

Frauen an allen Fronten

25 Buch

Trauer und Trost

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

26 Veranstaltungen 30 Surprise-Porträt

8 Selbstbestimmung

Die Heimkehr des Urs Saurer

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27 Tour de Suisse

Pörtner in Ettingen

«Lachen, schwatzen und Kaffee trinken»

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Aufgelesen

FOTO: TRACEY MEARMY

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 35 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Australien brennt: Was ist mit den Obdachlosen? Die australischen Buschfeuer wüten weiter, kein Tag vergeht, an dem die Medien nicht darüber berichten. Doch fast nie hört man etwas über die fast 120 000 Obdachlosen im Land. Den Rat der Behörden, man solle nach Möglichkeit zu Hause bleiben, um nicht gesundheitsgefährliche Partikel einzuatmen, können Menschen ohne Bleibe nicht befolgen. Entsprechend klagen Obdachlose häufiger über Atemprobleme. Kommt hinzu, dass ihr Gesundheitszustand oft ohnehin schlechter ist als derjenige der Durchschnittsbevölkerung. Nun haben die Behörden von Melbourne reagiert und Hilfsmassnahmen getroffen: Sie gewähren Obdachlosen freien Zugang zu Schwimmbädern und Kinos und bieten ihnen Plätze in Bibliotheken, Einkaufszentren oder Gemeindehäusern an, wo sie sich tagsüber aufhalten und vor Rauch und Hitze schützen können.

THE BIG ISSUE, LONDON

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BILDER: RICARDO LEVINS MORALES

Kunst als Therapie Seit 50 Jahren vereint Ricardo Levins Morales in seinem Leben Kunst und Aktivismus. Er wurde in Puerto Rico geboren und hat sich dort als Teenager in der antikolonialen Bewegung engagiert. Später zog er nach Chicago und schloss sich u.a. den Black Panthers an. Schon früh machte sich Morales Gedanken über Traumata, die Unterdrückte oder Ausgeschlossene erleiden müssen, und setzte diese in seinen Kunstwerken um. Bis heute macht er nicht bloss Kunst, sondern gibt Workshops zur Überwindung von Traumata und zu Strategien eines nachhaltigen Aktivismus. Morales selbst bezeichnet sich in dieser Rolle auch gerne als «heilender Künstler».

STREET ROOTS, PORTLAND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Omas gegen Rechts

In Österreich schliessen sich ältere Frauen zusammen, um rechtsextreme Ideologien in ihrem Land zu bekämpfen. Sie nennen sich «Omas gegen Rechts», treffen sich einmal im Monat und beraten ihre Taktiken. Die Frauen sind parteiunabhängig, sie veranstalten Demos, schreiben Leserinnenbriefe und kontaktieren Politiker – sogar eine Radiosendung gibt es inzwischen. Vor allem aber gehen sie auf die Strasse, suchen das Gespräch und versuchen Menschen dazu zu bewegen, ihre politische Stimme keiner Partei mit rechtsgerichteter Gesinnung zu geben. «Wir sind furchtlos, aber friedlich», beschreiben die Omas ihr Engagement für ein solidarisches Miteinander.

APROPOS, SALZBURG

Alt werden auf der Strasse

In den USA ist der Anteil älterer Menschen, die von Armut und Obdachlosigkeit betroffen sind, in den letzten 15 Jahren um mehr als 20 Prozent gestiegen. Dafür gibt es viele Gründe. Die Babyboomer werden älter, die Leistungen der Sozialversicherung sind weit unter die Armutsgrenze gefallen, die Mietzinse steigen teils ins Unermessliche. Dabei sind die Belastungen, die mit einem Leben auf der Strasse oder in Notunterkünften einhergehen, für ältere Menschen besonders gross. Wer kein Zuhause hat, leidet stärker an den Folgen etwa von Diabetes, Herzkrankheiten, Karies oder Demenz. Weil ältere Menschen oft medizinisch unterversorgt sind, können auch Stürze oder schlechte Ernährung katastrophale Folgen haben. Diese sind oft nicht mehr wettzumachen, sondern verschlimmern sich mit der Zeit. Schliesslich werden diese Menschen – wie wir alle – nicht mehr jünger und kräftiger.

STREET ROOTS, PORTLAND

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Vor Gericht

Verfahren Der Oberrichter spricht wohl allen Beteiligten aus der Seele, als er seinem Urteil sinngemäss anfügt: Es ist falsch, wenn familienrechtliche Streitereien vor dem Strafgericht enden. Dass es in dieser Sorgerechtssache so weit kam, lässt er durchblicken, ist nicht einfach nur die Schuld des soeben Verurteilten. Aber, so sagt er zum 38-Jährigen: «Sie müssen lernen, mit der Situation zu leben.» Seine Situation ist diese: Die Partnerin verliess ihn kurz nach der Geburt des gemeinsamen Kindes und verweigert bis heute jeden Kontakt. Auch gibt sie ihm keine Auskunft über das Kind, und das seit Jahren. Das ist nicht in Ordnung, sagt das Gesetz. Als sorgeberechtigter Elternteil müsse die Frau dem Vater über besondere Ereignisse berichten. Und der Mann habe das Recht, bei wichtigen Entscheidungen angehört zu werden. Aber eben: nichts. Das verkraftet der Mann schlecht. Früher war er Betreuer in Kinderhorten, nun ist er aus psychischen Gründen arbeitsunfähig und sozialhilfeabhängig. Er sieht die von der Mutter bewirkte Entfremdung zwischen ihm und seinem Kind als Misshandlung. Als Missbrauch in Form von psychischer Gewalt. Gegen ihn und das Kind. Das schrieb er auch der KESB und legte Fachtexte des Kinderpsychologen Remo Largo aus «Psychologie Heute» bei. Er wandte sich mit den Vorwürfen an den Bezirksrat und das Verwaltungsgericht – die Behörden haben ihm ein Rayon- und Kontaktverbot erteilt, weil er Mutter und Kind nachstellte. Er meldete sich dreimal beim Polizeinotruf. Das Kind werde von der Mutter misshandelt. Er

habe Angst. Immerhin fand die Polizei den Knirps wohlauf in der Wohnung seiner Mutter vor. All das brachte ihm eine Verurteilung wegen falscher Anschuldigung, falschem Alarm, Nötigung und Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen ein. Ein Missverständnis, sagt seine Anwältin vor Obergericht und fordert einen Freispruch. Wenn der Mann von Gewalt gesprochen habe, sei immer nur psychische Gewalt gemeint, nicht physische. Die Behörden hätten die Aussagen nicht im Gesamtkontext betrachtet. Gerade die KESB sollte mit einem verzweifelten Mann besser umgehen können. Stattdessen habe man ihn an die Polizei verwiesen. Die ihn zur KESB zurückschickte. Und die wieder zur Polizei. Mehrmals hin und her. Dagegen der Vertreter der Kindsmutter: Die KESB habe nach den Meldungen drei Verfahren eingeleitet. Dem Mann sei es nur nicht schnell genug vorangegangen. Kompromissvorschläge wie begleitete Besuche habe er stets abgelehnt. Als es nicht nach seinem Willen lief, habe er seiner Ex das Leben schwergemacht. Dabei gehe es mehr um das Ego des Mannes als um das Kindswohl. Mehrfache Polizeieinsätze und kinderärztliche Abklärungen seien nicht nur für die Mutter eine Zumutung, sondern auch für das Kind. «Es braucht immer zwei», sagen die Oberrichter zur verfahrenen Situation. Doch dies rechtfertige das Verhalten des Mannes nicht. Immerhin sprechen sie ihn vom Vorwurf der Nötigung frei und wandeln die Freiheitsstrafe in eine bedingte Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu 30 Franken um. Ein kleiner Beitrag zu dem, was der Gerichtspräsident dem Mann zum Abschied wünscht: «Eine lebbare Zukunft.» Y VONNE KUNZ ist Gerichtsreporterin

in Zürich

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

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Um dem Stadtleben zu entkommen, gehe ich … … nach Glyfada, das ist ein Vorort von Athen im Süden der Stadt. Glyfada liegt am Meer, man kann schwimmen, wenn man will – und ich schwimme gerne. Nach Glyfada kommen auch viele Touristen, man kann dort wandern und die Natur geniessen. Oder man geht an den Strand, wo es viele tolle Bars und Restaurants gibt.

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Jeder sollte mal … … zum Omonia-Platz. Dort trifft man Menschen aus der ganzen Welt. Man sitzt zusammen auf einer Bank, plaudert und verbringt Zeit miteinander. So kann man viele Dinge über andere Kulturen, Orte und Länder erfahren. Ich habe allerdings auch Freunde – es sind Migranten –, die nicht mehr auf die Strasse gehen möchten, weil sie Angst haben, dass sie angegriffen werden. Wir müssen den Leuten hier erklären, dass die Geflüchteten Menschen sind wie wir und warum sie ihr Leben riskiert haben, um hierher zu kommen.

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Auf Reisen

Athen, Griechenland Unsere Reisebegleitung Mixalis Samolis, 61, kommt aus Athen und verkauft die Strassenzeitung Shedia. Er war lange Zeit arbeitslos und ohne Wohnung. «Ich konnte keinen Job finden, war obdachlos und verzweifelt. Ohne Shedia wüsste ich nicht, wo ich jetzt wäre.»

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Mein Lieblingsort Das Museum bei der Akropolis und dem Parthenon. Die beiden Orte sind meine absoluten Favoriten und machen mich stolz auf mein Land. Ich lebe gerne in Athen, weil ich die antike Geschichte der Stadt mag. Athen ist eine der ältesten Städte der Welt – das macht sie so einzigartig. Surprise 469/20

Die beste Jahreszeit für einen Besuch Von März bis September, dann ist nämlich das Wetter wunderbar, man kann den ganzen Tag draussen sein und viele schöne Dinge tun.

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Mein Lieblingscafé Ein kleines Restaurant auf dem Omonia-Platz, es heisst «Gianniotiko». Für mich gibt es gleich mehrere Gründe, wieso man dorthin gehen sollte. Das «Gianniotiko» hat den besten Kaffee von ganz Athen und das leckerste Souvlaki, das ist eines der traditionellen griechischen Gerichte. Zudem ist das Restaurant 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche offen. Das macht den Ort für Leute wie mich, die auf der Strasse arbeiten, so speziell.

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Die beste Aussicht Der Nationalgarten von Athen ist ein Park mit Bäumen, Blumen, einem See und vielen Tieren. Dort hat man das Gefühl, ausserhalb der Stadt zu sein, und man vergisst völlig, dass man sich noch immer an einem so lauten Ort wie Athen befindet.

Shedia hat unlängst einen schicken Upcycling-Shop eröffnet, wo Armutsbetroffene aus den alten Shedia-Ausgaben Schmuck, Möbel und Kunstgegenstände herstellen; Shedia Home, Kolokotroni 56, Athen, shediart.gr Aufgezeichnet von Mixalis Samolis. SHEDIA, 2 Nikiou St., 10560 Athen Griechenland, shedia.gr Mit freundlicher Genehmigung von INSP.ngo / The Big Issue UK bigissue.com @BigIssue

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Der Heimkehrer Selbstbestimmung Das Basler Stadtoriginal Urs Saurer hatte sich in Kamerun mit Malaria

infiziert. Kaum wieder auf den Beinen, reist der Surprise-Verkäufer noch einmal hin. TEXT SARA WINTER SAYILIR

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ILLUSTRATIONEN RAHEL NICOLE EISENRING

FOTOS KLAUS PETRUS

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«Eine weitere Malaria werden Sie nicht überleben», hatte der Arzt im Unispital zu Urs Saurer gesagt. Das war Anfang 2018, der langjährige Surprise-Verkaufende lag ausgezehrt im Basler Spitalbett. Fast zwei Jahre später zeigt er im Surprise-Büro neue Fotos von sich, wie er mit einer Bananenstaude über der Schulter fröhlich grinsend durch Afambassi spaziert, das kleine Dorf im Herzen Kameruns, rund vierzig Kilometer nördlich der Grossstadt Yaoundé. «Ich lasse mir doch von einem Arzt nicht verbieten, wohin ich gehe!», sagt er. Auf seiner ersten Reise nach Kamerun 2017 hatte sich Urs mit der Tropenkrankheit infiziert und erst viel zu spät nach seiner Rückkehr behandeln lassen. Leber und Nieren hatten ausgesetzt, achtzehn Mal hatte man sein Blut per Dialyse waschen müssen. Dünn war er geworden, konnte kaum noch stehen, mehrere Zehen am rechten Fuss drohten abzusterben. Es war nicht sicher, ob er je ohne Hilfe wieder laufen könnte. Aufbruchstimmung Heute ist klar: Er kann. Den Rollator, den er zwischendurch brauchte, hat Urs in die Ecke gestellt. In Basel verdient er sein Geld als Tagelöhner bei Overall, einer Arbeitsintegrationsfirma. Hier muss der freiheitsliebende Vagabund sich nicht dauerhaft in ein enges Regelkorsett quetschen, was ihm schwerfällt, und wenn man ihm seine Eigenheiten lässt, verdient er recht gut mit den Aufträgen, die er angeboten bekommt. Er arbeitet gern, am liebsten draussen. Mal im Garten, mal spielt er Schwyzerörgeli. Zusätzlich verkauft er das Strassenmagazin Surprise. Manchmal kommt er auf diese Weise gut ohne Sozialhilfe zurecht, manchmal auch nicht. Urs vermisst das Landleben. Als er ein Kind war, im Berner Oberland, hielten seine Eltern ein paar Kühe und Ziegen, mit Tieren würde er auch jetzt gern wieder arbeiten. Aber zurück ins Heimatdorf Ringoldswil möchte er nicht, das erscheint ihm abwegiger als das weit entfernte Afambassi mit dem undurchdringlichen Busch ringsum, den schlechten Strassen und dem Wechsel von Trockenund Regenzeit. In Afambassi leben seine beiden Freundinnen Kathrin Witschi und Carole Erlemann Mengue. Die Frauen sind vor sechs Jahren gemeinsam dorthin ausgewandert, Kathrin ist Baslerin, für Carole ist es eine Rückkehr, sie kommt ursprünglich aus der Gegend. Erstmals luden die Frauen Urs im Juni 2017 in ihr Dorf ein. Damals waren sie auf Besuch in Basel, Urs kannten sie über den Surprise Strassenfussball. Er hört ihren Erzählungen zu und träumt bald vom Auswandern in die afrikanischen Tropen – von einer Geissenzucht, vom Maisund Kakaoanbau und von der Flucht vor seiner mageren AHV, die ihm hier im Alter zusteht. Damals ist er sechzig. Also reist er hin, ein Abenteuer für den Schweizer, der mit Standarddeutsch eher seine Mühe hat, kaum Französisch spricht und seit den Achtzigerjahren kein Flugzeug mehr betreten hat. Unterwegs in Istanbul geht er fast verloren, aber als er endlich im Dorf ankommt, gefällt es ihm dort sehr. Hierher auszuwandern, das kann er sich gut vorstellen. Mit diesem Plan kehrt er zurück in die Schweiz, um alles vorzubereiten. Doch da kommt ihm die Malaria Surprise 469/20

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dazwischen. Sie verläuft so schwer, dass es ihn fast ein Jahr Genesungszeit kostet. Die Ansage des Tropenmediziners, dass er sein Leben riskiere, wenn er noch einmal Malaria bekäme, beeindruckt ihn anfangs schwer. Seitdem ist eine Menge Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Der zähe Urs Saurer ist wieder auf den Beinen, er fühlt sich fit. Die Idee auszuwandern steht weiter im Raum. Noch in der Reha spricht er von Kanada, da sei das Leben ebenfalls günstiger als in der Schweiz, vielleicht wäre das ja was. Doch je länger die Malaria zurückliegt, desto weniger abwegig scheint es ihm, es doch noch einmal mit Kamerun zu versuchen. Dort kennt er sich schon aus, er weiss, worauf er sich einlässt, und dort wäre er nicht allein: Kathrin und Carole leben ja vor Ort. Im Juni 2019 nimmt er erstmals wieder Kontakt mit den beiden Frauen auf. Sie hätten sich gefreut, von Urs zu hören, erzählt Kathrin der Autorin später am Telefon. Und klar könne er wiederkommen, er müsse einfach genau sagen, wann, damit sie ihm eine entsprechende Einladung für das Visum schicken könnten. Sie halten nichts

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vom Alarmismus des Arztes, schliesslich leben sie jeden Tag mit der Gefahr, die das Leben auf dem Land in den Tropen mit sich bringt. «Das entscheidest du», sagt Kathrin zu Urs, «hier bist du auf jeden Fall willkommen.» Also macht Urs Nägel mit Köpfen und plant seine nächste Reise. «Angst habe ich keine, ein bisschen Respekt vielleicht.» Diesmal wird er die Prophylaxe-Tabletten nicht zuhause liegen lassen und genügend Anti-Brumm einpacken. Er lässt im Unispital abchecken, ob seine Gelbfieberimpfung noch wirksam ist nach all der Dialyse im Spital. «Falls ich merke, dass sich wieder etwas anbahnt, komme ich sofort retour», beschliesst er. Doch zuerst muss Urs reinen Tisch machen: Er hat noch Schulden bei Susanne Witschi, der Mutter von Kathrin. Ob er ihre Nummer noch einmal haben könne, fragt er Kathrin per SMS. Die pensionierte Lehrerin hatte ihm während seiner ersten Reise per Kreditkarte einen neuen Flug gebucht, als er in Istanbul seinen Anschlussflug verpasst hatte. Neben Geld hatte es Susanne vor allem Nerven gekostet, den am Atatürk-Flughafen gestrandeten

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Urs aus der Distanz mit einem neuen Ticket zu versorgen. Ihren Einsatz weiss Urs sehr zu schätzen, und deshalb will er seine Schulden begleichen. Dabei erfährt er, dass Susanne selbst eine Reise nach Kamerun plant. Er beschliesst: Ich gehe mit. «Ich war am Anfang sogar ein wenig enttäuscht», erzählt Susanne im Nachhinein. Sie hatte ihre Tochter und deren Freundin ein Jahr nicht gesehen, und nun würde sie deren Aufmerksamkeit teilen müssen. Aber sie sagt nicht nein. Einerseits weil Kathrin und Carole schon ihre Bereitschaft signalisiert haben, Urs wieder bei sich aufzunehmen. Und andererseits, weil für alle drei Frauen offenbar unstrittig ist, dass Urs ein Freund ist, den sie bei seinen Plänen unterstützen wollen. Obwohl er sich manchmal sehr darauf verlässt, dass andere sich schon kümmern – was er nicht so sieht. Susanne aber kennt ihre Grenzen: «Ich habe eine Bedingung gestellt: Wenn er mit mir reisen will, dann muss er die Nacht zuvor bei uns übernachten.» Sie weiss aus Erfahrung, dass Urs die Zeit nicht immer im Griff hat, und will verhindern, dass sie selbst wieder unter Druck gerät. Diesmal soll alles etwas geplanter vonstattengehen. «Etwa drei Wochen vorher haben wir begonnen, uns regelmässig zu treffen, um die Reise ein wenig aufzugleisen.» Gleichwohl kommt Urs am Tag vor der Abreise zu spät und mit einer langen Liste von Dingen, die er noch erledigen muss. Susanne fällt aus allen Wolken: «Er wollte dann noch Malaria-Medikamente und Werkzeug besorgen, Kleider holen an der Feldbergstrasse – und ich dachte, wenn er kommt, ist er fertig, dann essen wir noch Znacht und packen.» Die Malaria-Tabletten konnte er nicht früher holen, erklärt er, sonst hätte er das schon rechtzeitig gemacht. Susanne hilft dabei, die von Urs mitgebrachten Gastgeschenke in Koffer zu verpacken. Und ist überrascht, wie viele Gedanken Urs sich bei der Auswahl der Mitbringsel gemacht hat: Rebscheren für die Feldarbeit, Becher zum Trinken – praktische Dinge, aber auch feine, wie eine Schmuckuhr und ein gutes Olivenöl für sein «Kirchen-Schätzeli». So nennt Urs Caroles ältere Schwester, mit der er bei seinem ersten Besuch eine kleine Romanze hatte. Der lange Weg nach Afambassi Auf der Reise verläuft alles nach Plan. Ausser dass Urs das Anti-Brumm im Handgepäck verstaut hat und bei der Sicherheitskontrolle abgeben muss. «Eigentlich weiss ich, dass man keine Flüssigkeiten dabeihaben darf», sagt er, «ich habe nur nicht dran gedacht.» Dahin ist ein Teil der Malaria-Prophylaxe. Und das Zeug war teuer, ärgert sich Urs. Nachdem sie in Brüssel umgestiegen sind, sitzen Susanne und Urs im Flieger an unterschiedlichen Stellen. Bei der Zwischenlandung in Douala steigt Urs irrtümlich aus, kommt aber gerade noch rechtzeitig zurück, als er sein Versehen bemerkt. Susanne bemerkt, dass er weg ist und versucht, die Nerven zu behalten. In Yaoundé kommt einer der Koffer nicht an. Es dauert lange, bis sie die Verlustmeldung aufgeben können. Spät am Abend endlich das grosse Wiedersehen mit Kathrin und Carole in der Schalterhalle. Sie steigen in einen kleinen Bus mit Fahrer, den die Frauen für teure 70 Surprise 469/20

«Wenn Urs mit mir reisen will, muss er die Nacht zuvor bei uns übernachten.» SUSANNE WITSCHI

Franken gemietet haben, und machen sich auf den Weg nach Obala, der Kreisstadt, zu der ihr Dorf gehört. Für die rund 55 Kilometer Weg brauchen sie locker zweieinhalb Stunden. Der Verkehr ist chaotisch. Auf halber Strecke meldet sich der Flughafen: Der Koffer ist gefunden worden. Also umkehren, denn die beschwerliche Reise in die Stadt am nächsten Tag noch einmal zu machen, das wollen alle verhindern – auch wenn es inzwischen Mitternacht ist. Die Nacht verbringen sie schliesslich in einem kleinen Hotel in Obala. Am nächsten Morgen kommt nicht wie verabredet der Minibus für die Weiterfahrt ins Dorf. Also werden die vier Passagiere – Urs, Susanne, Kathrin und Carole – und die über sechzig Kilogramm Gepäck auf drei Motorräder verladen. So kommen sie sowieso besser durch: Es ist Regenzeit, die Strassen sind aufgeweicht. Weil es schon ihr vierter Besuch in Kamerun ist, hat Susanne sich an das Risiko solcher Fahrten gewöhnt. «Anfangs habe ich Blut geschwitzt, man sitzt da ja nicht allein auf dem Motorrad, sondern zu dritt oder viert plus Gepäck.» Immerhin: Kathrin und Carole mieten immer dieselben Fahrer, die sie als geübt und bei jedem Wetter zuverlässig erlebt haben. Die schlechten Strassen und beschwerlichen Transportmöglichkeiten sind ein grosses Thema: Kathrin und Carole besitzen weder ein Motorrad noch ein Auto. Aber rund fünf Hektar Land, auf denen sie Mais, Kochbananen, Erdnüsse, Chili, Papayas und andere Gemüsesorten anbauen. Neuerdings halten sie auch Hühner und beginnen mit einer kleinen Schweinezucht. Einen Grossteil ihrer Erzeugnisse verkaufen sie direkt im Dorf. Der Transport der Waren auf den Markt ist beschwerlich und schwer berechenbar. Während der Kakaoernte im November beispielsweise haben alle Fahrer, die ins 11


Dorf kommen, bereits einen konkreten Auftrag. Für andere Waren ist dann kaum Platz. Kann man seine Ernte aber nicht rechtzeitig zum Markt bringen, verderben die Waren. Bei schlechten Strassenverhältnissen geht zudem ein Grossteil des Ertrags allein für den Transport drauf. Urs kennt das Dorf schon vom letzten Besuch, nur hatten seine Freundinnen damals noch im Familienhaus gewohnt – wo auch Urs’ Kirchen-Schätzeli zuhause ist. Nun haben sie ein paar Kilometer weiter in Richtung Fluss ihr eigenes kleines Haus gebaut. Es steht auf ihrem Ackerland, etwas erhöht auf Stelzen und ganz aus Holz, mit grossen Fenstern, einem neuen Dach und einem grossen, mit einfachen Möbeln ausgestatteten Raum. Strom oder fliessend Wasser gibt es nicht, nur ein kleines Solargerät zum Aufladen der Mobiltelefone. Die Küche ist ein eigenes kleines Gebäude mit einer Feuerstelle, gegenüber vom Wohnhaus. Da es mittags zu heiss zum Arbeiten ist, muss man die frühen Morgenstunden und die Zeit vor der Dämmerung nutzen. Urs schätzt die einfache, harte Arbeit. Er lässt sich genau erklären, was die Ideen der Frauen sind, und macht, was er kann. Er befestigt den Treppenaufgang zu den Ställen, baut einen Kaninchenstall aus Holz und Maschendraht und giesst die Tröge für die Schweine sowie die Desinfektionswanne im Eingangsbereich des Hühnerstalls mit Zement aus. Er holt auch morgens das Brot vom Dorfladen, der einen Kilometer entfernt ist. Es freut ihn, wenn der Nachbarshund ihn begleitet. «Als würde er mit mir beim Laden vorbeischauen und fragen, wie geht es euch?» Kathrin und Carole sind mit ihrem Verein «Conseil de la Diaspora Africaine de Suisse – Branche Cameroun» an eine Landwirtschaftsschule in Obala angeschlossen. Die

«Ich denke, Urs könnte das. Man unterschätzt ihn o .» K ATHRIN WITSCHI

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Tierhaltung erfordert spezielle Kenntnisse, die Kathrin sich dort in einem aufgrund ihrer Schulbildung etwas verkürzten Lehrgang aneignen konnte. Demnächst bekommen die beiden Frauen auch Praktikanten aus dieser Schule, die bei ihnen mitarbeiten werden. Nachhaltigkeit und ihren Arbeitern eine Ausbildung zu bieten, ist den Frauen ein Anliegen. Mutter Susanne hat dafür Verständnis, sie ist selbst leidenschaftliche Gärtnerin und ein grosser Fan von natürlichem Saatgut und der Bewahrung alter Sorten. In Afambassi fasziniert sie die Dichte der Vegetation vor Ort. «Da kommt man überhaupt nicht durch ohne Machete», sagt Susanne. Was Kathrin und Carole Plantagen nennen, sind aus Susannes Sicht eher Wildpflanzungen. Mit ihrem Natel fotografiert sie die vielen Schmetterlinge, die sich überall niederlassen. Grosse Falter in schönen Farben. «Der Grösste, der ist so blauviolett, der sitzt nie ab.» Wieder eine Tropenkrankheit Urs würde derweil gern die Transportproblematik lösen. Er plant, bei seinem nächsten Besuch ein kleines Unternehmen aufzumachen und per Cargo ein landwirtschaftliches Zugfahrzeug aus der Schweiz hierher zu schiffen. Grosse Pläne für einen, der beim Packen seines Koffers Assistenz brauchte. «Ich denke trotzdem, er könnte das», sagt Kathrin, «man unterschätzt ihn oft.» Auch Solaranlagen zur Stromgewinnung möchte Urs ins Dorf bringen. Kathrin kann sich vorstellen, dass Urs irgendwann dauerhaft in Afambassi bleibt. Unter einer Bedingung: «Urs muss Französisch lernen, einfache Sätze, damit er allein zurechtkommt.» Eines Tages reist Urs mit seinem Kirchen-Schätzeli nach Yaoundé, wo ihre bereits erwachsenen Kinder leben. «Der Sohn wollte aber Geld für die Übernachtung, war ziemlich aggressiv», erzählt Urs, das ist ihm unverständlich. Also geht er. Nun ist er, mit seinem limitierten Französisch, allein in der Millionenstadt. Das Kirchen-Schätzeli meldet Kathrin und Carole per Telefon, dass Urs weggegangen ist. Kathrin und Carole im Dorf machen sich Sorgen und sind aufgebracht, dass die Schwester ihn hat gehen lassen. Urs hat kein funktionierendes Telefon bei sich. Nun mobilisieren die beiden Frauen sämtliche Busfahrer, die von Obala nach Yaoundé fahren. Sie sollen nach einem einsamen weissen Mann Ausschau halten, der zu Fuss unterwegs ist. «Wir haben uns grosse Sorgen gemacht», erzählt Kathrin. Das Kirchen-Schätzeli findet ihn schliesslich als Erste wieder: Urs sitzt an einem Verkehrskreisel nicht allzu weit von ihrem Haus, weigert sich aber, mit ihr zu reden. Er kann sehr stur sein, wenn ihm etwas gegen den Strich geht. Thimothé, ein enger Freund von Kathrin und Carole, sammelt ihn schliesslich mit dem Motorrad ein. Es ist Nacht, als sie wieder ins Dorf kommen. Ein paar Tage vor Susannes Rückreise merkt Kathrin, dass irgendwas mit der Mutter nicht stimmt, weiss es aber nicht richtig einzuordnen. Den Symptomen nach – Fieberschübe bis 40 Grad, Schwindel – könnte es Malaria sein. Susanne nimmt – im Gegensatz zu Urs – keine Prophylaxe-Medikamente. Da der Arzt vor Ort keine difSurprise 469/20


ferenzierte Diagnose stellen kann, bekommt Susanne Medikamente gegen Malaria und Amöbenruhr gespritzt. Das hilft zwar so weit, dass sie für den Heimflug den Durchfall los ist, aber sie kann nicht mehr richtig laufen. Kathrin und Carole organisieren am Check-in, dass man Susanne im Rollstuhl bis ins Flugzeug bringt. «Ich konnte nicht mal die Handtasche tragen und musste mich beim Aufstehen mit der Rückseite der Beine immer an eine Wand lehnen, um zu merken, ob ich geradestehe», erinnert sich Susanne. Trotz Medikamenten wird es auf der Reise und in Basel immer schlimmer. Sie hat Halluzinationen. «Mit Ton und Bild: Im Kopf hat es Tatütata gemacht, dann Bohrmaschinengehämmer oder Kirchenchoräle in Endlosschlaufe.» Noch in der Nacht lässt sie sich ins Unispital bringen. «Ich habe bei mir in der Strasse Schwärme von Schmetterlingen gesehen, als ich aus der Haustür kam. Und ich wusste, im Dezember gibt es bei minus zwei Grad in Basel keine Schmetterlinge.» Susanne nennt es feindliche Übernahme, was in ihrem Kopf passiert. Im Unispital wird Malaria ausgeschlossen. Im Stuhl finden die Ärzte drei Stämme von Coli-Bakterien, die behandelt werden. Dazu wird eine Amöbenruhr diagnostiziert. Vier Tage muss Susanne im Spital bleiben. Urs fühlt sich derweil so wohl, dass er sich sogar Zöpfe aus grauem Kunsthaar in seine wilde Mähne und den Bart flechten lässt. Mit der Malaria-Prophylaxe nimmt er es diesmal genau. Aber wie man an Susanne sieht, ist das nicht die einzige Gefahr. Kathrin und Carole erklären ihm zusätzlich, wie man sich verhalten muss, um generell möglichst wenig Infektionsrisiko ausgesetzt zu sein. «Wenn er einmal versteht, warum er etwas nicht machen darf, dann geht’s.» Kathrin weiss, wovon sie redet: Sie hatte selbst schon schwere Malaria, einmal Typhus, und Carole vor etwa einem Jahr eine Amöbeninfektion. Im Juni zurück Vor der Abreise hatte Urs in Basel seine Impfungen auffrischen lassen. Gegen Ende seines Aufenthaltes bekommt er Durchfall, der auch nach der Rückkehr nach Basel noch anhält. Erst als er die Medikamente – die man nach der Reise noch weiter nehmen sollte – eines Abends vergisst, wird es besser. Er setzt die Pillen ab. «Das ist massives Material», sagt er danach und meint damit die Nebenwirkungen der Malaria-Medikamente. Stolz zeigt er derweil allen seine Kamerun-Souvenirs: Das T-Shirt, Schweissband und die Mütze in den Nationalfarben des zentralafrikanischen Landes trägt er jetzt täglich. Es sind Geschenke seines Kirchen-Schätzeli. Auch bei Susanne ist mittlerweile alles wieder in Ordnung. Die Therapie im Spital hat die Halluzinationen verringert. Als die besorgte Kathrin in Kamerun endlich per WhatsApp erfährt, dass ihre Mutter in Basel wieder gesund ist, schickt sie drei Zeilen voller fröhlicher Emojis. «Obersuper, ich freue mich sehr.» Sie hatte zwischendurch noch andere Sorgen: Carole war von einer Giftschlange gebissen worden – hatte aber Glück. Ein Nachbar hat sie mit dem Motorrad in die Stadt gebracht, um die Anti-Seren zu bekommen. Und die haben geholfen. Surprise 469/20

Urs beobachtet sich derweil selbst genau, um nicht doch noch einmal eine unentdeckte Infektion zu verschleppen. Es geht ihm auch Wochen nach der Rückkehr gut, in seiner Kamerun-Kluft verkauft er nun Plaketten für die Basler Fasnacht. Im Juni möchte er wieder zurück, diesmal für ein halbes Jahr, das Transportunternehmen aufmachen. Was soll er schon verlieren? Das Zimmer ohne Kochgelegenheit in dem Haus an der Feldbergstrasse, das die Sozialhilfe ihm bezahlt, oder die minimale AHV, die er einmal bekommen wird? Über das Existenzminimum wird er hier nicht mehr weit hinauskommen. Nach Kamerun auszuwandern, das ist seine Vorstellung von Selbstbestimmung. Davon halten Urs auch Amöben, Malaria und Giftschlangen nicht ab. Und eine Aufgabe hat er dort auch. Hintergrund: Urs Saurers erste Reise nach Kamerun und deren Folgen haben wir 2018 in der dreiteiligen Serie «Urs bricht auf» dokumentiert. Online nachzulesen unter: surprise.ngo/angebote/strassenmagazin/surprise-wirkt

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Gute Medikamente, schlechte Medikamente Depressionen Antidepressiva sind für die Pharmaindustrie ein grosses Geschäft.

Dabei wirken sie kaum besser als Placebos, zeigen Studien. Stimmt das? TEXT ANDRES EBERHARD

Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Termin bei Ihrem Hausarzt und klagen über innere Leere. Sie seien stets müde, sähen im Leben keinen Sinn, hätten an nichts mehr Freude, könnten sich zu nichts aufraffen. Und dann sind da auch noch Schuld- und Minderwertigkeitsgefühle, weil Sie all dies an sich selbst nicht ausstehen können. Wie wird Ihr Arzt reagieren? Womöglich wird er Sie an eine Therapeutin oder einen Psychiater überweisen. Die Chance ist gross, dass er Ihnen neben einer Verordnung zur Psychotherapie auch gleich eine Packung Antidepressiva mitgibt. Die Zahl depressiver Menschen steigt seit Jahren – über 300 Millionen sind es gemäss der Weltgesundheitsorganisation WHO weltweit. In wohlhabenden Ländern wie der Schweiz sind es besonders viele. Viele von ihnen, rund 700 000, schlucken Antidepressiva. Experten warnen davor, dass zu viele Menschen mit einer leichten Depression Medikamente mit teils gravierenden Nebenwirkungen einnehmen. Die Betroffenen belasten damit nicht nur sich selbst, sondern durch die Kosten auch das Gesundheitssystem. Kritisch ist diese Entwicklung vor allem darum, weil sich immer stärker eine Erkenntnis durchsetzt: Antidepressiva wirken nicht sonderlich gut. Im Spätherbst letzten Jahres sorgte eine Publikation des renommierten Forschungsnetzwerks Cochrane für Aufsehen. Die dänischen Forscher schrieben, dass Antidepressiva kaum besser wirkten als Placebos. Zu diesem Schluss kamen sie, nachdem sie über 500 Studien zum Thema ausgewertet hatten. Auf einer Skala von 52 Punkten schnitten Antidepressiva um weniger als zwei Punkte besser ab als Zuckertabletten. Diesen marginalen Unterschied würden Ärzte nicht einmal feststellen können, hielt das Autorenteam fest. Surprise 469/20

FOTOS HENRI LÜNSMANN

Auch wenn der Aufschrei nach Erscheinen der Studie gross war: Neu ist diese Erkenntnis nicht. Bereits 2002 kamen Meta-Untersuchungen zu vergleichbaren Ergebnissen. 82 Prozent der Wirkung von Antidepressiva seien mit dem Placebo-Effekt zu erklären, hiess es damals. Der grosse Einfluss der Scheinmedikamente bei Depressionen kommt nicht von ungefähr; schliesslich ist Hoffnungslosigkeit ein typisches Symptom der Krankheit. Allein durch die Aussicht auf Besserung fühlen sich manche Betroffene besser. Unbekannte Ursachen Zurück zu Ihrem Arzttermin: Sie möchten wissen, warum Sie Medikamente einnehmen sollen. Ihre Hausärztin wird Ihnen erklären, dass Sie an einer Depression leiden. Nun sind Sie aber besonders neugierig und fragen, wozu denn Antidepressiva gut sind. «Die Medikamente bringen gewisse Hirnbotenstoffe wie Serotonin, Dopamin, Adrenalin oder Noradrenalin wieder ins Gleichgewicht», wird die Ärztin antworten. Sie geben aber nicht nach: Woher sie denn wisse, dass es Ihnen an diesen Stoffen mangle. In diesem Fall bleibt Ihrer Ärztin – sofern sie Sie nicht anlügt – nur eine Antwort übrig: «Wissen kann ich das nicht.» Nicht nur Ihr Hausarzt, auch sonst niemand weiss, was Depressionen auslöst. Das ist erwähnenswert, weil Pharmafirmen ein halbes Jahrhundert lang das Gegenteil behauptet haben. Sie brachten neue Medikamente auf den Markt, die sie als Wundermittel gegen Depressionen vermarkteten. Dass Hirnbotenstoffe etwas mit psychischen Prozessen und damit auch mit Krankheiten zu tun haben, wurde zwar erforscht. Aber das heisst noch nicht, dass ein Mangel an Serotonin, Dopamin und Co. die Ursache einer Depression ist.

Misstrauisch hätte machen können, dass die Erforschung sämtlicher Antidepressiva auf einem Zufallsfund beruht. Das erste Präparat wurde Anfang der 1950erJahre von der Firma Hoffmann-La Roche entwickelt. Die Forscher waren auf der Suche nach einem Wirkstoff gegen die damals unheilbare Tuberkulose. Dabei stellten sie fest, dass bettlägerige, teils todgeweihte Testpersonen plötzlich «ungewöhnlich fröhlich» wurden. Um die Welt gingen Fotos des Life-Magazins aus einem abgelegenen New Yorker Spital, wo Tuberkulose-Patienten gemeinsam auf den Gängen tanzten. Plötzlich interessierten sich auch Psychiater für den Stoff namens Iprionazid, und weil sich bei Patientinnen mit Depressionen ein ähnlich aktivierender Effekt zeigte, kam das Mittel unter dem Namen Marsilid auf den Markt. Per Zufall hatte man also ein Medikament gefunden, das wirkte. Nun wurden daraus Annahmen über die Krankheit entwickelt. Zwar wurde Marsilid wegen seiner schlimmen Nebenwirkungen – etliche erkrankten an Heptatitis, manche starben – nach wenigen Jahren durch andere Präparate ersetzt. Doch das Prinzip blieb dasselbe: Während vieler Jahre versuchte man, den «aktivierenden» Effekt von Marsilid zu reproduzieren, und dabei die Nebenwirkungen zu minimieren. Dass der ganzen Forschung eine Fehlannahme zugrunde liegen könnte, ging vergessen. Das grosse Geschäft In seinem Buch «The Inflamed Mind» beschreibt der Neurowissenschaftler Edward Bullmore beispielhaft, wie weit die Forschung über Depressionen teilweise von der Wirklichkeit entfernt war. Um ein neues Antidepressivum zu finden, wurde in der Regel zunächst ein Test mit Mäusen durchgeführt. Die Maus wurde an ihrem Schwanz aufgehängt, worauf sie eine 15


Weile lang zappelte, um sich zu befreien. Irgendwann hörte sie auf zu kämpfen und blieb reglos hängen. Je schneller die Maus aufgab, so die Annahme, desto depressiver war sie. Medikamente sollten dazu führen, dass die Maus länger kämpft. «Man muss kein Experte sein, um zu erkennen, dass eine kopfüber in der Luft baumelnde Maus nicht die beste Simulation einer menschlichen Depression ist», schreibt Bullmore. Trotzdem funktionierte die Marketing-Maschinerie der Pharmaindustrie über Jahre – bis das Geschäft erschöpft war. Vor rund dreissig Jahren wurden die letzten innovativen Antidepressiva entdeckt. Danach suchten die Herstellerfirmen noch viele Jahre lang nach neuen, besseren Medikamenten, die auf die bekannten Hirnbotenstoffe zielten. Doch die Erfolge blieben nun aus, und vor rund zehn Jahren zogen sie sich grösstenteils aus der Forschung zurück, wie die Historikerin Anne Harrington im Buch «Mind Fixers» nachzeichnet. Obwohl die Zahl psychisch kranker Menschen ansteigt, liessen Pharmafirmen die Finger von der Erforschung neuer Therapien. Die Entwicklung von Medikamenten kostet sie Millionen. Mit dem Verkauf der gängigen Antidepressiva verdienen sie allein in der Schweiz immerhin noch jährlich rund 200 Millionen Franken. Neue Erkenntnisse Als «biologische Revolution» wurden Psychopharmaka einst gefeiert. Auch wenn sich diese allzu euphorischen Hoffnungen in Luft aufgelöst haben: Ein Ehrenplatz in der Psychiatriegeschichte dürfte ihnen dennoch sicher sein. Schliesslich befreiten sie Betroffene aus unmenschlichen Bedingungen in geschlossenen Anstalten und lösten schreckliche Methoden wie die Lobotomie (Hirnoperationen bei psychisch Kranken) ab. Das Zeitalter der Antidepressiva könnte allerdings demnächst vorbei sein. Was aber kommt als Nächstes? Möglich, dass eine nächste, dieses Mal vielleicht echte «biologische Revolution» vor der Tür steht. So zumindest sieht es Neurowissenschaftler Bullmore. Studien weisen nämlich einen Zusammenhang zwischen Depressionen und Entzündungen im Körper nach. Erstmals konnte ein Biomarker gefunden werden, eine messbare körperliche Auffälligkeit, die mit einer Depression in Verbindung steht. Man geht davon aus, dass rund vierzig Prozent aller 16

Betroffenen erhöhte Entzündungswerte aufweisen – ein Forschungsfeld, in das zu investieren auch für die Pharmaindstrie wieder interessant werden könnte. Kommen wir ein letztes Mal zurück zu Ihrem Arzttermin und verlegen ihn zehn Jahre in die Zukunft. Was könnte sich für Sie ändern? Womöglich wird Ihr Hausarzt Ihnen etwas Blut abnehmen. Bei einem auffälligen Entzündungswert wird er Ihnen statt eines Antidepressivums ein Antibiotikum verschreiben. Falls Sie skeptisch sind, könnte er Sie mit folgenden Worten beruhigen: «Ob eine Entzündung die Depression auslöst oder umgekehrt, wissen wir

nicht. Aber es spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass wir den Teufelskreis durchbrechen, in dem sich Körper und Geist befinden.» Vielleicht zeigt Ihre Blutprobe aber auch andere Auffälligkeiten, die andere Therapien notwendig machen. Oder aber Ihre Ärztin wird sagen: «Wir können nicht wissen, was Ihre Depression auslöst.» Auch das wäre ein Fortschritt, schliesslich lehrt die Geschichte der Psychiatrie eine gewisse Zurückhaltung vor allzu hohen Erwartungen. Nur eines ist sicher: Keine Depression ist wie die andere. Und so wird es die Wunderpille, die allen depressiven Menschen hilft, niemals geben. Surprise 469/20


«Keine Sache des Glaubens» Wissenschaft Die Wirkung von Antidepressiva werde in Studien unterschätzt, sagt Universitätsprofessor Erich Seifritz.

FOTO: ZVG

INTERVIEW ANDRES EBERHARD

Herr Seifritz, glauben Sie an die Wirkung von Antidepressiva? Das ist keine Frage des Glaubens. Klinische Studien zeigen klar: Antidepressiva wirken signifikant besser als Placebos. Dass sie wirksam sind, sehen wir Psychiaterinnen und Psychiater auch jeden Tag in unserer praktischen Tätigkeit. Meta-Analysen zeigen allerdings, dass die Pillen kaum besser wirken als Placebos. Wie erklären Sie sich das? Auch diese Studien beweisen die Wirksamkeit von Antidepressiva. Sie bestätigen, dass Antidepressiva einen signifikanten Zusatzeffekt besitzen, der über denjenigen der Placebo-Wirkung hinausgeht. Der Effekt ist aber klein. Die Wirksamkeit von Antidepressiva wird in Meta-Analysen unterschätzt. In einer wissenschaftlichen Studie wird ein Patient über sechs bis acht Wochen mit dem gleichen Medikament in gleicher Dosierung behandelt – unabhängig davon, ob er auf die Therapie anspricht und ob er das Medikament verträgt. Kein Arzt oder Psychiater würde einen Patienten auf diese Weise behandeln. Sondern? Er würde die Therapiewirkung engmaschig verfolgen, und wenn sich innerhalb von wenigen Tagen keine Besserung der Symptome ergibt, würde er die Behandlung anpassen. So etwas ist in Studien nicht möglich. Es wird kritisiert, dass zu vielen Patienten mit leichter Depression Antidepressiva verschrieben werden. Die neueste Forschung zeigt eindeutig, dass auch leicht depressive Patienten von Antidepressiva profitieren. Dies bestätigt auch meine Erfahrung als Arzt. Es braucht aber viel klinische Erfahrung, um abzuschätzen, ob es sich bei einer leichten Depression um den Beginn einer ernsthafSurprise 469/20

ten Erkrankung handelt oder um eine Befindlichkeitsstörung, die auch mit klärenden Gesprächen gebessert werden kann. Die Nebenwirkungen von Antidepressiva sind teils massiv. Reicht manchmal auch eine Psychotherapie? Eine Psychotherapie ist nicht milder, auch sie kann ernsthafte Nebenwirkungen haben. Doch im Gegensatz zu Medikamentenstudien können diese nicht eindeutig beziffert werden. Dies aus dem einfachen Grund, dass es kein Placebo für Psychotherapie gibt – und deshalb auch keine Doppelblind-Studien existieren, bei denen weder Patient noch Ärztin wissen, ob das Medikament oder ein Placebo gegeben wird. Daher wird die Wirksamkeit von Psychotherapie eher überschätzt. Im Gesamtvergleich sind Antidepressiva und gewisse wissenschaftlich geprüfte Psychotherapiemethoden bei der Depressionsbehandlung etwa gleich wirksam. Am wirksamsten ist aber klar die persönlich abgestimmte Kombination aus Medikamenten, Psychotherapie und sozialen Massnahmen. Sie verteidigen Antidepressiva vehement. Wunderpillen sind sie aber nicht, oder? Das habe ich nie behauptet. Es sind gute Medikamente mit guter Wirkung auf eine belastende und gefährliche Erkrankung. Sowohl die neurobiologischen als auch die psychologischen Grundlagen von Depressionen sind extrem komplex und noch unvollständig verstanden. Daher ist die Forschung auf diesem Gebiet ja so wichtig. Sie ist die Grundlage für noch wirksamere Therapien als jene, die wir heute schon haben.

PROF. DR. ERICH SEIFRITZ ist Klinikdirektor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.

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«Wie können wir den Sudan ändern, wenn wir uns nicht dafür einsetzen, dass Frauen alles tun können, was sie wollen?» BAYAN ALI

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Der lange Kampf Arabischer Frühling Die sudanesische Revolution war eine Frauen-Revolution. Ein Jahr später zeigt sich: Der Protest der Sudanesinnen ist noch lange nicht vorbei. TEXT MERET MICHEL

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SUDAN

Die Boxhandschuhe liegen bei der Wand, während Bayan Ali und ihre Mitkämpferinnen sich mit Liegestützen und Spingübungen aufwärmen. Aus der Stereoanlage dröhnt amerikanischer Pop, draussen versuchen ein paar Buben, durch die Fenster einen Blick ins Innere zu erhaschen. Bayan Ali ist klein und zierlich, aber sie ist definitiv eine der fittesten hier. Seit März letzten Jahres kommt die 21-Jährige zweimal die Woche ins Frauentraining im Kampfsportzentrum «Muqatel» – «Kämpfer» auf Deutsch – im Herzen der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Damals war ihre Universität geschlossen, die Revolution gegen den Diktator Omar al-Baschir in vollem Gange, und für Ali, die sagt, sie könne nicht einfach zuhause sitzen und nichts tun, war das Thaibox-Training neben einem Spanisch-Kurs und den täglichen Demonstrationen eine willkommene Beschäftigung. Die Frauengruppe startete im November 2018. Trainer Muhammad al-Munir hatte sie ins Leben gerufen. Er sagt, er möchte jedem und jeder die Möglichkeit geben, Kampfsport zu lernen. Denn auf der Matte, so al-Munir, würden Herkunft, Geschlecht und sozialer Status keine Rolle mehr spielen. So entspannt die Atmosphäre im «Muqatel» heute ist – es ist nicht lange her, da hätten die Frauen und ihr Trainer für das, was sie hier machen, verhaftet und ausgepeitscht werden können. Unter dem alten Regime war Kampfsport quasi per Gesetz verordnet, nichts für Frauen. Schliesslich waren sie beim Training, in Hosen und manche ohne Kopftuch, mit einem fremden Mann im selben Raum. Dreissig Jahre lang regierte der Machthaber Omar al-Baschir den Sudan mit äusserster Härte: Oppositionelle verschwanden, das Regime schürte den Hass zwischen den verschiedenen Volksgruppen. Wegen seiner Rolle im Bürgerkrieg in Darfur 2003 ist al-Bashir international wegen Völkermords angeklagt und zur Haft ausgeschrieben. Doch auch die Frauen litten besonders unter «Keizan», wie das Regime landläufig genannt wird. Diverse Gesetze zielten darauf ab, sie aus dem öffentlichen Raum und dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen: So waren etwa auf der Strasse das Kopftuch Pflicht und Hosen verboten. Um zu arbeiten oder ins Ausland zu reisen, brauchten Frauen die Einwilligung eines Surprise 469/20

männlichen Vormunds. Der Sudan ist eines von sechs Ländern weltweit, das die UN-Konvention zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) nicht unterschrieben hat. Die Kontrolle über die Frauen unter dem Vorwand der Scharia war das einfachste Mittel für den Machthaber, die Gesellschaft zu disziplinieren. Neue Fronten Als im Dezember vor einem Jahr nach einer Erhöhung des Brotpreises Massenproteste gegen das Regime ausbrachen, waren die Frauen an vorderster Front dabei. An vielen Protesten machten sie mehr als die Hälfte der Teilnehmenden aus. Dann, im April 2019, ging ein Bild viral, das die 22-jährige Architekturstudentin Alaa Salah zeigte, wie sie im traditionellen Gewand und mit erhobenem Zeigefinger auf einem Autodach über der Protestmenge stand. Von da an war die sudanesische Revolution auch in den internationalen Medien vor allem eins: eine Frauen-Revolution. Viele Sudanesinnen schöpften Hoffnung, dass sich ihre Situation nun endlich bessern könnte. Omar al-Baschir stürzte im April 2019, im Juli wurde eine Übergangsregierung gebildet, die je zur Hälfte aus dem Militär und den «Kräften für Freiheit und Wandel» (FFC) bestand, einer Koalition zivilgesellschaftlicher Parteien und Organisationen. Seither hat sich für die Frauen einiges geändert. In den zentralen Quartieren Khartums sieht man Frauen ohne Kopftuch, in Hosen oder manchmal im T-Shirt unterwegs. An Ausstellungen und Vernissagen sind Männer wie Frauen unter den Gästen, in den Gärten der Kulturzentren sieht man sie rauchen. Nach drei Jahrzehnten Repression heisst dies viel für die sudanesischen Frauen. Und dennoch: Der Kampf für Gleichberechtigung endet nicht mit dem Fall des Regimes. Das musste Bayan Ali im Sommer vergangenen Jahres selbst erfahren. Damals wollte sie an einem Thaibox-Wettkampf in den Vereinigten Arabischen Emiraten teilnehmen. Es wäre eine gute Erfahrung, dachte Ali – und sie wäre die erste sudanesische Frau, die für den Kampfsport ins Ausland reist. Doch dafür brauchte sie die Einwilligung ihres Grossvaters. Bei ihm lebt Ali derzeit, während ihre Eltern in Saudi-Arabien arbeiten. Und der sah die Sache ganz anders: Kampfsport sei nichts für Frauen, sagte er seiner Enkelin. Erst recht nicht, wenn Ali 19


Ärztin werden wolle. Was für ein Bild das abgeben würde, eine Ärztin, die Menschen hilft und gleichzeitig Kampfsport beherrscht? Er wollte sie nicht gehen lassen. In der Antwort, die sie ihm daraufhin gab, steckt das Kerndilemma jeder Revolution, die gegen Unterdrückung, für Gerechtigkeit und Freiheit kämpft: «Wie können wir den Sudan ändern, wenn wir uns nicht auch dafür einsetzen, dass Frauen alles tun können, was sie wollen?» Oder anders gefragt: Führen der Sturz der Diktatur und die Transformation zur Demokratie auch automatisch zu einer gerechteren Gesellschaft? Der Grossvater stammt aus dem Quartier al-Burri, das in Khartum als Epizentrum der Revolution gilt. Und natürlich war auch er für den Sturz des Regimes, für «Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit», wie ein bekannter Slogan besagt. Doch dass seine Enkelin für den Kampfsport nach Abu Dhabi reisen wollte, ging ihm zu weit: «Das ist gegen die Tradition», sagte er ihr. Ein typisches Phänomen, das sich in der Vergangenheit immer wieder zeigte, bei der Revolution für die Unabhängigkeit Ägyptens ebenso wie während des Arabischen Frühlings 2011: Nach der Euphorie auf der Strasse, wo Frauen und Männer geeint gegen das Regime kämpfen, sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern zurückkehren zum Status quo. Zumindest, wenn es nach den meisten Männern geht. Doch viele Frauen im Sudan sind nicht bereit, das Feld wieder zu räumen. Ihr Kampf ist nicht zu Ende, er findet jetzt nur an neuen Fronten statt: gegen die patriarchalen Strukturen in den Köpfen ihrer Väter, Grossväter, Brüder und Ehemänner. Gegen Politiker, die sich zwar für die politische Beteiligung von Frauen aussprechen, aber wenig dafür tun. Und, noch immer, gegen die konterrevolutionären Kräfte, die hinter den Kulissen alles versuchen, um das Rad der Revolution zurückzudrehen. Die Dämmerung taucht das Sportfeld in ein rötliches Licht. Plastikstühle stehen vor einer Bühne, ein Zug von Menschen schreitet, sudanesische Flaggen schwenkend, über den Rasen. Zum heutigen Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen haben ein paar Organisationen eine Veranstaltung organisiert. Fast täglich, so hat man das Gefühl, finden in Khartum politische Treffen und Workshops, aber auch Kunstausstellungen und Konzerte statt. Das allein wirkt nach dreissig Jahren unter al-Baschir wie eine Befreiung. Auf einem der Stühle sitzt Susan Hassan al-Shawiya. Sie ist eine der Gründerinnen von MANSAM, einem Verbund von Frauen, der sich mit der Revolution gebildet hat und für Frauenanliegen lobbyiert. «Wir wollten damals als Frauen die Revolution unterstützen», sagt al-Shawiya. «Wir wissen, wie brutal das Regime gegen junge Männer vorgeht, die demonstrieren.» Sie hofften, ihnen durch ihre Anwesenheit Schutz zu bieten. Frauen aus allen Schichten Jetzt, in der Übergangsphase, setzen sie sich vor allem dafür ein, mehr Frauen in diverse politische Gremien einzubringen. Unter anderem haben sie erreicht, dass in der neuen Regierung vier Ministerinnen sitzen. Das zivile Parteibündnis FFC sprach sich schon im Dezember 2018 für eine 40-Prozent-Frauenquote in allen politischen Gremien aus. In der Deklaration bei der Bildung der Übergangsregierung ein halbes Jahr später war die Quote zumindest noch fürs Parlament festgehalten. Die Realität ist bis heute noch weit davon entfernt. Auch manche Aktivistinnen sind skeptisch angesichts der Fixierung mancher Gruppen auf die 20

Fühlt sich als Schwarze Frau doppelt diskriminiert: Rayan Mahmud.

Frauenquote. «Ich befürchte, für viele Parteien ist eine Quote der einfachste Weg zu zeigen, dass sie sich für Frauen einsetzen», sagt Hala al-Karib von der Menschenrechtsorganisation Siha, die sich besonders für die Stärkung von Sudanesinnen aus marginalisierten Gesellschaftsschichten einsetzt. Al-Karib wehrt sich gegen die Vorstellung, dass mehr Frauen in der Politik automatisch zu mehr Gleichberechtigung in der Gesellschaft führten. Wahre Repräsentation, sagt sie, müsse die Diversität der sudanesischen Frauen miteinbeziehen. «Wer sind denn diejenigen, die am meisten von einer Quote profitieren? Es sind Frauen aus der Khartumer Mittel- und Oberschicht.» Dabei lebten siebzig Prozent der Sudanesinnen und Sudanesen ausserhalb des Grossraums Khartum und ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Die Situation der Frauen in Konfliktgebieten wie Darfur sei kaum zu vergleichen mit jener der Menschen in der Hauptstadt. Bis heute müssen viele von ihnen fürchten, vergewaltigt zu werden, wenn sie nur schon zum Wasser holen ihr Haus verlassen. Statt Quoten einzuführen, solle die Regierung auf der Gesetzesebene ansetzen: diskriminierende Gesetze abschaffen, die Ratifizierung der CEDAW-Resolution vorantreiben und konkrete Massnahmen ergreifen, um Frauen zu fördern. «An den Universitäten schliessen jedes Jahr hunderte Ingenieurinnen ab», sagt al-Karib. «Aber viele finden keinen Job. Manche Firmen sagen, dass sie keine Frauen einstellen könnten, weil sie keine Toiletten für Frauen hätten.» Surprise 469/20


Um einen Eindruck der Komplexität zu erhalten, reicht es, eine Stunde aus dem Zentrum Khartoums ins Quartier al-Hajj Yussif zu fahren. Nach und nach weichen die mehrstöckigen Gebäude flachen Lehmbauten, und statt Autos verstopfen irgendwann fast nur noch Tuktuks die Strassen. Hier lebt Rayan Mahmud zusammen mit ihrer Familie. Ihre Eltern sind vor Jahrzehnten vor dem Krieg in den Nuba-Bergen in die Hauptstadt geflohen. Seither leben sie, wie fast alle Bewohner dieses Quartiers, als Flüchtlinge im eigenen Land, und viele kämpfen mit Armut, denn Arbeit gibt es in al-Hajj Yussif kaum. Nicht wenige der jungen Männer schliessen sich den «Rapid Support Forces» an, jener berüchtigten Miliz, die hauptsächlich an dem Massaker gegen Protestierende vergangenen Sommer beteiligt war. Heimlich an die Demo «Jeder hatte seine ganz persönlichen Beweggründe, warum er an der Revolution teilnahm», sagt Mahmud. Bei der 21-jährigen Medizinstudentin war es die doppelte Diskriminierung, die sie auf die Strasse trieb: «Weil ich eine Frau bin. Und wegen meiner dunklen Hautfarbe.» Im letzten Jahr bekam sie dies immer wieder zu spüren, als sie sich für Praktikumsstellen in Spitälern bewarb. «In einem Spital sagte mir der Verantwortliche, dass sie keine Frauen einstellen würden.» In anderen, so glaubt Mahmud, sei sie aufgrund ihrer Hautfarbe nicht genommen worden. Rassismus und Diskriminierung, vor allem vonseiten der arabisch-stämmigen Sudanesen aus dem Norden gegenüber den Schwarzafrikanerinnen aus dem Süden des Landes, sind noch immer weit verbreitet. Als der Aufstand im Dezember 2018 begann, hatte Rayan Mahmud wochenlang an den Demonstrationen teilgenommen, ohne ihrer Familie davon zu erzählen. Sie war sich sicher, dass ihr Vater es ihr nicht erlauben würde aus Angst, es könnte ihr etwas geschehen. Doch Mahmud war das egal. Sie setzte grosse Hoffnungen in die Revolution: Sie glaubte, dass diese neue Einheit während der Demonstrationen – zwischen Männern und Frauen, zwischen Sudanesinnen aus allen Regionen des Landes – anhalten würde. Zusammen mit anderen jungen Frauen in ihrem Quartier gründete sie eines der Widerstandskomitees in al-Hajj Yussif. Diese Komitees entstanden während der Revolution in den verschiedenen Stadtteilen, sie brachten die Aktivistinnen und Aktivisten zusammen, hier organisierten und engagierten sie sich. In al-Hajj Yussif etwa bauten sie neue Wasserleitungen und zogen Stromkabel zu den Häusern, nachdem das Regime ihnen Wasser und Strom abgestellt hatte. Es war nur eine von vielen Bosheiten, mit denen Keizan versuchte, die Menschen hier dafür zu bestrafen, dass manche sich auflehnten. Doch dann wurden Mahmud und die anderen Frauen aus dem Komitee geworfen. Als es im Quartier eine Wahl gab dazu, wer künftig im Komitee sitzen sollte, habe eine Gruppe von Männern zu den Frauen gesagt, dass ihre Rolle nun vorüber sei. «Sie meinten, wir Frauen könnten am Abend ja ohnehin nicht mehr das Haus verlassen. Dabei stimmt das gar nicht», sagt Mahmud. Die junge Frau ist stur. Sie und die anderen Gründerinnen stellten sich dennoch zur Wahl, und Mahmud ist sich sicher, dass sie gewählt wurde: Die Wahl erfolgte per Handzeichen. Dennoch stand ihr Name nicht auf der Liste der neuen Mitglieder. Mahmud glaubt, dass die Männer, die dahintersteckten, von Anhängern des alten Regimes instrumentalisiert wurden, um die Frauen Surprise 469/20

loszuwerden: ein konterrevolutionärer Putsch. «Sie wissen, dass sie uns nicht bestechen können, deswegen wollten sie uns raushaben», sagt sie. «Denn wir Frauen haben zu sehr unter dem Regime gelitten, als dass wir uns jetzt von ihm kaufen lassen.» Mahmud ist, bisher zumindest, enttäuscht von der Revolution. Zwar zeugen in al-Hajj Yussif bis heute diverse Wandmalereien von dem Wandel, in dem sich das Land nach dreissig Jahren Diktatur gerade befindet. Doch Mahmud musste feststellen, dass sich das Gefühl der Einheit an den Demonstrationen kaum im Alltag niederschlug. Gerade für die Frauen im Quartier habe sich kaum etwas geändert hat. Selbst wenn sie studieren, wie Mahmud und viele ihrer Freundinnen, würden sie dennoch im Haushalt verschwinden, sobald sie heirateten. Mahmuds Strategie ist deswegen pragmatisch: vorerst nicht zu heiraten. Bayan Ali, die Thaiboxerin, konnte ihren Grossvater am Ende doch noch von der Reise überzeugen. Einerseits, weil sich ihr Vater nach einer familieninternen Abstimmung einverstanden erklärte. Andererseits, indem Ali dem Grossvater erklärte, mit Kampfsport könne sie sich im Notfall gegen Übergriffe auf der Strasse verteidigen, und das leuchtete ihm wiederum ein. Ein kleiner Sieg. Der andere: Bayan Ali kehrte aus Abu Dhabi mit einer Bronze-Medaille zurück. Hintergründe im Podcast: Mehr zu diesem Artikel und den Recherchen von Meret Michel vor Ort auf: surprise.ngo/talk

Kampfsport ist nichts für Frauen, sind auch heute noch viele überzeugt: Bayan Ali (rechts) beim Training.

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FOTO: KATJA RENNER

Die Gessnerallee lässt alle teilhaben: «Zwischen den Säulen» von Markus & Markus gab es gratis zu sehen. Im März werden wieder vier Arbeiten aus der freien Szene ohne Eintritt gezeigt.

«Hauptsache, ihr seid da!» Kulturelle Teilhabe Immer mehr Kulturhäuser bieten Plätze für Leute

mit schmalem Budget an. Das zeugt zwar von Solidarität. Nur gehören Kunst und Kultur eigentlich zum Grundbedarf des Menschen. TEXT KATJA ZELLWEGER

«Wem es nicht bis zum Ende des Monats reicht, der gibt, was möglich ist. Hauptsache, ihr seid da.» So wird in der freien Szene Argentiniens – notgedrungen – das Hutgeld definiert. Sind Touristen anwesend, wird auf Englisch manchmal ein höherer Richtpreis verkündet. Unfair, vielleicht. Aber auch pragmatisch und sozial. Wer nicht hat, der muss nicht geben. Trotz prekären Verhältnissen im Kultur- und Sozialbereich gibt es staatlich finanzierte Museen und Konzertsäle, die keinen Eintritt verlangen. Das nationale Kunstmuseum verlangt nur von Touristen Eintrittspreise. In der Schweiz sind kulturelle Veranstaltungen in der Regel kostenpflichtig. Ein Kulturbesuch gilt für viele als unerschwingliches, exklusives Luxusgut. Dass der Zugang zur Kultur nicht nur denen vorbehalten sein sollte, die sich das leisten können, steht sogar in der Erklärung der Menschenrechte, Artikel 27: «Jeder Mensch 22

hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.» Die soziokulturelle Animatorin Carmen Berchtold definiert Kultur sehr breit, vom Opernbesuch über einen Spaziergang bis zur Mitgliedschaft im Fussballklub. Für Berchtold – sie koordiniert und erarbeitet für Surprise Stadtführungen – umfasst Kultur «im Sinne Bourdieus» alles, was mit gesellschaftlicher Partizipation zu tun hat. «Kultur beginnt für mich bei der Würde und freien Entwicklungsmöglichkeit für alle.» Das sei grunddemokratisch. «Es geht darum, die Wahl zum Mitmachen, zum Dabeisein zu haben. Ob das Angebot genutzt wird, ist sekundär.» Geld ist einer der einschränkendsten Faktoren für einen Kulturbesuch. Von ihrer Arbeit mit Armutsbetroffenen weiss

Berchtold, dass chronischer Geldstress und Armut krank machen und isolieren. «Ist einem nach einem Kafi oder einem Konzert zumute, kann man diesem Impuls nicht nachgeben. Die Leute sprechen davon, sich in einem permanenten Überlebensmodus zu befinden. Dauernd müsse man Feuerlöschen und habe keine Kraft mehr für Lebensqualität.» Zudem hätten Betroffene oft einen erschwerten Zugang zu Gesprächen, die sich nicht um ihre Sorgen drehen – sei es mit neuen Bekanntschaften oder in ihrem eigenen Umfeld. Oder sie fühlten sich aus Scham nicht dazugehörig. Wer trotzdem über seinen Schatten springe und sich etwas gönne, das nicht nur dem nackten Überleben diene, setze sich auch dem Urteil der Öffentlichkeit aus: «Ist einer hochverschuldet und gönnt sich einmal im Monat eine Runde Poker, muss er sich dafür rechtfertigen. Als hätte er keine Erholung verSurprise 469/20


«Mich interessieren Graffiti und Hip Hop» «Kunst ist das Spiegelbild meiner Seele»

Ich male seit 25 Jahren Graffiti und Wappen. Ich interessiere mich für Geschichte, speziell für Adelsgeschichte bis ins 16. Jahrhundert zurück. Auch Mozart und Shakespeare finde ich spannend. Der Film «Shakespeare in Love» hat mir sehr gut gefallen, den habe ich online gesehen. Am meisten interessiert mich aber die Graffiti- und Hip-Hop-Szene. Was mir fehlt, ist der Austausch. Ich suche junge Leute, die in der Kunstszene vernetzt sind und legal sprayen. Ich trommle auch an der Basler Fasnacht. Aber ich trommle allein. Nach drei Stunden habe ich Rückenschmerzen, die Cliquen laufen mir zu schnell. Ich war schon in Schüleraufführungen oder im Theater Basel. Dort ginge ich gerne öfters hin, doch ich kann es nicht zahlen. Im Sommer gibt es viele Openair-Konzerte, die ich mir leisten kann. Aber ich habe keine Freunde und bin immer alleine unterwegs. Das stinkt mir. SERGE FURRER, (42) verkauft Surprise in Basel.

dient.» Kultur und Freizeitgestaltung rücken oft wieder dann in den Fokus, wenn die persönliche Abwärtsspirale sich zu verlangsamen beginnt. «Wenn jemand nur schon wieder auf einen Spaziergang geht, kann das ein Zeichen dafür sein, dass er sich auf dem Weg zurück ins Leben befindet.» Die Teilhabe an Freizeitgestaltung und Kultur ist laut Berchtold ein wichtiger Gradmesser und eine Unterstützung. Kurzschluss: Kunst ist wertlos Laut Bundesamt für Statistik waren im Jahr 2017 8,2 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung von Armut betroffen. Seit 2014 steigt die Zahl, während die Einkommen tendenziell sinken und stagnieren. Die Armutsgrenze wurde 2017 im Durchschnitt auf 2259 Franken Einkommen im Monat bei einer Einzelperson festgelegt. Sozialhilfeempfänger erhalten einen Surprise 469/20

Den Hafenkran am Zürcher Limmatquai fand ich super. Dass Leute so etwas im Kopf hatten. Dass sie es durchgesetzt und wie sie es umgesetzt haben. Mir gefällt Kunst, die mir im Stadtbild begegnet. Ins Theater ging ich früher auch immer mal wieder, ins Bernhard Theater oder Theater am Hechtplatz. Ich würde mir durchaus wieder mal ein Billett kaufen und auch alleine hingehen. Auch klassische Konzerte, Oper: Mit Handkuss würde ich die besuchen. Für die Kunstbiennale Manifesta in Zürich hatte ich einen Museumspass bekommen. Ich hielt mich an Sonntagen jeweils stundenlang in den Räumlichkeiten auf und fragte mich: Wie ist der Künstler auf diese oder jene Idee gekommen? Im Museum komme ich mir selbst näher, beschäftige mich mit eigenen Ideen. Und merke plötzlich: Ich bin ja auch gut! Kunst ist für mich eine Art Spiegelbild meiner Seele, meiner eigenen Ideen, meines Lebens. HANS RHYNER, (42) verkauft Surprise in Zürich.

«Grundbedarf für den Lebensunterhalt», der laut der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) 2019 mit 997 Franken im Monat eine «menschenwürdige Existenz» sichern sollte. Darin enthalten sind alle Lebenshaltungskosten mit Ausnahme von Miete und Krankenkasse, wie Nahrungsmittel, Verpflegung, Kleidung, Kehrichtgebühren, Mobilitätskosten, Telefonrechnung und Körperpflege. Auch Vereinsbeiträge, Radio/TV-Gebühren, Zeitungsabos oder Kulturbesuche müssen damit gedeckt werden. Wer also keine Vernissage einplant, an der ein Museumsbesuch gratis ist, wird Kultur bald zum verzichtbaren Luxus zählen. Lösungen bieten einige Veranstalter wie etwa das Freiburger Belluard Festival oder das Berner Auawirleben Festival mit dem «Ticket suspendu» an: Jemand bezahlt doppelt und offeriert so einen Gratiseintritt, den jemand anders mit schma-

lem Budget an der Kasse beziehen darf. Weitere Veranstalter bieten unterschiedliche Preiskategorien an, die man seinem Budget entsprechend frei wählt, oder sie verlosen Tickets. Die Zürcher Gessnerallee hat gar eine Art Pricing-Manifest erarbeitet: «Kunst ist für alle da, sie ist kein Luxusgut, sondern unser täglich Brot.» In der letzten Saison verzichteten sie auf Plakate und nutzten die Einsparnisse für fünf Abende mit freiem Eintritt für alle. Im Sommer gibt es konsumfreie Zonen wie Strassenfestivals, wo draussen unter Leuten Musik und Strassenkunst genossen werden kann. In Wabern bei Bern wird vom Kollektiv Frei_Raum die Heitere Fahne betrieben, ein «inklusiver Kulturort mit Beiz», der «das Solidaritätsprinzip mit dem Hutgeld zelebriert». Das sagt Rahel Bucher, Gründungsmitglied und Zuständige für die Programmarbeit. «Einerseits gilt die Solidarität für 23


«Ich lese älteren Menschen Bücher vor» «Ich möchte öfter ins Museum»

Ich arbeite jeden Tag ab 18 Uhr als freiwilliger Helfer in einem Pflegeheim und kann deswegen keine Abendveranstaltungen besuchen. Das ist kein offizieller Auftrag, ich mache das aus eigenem Interesse. Ich bringe Bücher mit, die ich in der Pestalozzi-Bibliothek, der VölkerkundeBibliothek und der Pädagogischen Hochschule Zürich hole. Ich lese vor, präsentiere die Bücher und gebe sie den Seniorinnen und Senioren in die Hände, damit sie am Abend ein, zwei Stunden darin blättern können: Fotobände, Belletristik, Bücher über fremde Länder, andere Religionen, über die Tier- und Pflanzenwelt und Malerei. Momentan lese ich einer Tessinerin einen Band über die italienische Literatur der letzten 500 Jahre vor. Bereits mit einer ganzen Generation von alten Damen habe ich in den letzten Jahren auch Volkslieder gesungen. NICOLAS GABRIEL, (55) verkauft Surprise in Zürich.

die Zuschauenden, die sich keinen Eintritt leisten können, andererseits gilt sie auch den Künstlerinnen und Künstlern, die uns ihr Werk schenken, und unserem Team, das den Rahmen mit viel Freiwilligenarbeit schafft.» Aber: «Erst mit einem definierten Richtpreis beginnen sich die Leute zu überlegen, was ihnen etwas wert ist», sagt sie. «Sonst denken sich viele: Wenn sie sich eine Kollekte leisten können, sind sie sicher anderswie finanziert und machen kein Minus. In diesem Fall passiert oft der Kurzschluss von ‹Kunst ist wertlos›.» Ein Stigma, das Hutgeld genauso anhaftet wie der Freiwilligenarbeit. So fasst der Gesundheits- und Fürsorgedirektor des Kantons Bern, Pierre Alain Schnegg (SVP), diese Gleichung mit einem aus dem Französischen stammenden Sprichwort zusammen: «Was gratis ist, hat keinen Wert.» Das war sein lapidarer Schlusskommentar in der Berner Grossratsdebatte zum Sparvorschlag «Leistungsabbau im Bereich der Gesund24

Ich nutze die Museumsnacht, für die wir jeweils über Surprise Karten bekommen. Aber man kann sich in einer Nacht ja nicht so viele Museen ansehen. Dank Surprise können wir nun auch einen Museumspass ausleihen, und ich möchte das in Zukunft gerne nutzen. Das Museum der Kulturen würde ich gerne in Ruhe besuchen, und das Pharmaziemuseum interessiert mich auch. Mich zieht Kulturhistorisches an. Sonst gehe ich nirgendwohin, obwohl ich gerne würde. Das Abba-Musical im Musical Theater Basel hätte ich gern gesehen, aber das war zu teuer. Ich war in meinem Leben zweimal im Ballett, das war sehr schön. Ich finde, man sollte sich das leisten können. Früher ging ich oft und gerne ins Kino, aber auch da sind die Preise in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Ich muss entscheiden, wo ich sparen kann, und habe alles gestrichen, was nicht dringend notwendig ist. MARIA JESÚS BIBIONE, (57) im Surprise Strassenchor.

heitsförderung und (Sucht-)prävention» 2017 – also einem Bereich mit viel gemeinnütziger Arbeit. Ein Projekt, das Menschen mit wenig Budget Kultur zugänglich macht, ist die Kulturlegi der Caritas. Den Ausweis erhält, bei unterschiedlicher kantonaler Handhabe, wer «nachweislich am Existenzminimum lebt». Verschiedene Angebote bieten zwischen dreissig und siebzig Prozent Rabatt, von der Jugendzeitschrift «Spick» über das Erlebnisbad Alpamare, von der Berufsberatung bis zum Fitnessabo und Coiffeur- oder Kulturbesuch. Etwa vierzig Prozent aller Angebote umfassen Kulturbesuche im engeren Sinne. Isabelle Nold, Leiterin der Schweizerischen KulturLegi-Geschäftsstelle, spricht von einem «Erfolgsmodell». Angebotspartner und Nutzende – aktuell sind 96 000 Legis im Umlauf – nähmen stetig zu. Nebst Kino und Museum seien vor allem Familienangebote sehr beliebt. Einige nationale Anbieter würden sich manchmal vor zu

grossem Andrang und Einbussen fürchten, die sie selbst tragen müssten, sagt Nold. Dennoch falle wenig Überzeugungsarbeit an. «Der Zirkus Knie, in den sehr viele gehen, macht wegen der Kulturlegi wahrscheinlich kein Defizit.» Freiwillige Lotsen Das oberste Credo ist Niederschwelligkeit. Denn ein Kulturbesuch scheitert nicht nur am Budget, sondern auch an den Anreisekosten, dem (Internet-)Zugang zu Information und der Bereitschaft, sich Verhaltens-, Wissens- und Dresscodes auszusetzen, die man vielleicht nicht kennt. Die Kulturlegi startete darum Ende vergangenen Jahres mit dem Pilotprojekt «Kulturlegi-Lotsen». Freiwillige Lotsen bieten an, Menschen mit der Kulturlegi bei Veranstaltungen zu begleiten. Was auffällt: Wenige Angebote der Kulturlegi betreffen partizipative und soziokulturelle Projekte – also solche, in denen Kultur nicht nur konsumiert, sondern geSurprise 469/20


«Kino bedeutet für mich Freude»

Trauer und Trost Buch Ein Bilderbuch aus Kolumbien erzählt von

Tod, Verlust und Trauer, vom Stillstand der Zeit und davon, wie das Leben weitergeht. Seit es Uhren gibt, sind diese ein beliebtes Motiv. Kaum etwas führt uns das Verstreichen der Zeit und die Vergänglichkeit so deutlich und auf die Sekunde genau vor Augen. Das kann erschrecken, weil jeder verstrichene Augenblick unwiederbringlich verloren scheint. Es kann aber auch beglücken, weil das, was wie Sand zwischen den Fingern zerrinnt, dennoch messbar und begreifbar ist und so auf eine ganz eigene Weise erfahrbar. Das Bilderbuch «Die Uhr meines Grossvaters» des kolumbianischen Autors und Illustrators Samuel Castaño Mesa, mit Texten in deutscher und spanischer Sprache, misst diese Spanne so leise und eindrücklich aus wie die Stille zwischen den Schlägen einer Pendeluhr. Einer Uhr an der Wand, deren Takt den Lebensrhythmus aller Hausbewohner in Gang hält. Doch nur so lange, wie der Grossvater nicht vergisst, sie mit einem kleinen Schlüssel aufzuziehen. Als der Grossvater stirbt, verstummt die Uhr, und das Leben der Familie gerät aus dem Takt. Die Katze wacht erst nach vier Tagen wieder auf. Die Suppe wird nicht heiss, die Wäsche trocknet nicht, die Pflanzen wachsen nicht und die Blumen wollen nicht welken. Selbst das Kind der Tante kommt nicht auf die Welt. Es ist, als wäre die Zeit stehengeblieben. Und dabei öffnet sich für kostbare Augenblicke ein zeitloser Raum, der Musse schenkt, um im Umgang mit der Trauer Trost zu finden. «Gelegentlich lässt sie [die Zeit] uns vollkommen stillstehen», schreibt Samuel Castaño Mesa in seinem Nachwort. «So können wir etwas betrachten und verstehen, was uns bei normaler Geschwindigkeit entgehen würde.» Eine Gelegenheit, die der Autor – als kleiner Junge in diesen Erinnerungen an seine Familiengeschichte – spielerisch ergreift. Er erkundet das Zimmer des Grossvaters, schlüpft in dessen Kleider und findet in einer Jackentasche den Schlüssel zur Uhr. Und tritt gewissermassen aus den Schuhen des Grossvaters heraus in dessen Fussstapfen, zieht wie dieser die Uhr auf, das Kind kommt zur Welt, und alles geht wieder seinen Gang. Begleitet wird diese schlicht und mit wenigen Worten erzählte Geschichte von Mesas zarten, mit Bleistift, Aquarellfarben und Collagen geschaffenen Illustrationen. Illustrationen, die viel Freiraum für Musse und Fantasie lassen. Bilder, die aus den kurzen Momenten zwischen den Schlägen der Uhr des Grossvaters Zeit für Trauer und Trost schenken. CHRISTOPHER ZIMMER

meinsam etwas auf die Beine gestellt wird. «Solche Angebote haben teils selber gröbere Finanzierungsprobleme oder ihnen ist die Kulturlegi nicht bekannt», sagt Nold. Sie werden zwischen den Fördertöpfen hinund hergeschoben. «Darum sind hier Preisreduktionen schwierig zu realisieren und geschehen auf Kosten der Kulturschaffenden, die oft selbst am Existenzminimum leben und eine Kulturlegi haben.» Partizipative Projekte stehen zwar bei der Kulturförderung hoch im Kurs, und Kultur wird zu Recht als Instrument der Sozialpolitik hochgehalten. Wenn aber Kulturschaffende bei solchen Projekten auf Einnahmen verzichten, damit auch ärmere Bevölkerungsteile teilhaben können, werden Sozialkosten auf die Kulturanbieter abgewälzt. Und genau das ist der Knackpunkt: Kultur- und Sozialpolitik sind eng miteinander verzahnt und verfügen beide über wenig Mittel und Lobbys. Eine Patt-Situation – aber eine, die zeigt, dass zumindest die Solidarität noch nicht zum Luxusgut geworden ist. Surprise 469/20

FOTO: ZVG

Ich warte noch auf den Bescheid von der IV, deshalb weiss ich noch nicht, was ich mir genau leisten kann. Ein Kino-Eintritt liegt aber drin. Ich habe auch einen Job im Wohn- und Bürozentrum für Körperbehinderte WBZ Reinach und bekomme Sozialhilfe. Vor den Weihnachtsferien war ich mit meinen Eltern und Geschwistern in «Die Eiskönigin 2». Ich mag Komödien und Liebesgeschichten. Feel Good Movies eben: Kino bedeutet für mich, Freude zu haben. Am meisten fehlt mir der Austausch mit anderen, die Veranstaltung spielt keine grosse Rolle. Es wäre bereits toll, mal mit jemandem in die Stadt zu gehen oder einen Kaffee zu trinken. Ich habe im Surprise Strassenchor nun meinen ersten Schnuppertag. Der Chor ist auch ein Netzwerk. Theater, Konzertveranstalter und andere Kulturhäuser schenken den Mitgliedern immer wieder Billette. Hier sehe ich eine Chance, mit anderen irgendwohin zu gehen. SONIA SEET, (32) singt vielleicht bald im Surprise Strassenchor.

Samuel Castaño Mesa: Die Uhr meines Großvaters. El reloj de mi abuelo Baobab 2019, CHF 25.90

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Basel/Zürich «24 Bilder pro Sekunde», Musiktheater Tanz, Do, 20. bis Sa, 22. Februar, 20 Uhr, So, 23. Feb., 19 Uhr, Kaserne Basel, Klybeckstr. 1b; Mi und Do, 18./19. März, je 20 Uhr, Gessnerallee Zürich, Gessnerallee 8. kaserne-basel.ch

Ein Filmset, White Cube oder Niemandsland. Sechs Tänzerinnen und Tänzer und ein Klavierquartett. Sie wärmen ihre Instrumente auf, dehnen ihre Körper, begegnen sich, verlieren sich, verschwinden. Während das flackernde Licht einer Videoprojektion den Raum durchzieht, entwickelt sich langsam ein Beat, ein Puls. «Im Film kann man dem Menschen in 24 Bildern pro Sekunde beim Sterben zuschauen», sagte der französische Schriftsteller und Regisseur Jean Cocteau. Der Choreograf Boris Nikitin folgt diesem Satz, indem er Musiktheater, Tanz und Videokunst ineinanderfliessen lässt. Der Fokus unserer Wahrnehmung ändert sich: Wann werden unsere Körper zum bewegten und sich bewegenden Bild? Ist dieser Zustand das, was unsere Identität ausmacht? Nikitin schafft ein musikalisches Gemälde über die Verwundbarkeit des Körpers, einen Abend zwischen dokumentarischem Realismus, Appropriation Art und Surrealismus. Eine Kollaboration mit dem Klavierquartett Kukuruz, der Choreografin Lee Méir und dem VideoDIF künstler Georg Lendorff.

Basel/Birsfelden «El Sabinar», Tanz, So, 23. März, 18 Uhr, Roxy Birsfelden, Muttenzerstrasse 6, Eintritt frei. theater-roxy.ch

Samuel Déniz Falcon ist ein Basler Choreograf und Tänzer. Er hat seine Kindheit auf Gran Canaria verbracht, der Heimat seiner Familie. Nun kehrte er im Rahmen eines Reisestipendiums des Atelier Mondial dorthin zurück, um sich in die Folklore und die multikulturellen Einflüsse zu vertiefen, die diesen für ihn magischen Ort ausmachen. Er erinnerte sich daran, wie er als

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Kind Volkslieder und Volkstänze von älteren Menschen lernte, und versucht nun, die kulturellen Phänomene zu verstehen und danach zu fragen, welche Rolle dabei der Postkolonialismus spielte. Nostalgie verbindet sich mit der Authentizität einer Tradition, und die Folklore seiner Heimat schreibt sich in die Körper zeitgenössischer Tänzerinnen und Tänzer ein. DIF

Bern «Sonohr», Radio- und Podcast-Festival, Fr, 21. bis So, 23. Februar, Kino Rex, Schwanengasse 9 und Kornhaus, Kornhausplatz 18. sonohr.ch Der Podcast ist in den letzten Jahren vom Nischenprodukt zum verbreiteten Medium geworden. Dass der Spieltrieb, das handwerkliche Know-how, die Experimentierfreude und inhaltliche Neugier bei

den Machern (und dem damals eher nerdigen Publikum) gross waren, hat das Festival Sonohr vor genau zehn Jahren bereits gemerkt. Und zieht weiterhin innovative Audiowerke an Land: «When the People Sing» von Emily Bissland zum Beispiel, eine australische Audiodoku, die bei verschiedenen Chören der «euphorisierenden Qualität des Singens in der Gruppe» nachgeht. Oder «Die Stadt der motorisierten Rollstühle» aus der Schweiz, eine O-Ton-Collage, die im zürcherischen Wetzikon danach sucht, was das Lebensgefühl der Provinz ausmacht. Ein sattes Programm an Wettbewerbsbeiträgen, Hors-concours-Programmen und Meisterkursen (u. a. von Emily Bissland). DIF

St. Gallen «Crazy, queer and lovable: Ovartaci», «Ich Du Er Sie Xier: Transidentität», Doppelausstellung, bis 1. März, Di bis Fr 14 bis 18 Uhr, Sa/So 12 bis 17 Uhr, Museum im Lagerhaus, Stiftung für schweizerische Naive Kunst und Art Brut, Davidstrasse 44. museumimlagerhaus.ch Auch Dänemark hatte seinen Adolf Wölfli, einen berühmt gewordenen «Outsider Artist» – noch bevor man die Art-Brut-Künstler so nannte und sich der Kunstmarkt auf sie stürzte. Louis Marcussen gab sich ab den frühen 1930er-Jahren selber den Namen «Ovartaci», was jütländisch ist und «Ober-Patient» heisst. Ovartaci stand zwischen den Geschlechtern, sein/ihr Lebensthema war die Verwandlung. Bilder, Skulpturen und Flugmaschinen spiegeln Fantasien zu

verschiedenen Reinkarnationszyklen von Ovartacis Leben – sei es als Schmetterling, Vogel, Puma oder Tiger. Zahlreiche weibliche Figuren und Puppen, kleine bis nahezu lebensgrosse aus Papier, Karton oder Papiermaché, stellen Seelenverwandte dar, mit denen sich Ovartaci umgab oder Wände und Bett bemalte. Sie standen für die Sehnsucht, das andere Geschlecht zu verkörpern. Durch Selbstkastration vollzog Ovartaci schliesslich die gewünschte Anpassung vom Mann zur Frau. Ovartaci war ausgebildeter Maler und Dekorateur, aber verbrachte 56 Jahre in psychiatrischen Anstalten. Man begegnete Ovartaci dort grundsätzlich mit grossem Respekt, er/sie lebte an diesen Orten die Transidentitäten und gestaltete sich das Leben zu einem ganz eigenen Universum. Heute steht im dänischen Århus ein ganzes Museum Ovartaci. Die Parallelausstellung «Ich Du Er Sie Xier: Transidentität» im Museum im Lagerhaus greift zudem zeitgenössische künstlerische Positionen des Weiblichen, Männlichen und von Transgender auf. DIF

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BILD(1): BORIS NIKITIN, BILD(2): ZVG, BILD(3): MUSEUM OVARTACI ARHUS

Veranstaltungen


überdimensionierten Pfeffermühlen, die beim Aufkommen der Pizzerien zur Standardausrüstung gehörten. Sie waren so gross, damit sie nicht gestohlen wurden, denn damals waren Pfeffermühlen selten und teuer.

Tour de Suisse

Pörtner in Ettingen Surprise-Standorte: Coop Ettingen Einwohnerinnen und Einwohner: 5405 Anteil ausländische Bevölkerung in Prozent: 18,5 Sozialhilfequote Baselland in Prozent: 3,0 Rätselraten: In Ettingen gibt es seit Jahrzehnten keine Bundesfeier – und niemand weiss, warum.

Es ist still in Ettingen. Ausgestorben fast. Das gelbe Tram, das von Basel hier hinausfährt, leert sich zusehends. Spätestens an der Haltestelle «Hüslimatt, Park and Ride» steigen die Leute aus. Schöner Name, urschweizerisch-gemütlich, kombiniert mit Nicht-mehr-somodern-Englisch. Die Park-and-Ride-Idee hat sich nie richtig durchgesetzt. Wo sollte sie funktionieren, wenn nicht hier, wo man nach der Arbeit matt in sein Hüsli zurückkehrt? So still ist es, dass man sich ins Märchen von Dornröschen versetzt fühlt. Fährt nicht das Zehnertram geradewegs nach Dornach, wo sich die Geschichte zugetragen haben könnte? Das würde den Ortsnamen erklären. Möglich ist auch, dass in Ettingen Staats- oder zumindest Gemeindetrauer herrscht, denn die Surprise 469/20

Schweizerfahne am Strassenrand weht auf Halbmast. Wahrscheinlicher ist, dass diese nach und nach den Fahnenmast hinabgerutscht ist und niemand die Zeit fand, sie wieder hochzuziehen. Sogar die Autos auf der Hauptstrasse scheinen stiller als sonst wo vorbeizufahren. Die meisten Fahrten sind gewerblicher Natur, die Fahrzeuge mit Firmenlogos gekennzeichnet. Gleich drei Kleinlastwagen verschiedener Gartenbaufirmen fahren hintereinander. Es ist eine Hüsligegend – und wo es Hüsli gibt, gibt es Gärten. Von der Kirche aus überblickt man eine wahres Hüslimeer, aus der ein einziges Hochhaus ragt. Selbst in der lokalen Pizzeria ist es still. Nur wenige Tische sind besetzt, die wenigen Gäste reden nicht viel. Auf dem Fenstersims steht eine dieser

Nach dem Mittag tauchen in den Strassen Ettingens doch noch Menschen auf, eine ganze Wandergruppe gar, sie sind unterwegs zum nahegelegenen Pilgerort Mariastein. Der Wanderwegführer gibt an, dass hier die Route 32, die Via Surprise, vorbeiführt. Tatsächlich herrscht Wanderwetter, noch aber ist es kühl. Trotz der kalten Jahreszeit sind viele Leute mit dem Velo unterwegs. Deshalb erinnert die Gemeindepolizei daran, im Interesse der allgemeinen Sicherheit die Velos gut zu warten, insbesondere Licht und Bremsen in Ordnung zu halten, die Kette regelmässig zu fetten (müsste die nicht geölt werden?) und reflektierende Kleidung zu tragen. Das Velogeschäft, das solches erledigt, ist leicht zu finden, wie auch zahlreiche weitere mittelständische Unternehmen, das lokale Gewerbe wirkt robust. Es gibt ein Wullelädeli und einen der selten gewordenen Zigarettenautomaten. Nicht gesichert ist hingegen die Nachfolge der Buchhandlung. Eine Spendenaktion soll verhindern, dass der Laden geschlossen wird. Allerdings läuft es eher harzig, das angestrebte Ziel ist in weiter Ferne. Es wäre wirklich schade, würde dieses Geschäft verschwinden, nicht nur wegen der Bücher, die es zur Not auch woanders zu kaufen gibt. Wer aber würde dann noch die Postkarte dieses stillen Dorfes anbieten?

STEPHAN PÖRTNER

Der Zürcher Schriftsteller Stephan Pörtner besucht Surprise-Verkaufsorte und erzählt, wie es dort so ist.

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Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01 Kaiser Software GmbH, Bern 02 Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern 03 RLC Architekten AG, Winterthur 04 Stellenwerk AG, Zürich & Chur 05 Neue Schule für Gestaltung, Bern 06 SpringSteps GmbH, Bülach 07 Steuerexperte Peter von Burg, Zürich 08 Büro Dudler, Raum- und Verkehrplanung, Biel 09 Infopower GmbH, Zürich 10 Dr. med. dent. Marco Rüegg, Herzogenbuchsee 11

Peter Gasser Schreinerei AG, Feuerthalen

12 Barth Real AG, Zürich 13 Hedi Hauswirth, Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S 14 Ruggle Partner, Rechtsanwalt/Mediation, ZH 15 Al Canton, azienda agricola biologica, Le Prese 16 Happy Thinking People AG, Zürich 17 Stefan Mörgeli Beratungen, Meilen 18 SONNENREIFE, Mo Ruoff, Basel

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Eine von vielen Geschichten Josiane Graner, Juristin, wurde in ihrem Leben von schweren Schicksalsschlägen getroffen. Sie kämpft und steht immer wieder auf. Ein Geschäftsprojekt, das sich zum Flop entwickelte, führte sie 2010 zu Surprise. Ihr Geschäftspartner hatte sich ins Ausland abgesetzt und sie mit dem Schuldenberg allein gelassen. Um ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten, verkauft Josiane Graner in Basel das Strassenmagazin. Zudem ist sie für den Aboversand zuständig. Dank des SurPlus-Programms erhält sie ein ÖVAbonnement und Ferientaggeld. Diese Zusatzunterstützung verschafft der langjährigen Surprise-Verkäuferin etwas mehr Flexibilität im knappen Budget.

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Wir alle sind Surprise FOTOS: SERVICEPLAN

Vendor Week

Alle mal herschauen! In der sogenannten Vendor Week des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen (INSP) Anfang Februar stehen jedes Jahr die weltweit über 9000 Verkaufenden von Strassenzeitungen im Mittelpunkt: beispielsweise bei Aktionen wie Rollentausch, Social-MediaKampagnen oder speziellen Magazininhalten. Surprise beteiligte sich dieses Mal mit einer interaktiven Plakatkampagne. In Zusammenarbeit mit der Agentur Serviceplan und dank der Initiative «Plakat für eine gute Sache» von Clear Channel eröffneten an zentralen SurpriseStandorten in Zürich kleine Kioske: Statt hinter einer Theke standen die beteiligten Verkaufenden vor einem auffälligen Plakat, das zur Kontaktaufnahme anregte. Und auch wenn gerade niemand dort stand, konnte man über den QR-Code die Verkaufenden online besser kennenlernen.

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Klaus Petrus (kp) Diana Frei (dif), Sara Winter Sayilir (win) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Monika Bettschen, Rahel Nicole Eisenring, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Dina Hungerbühler, Meret Michel, Mohammed Salah, Katja Zellweger Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name

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FOTO: KLAUS PETRUS

Surprise-Porträt

«Lachen, schwatzen und Kaffee trinken» «Mein Name ist Fana Tesfay. Aufgrund meines Aussehens werde ich oft gefragt, ob ich aus Brasilien stamme. Dann sage ich, dass ich stolze Eritreerin bin. Eritrea ist ein sehr schönes Land. Ich hatte dort einen eigenen Kiosk, konnte mit den Leuten plaudern und Kaffee trinken. Doch wegen der angespannten politischen Lage musste ich meine Heimat verlassen. Ich bin vor acht Jahren über Libyen in die Schweiz geflüchtet. Vor dem Krieg war das auch alleine als Frau möglich. Ich habe mich mit sechs anderen Frauen zusammengeschlossen und eine Wohnung gemietet. Über zwei Jahre lebte ich so in Libyen und arbeitete als Putzfrau. Meine Schwester möchte ebenfalls in die Schweiz kommen, aber im Moment ist das zu gefährlich. Man hört immer wieder Geschichten von Frauen, die spurlos verschwinden. Wahrscheinlich werden viele irgendwo auf ihrer Flucht entführt und verkauft. Fünf meiner sieben Geschwister leben in der Schweiz. Ich bin froh, dass ich hier eine grosse Familie habe. Meine Tochter lebt mit ihrem Mann im Sudan. Da sie bereits achtzehn Jahre alt ist, kann ich sie nicht über den Familiennachzug in die Schweiz holen. Wir telefonieren jeden Tag. Dennoch fehlt sie mir sehr. Es ist quasi ein Glück im Unglück, dass sie im Sudan lebt. So kann ich sie wenigstens besuchen. Seit ich in der Schweiz bin, habe ich das einmal geschafft. Auch meinen Mann vermisse ich sehr. Er ist vor drei Jahren an einer Zuckerkrankheit gestorben. Ich war damals bereits in der Schweiz, er noch in Eritrea. Ich weiss nicht genau, was passiert ist, aber es war anscheinend niemand da, um ihm Insulin zu spritzen. Kurz danach verstarb auch meine Mutter. Ich wäre gerne bei ihnen gewesen, aber ich darf nicht zurück in mein Heimatland, auch nicht bei Krankheits- oder Todesfällen in der Familie. Ich bin froh, dass ich in der Schweiz leben und arbeiten darf. Hier ist vieles sehr gut. Zum Beispiel liebe ich die Weihnachtszeit. Die ganze Stadt wird so schön dekoriert, und ich kann mit meinen Geschwistern und Nachbarn feiern. Zudem mag ich auch das Essen in der Schweiz, besonders Käse und Lyoner-Wurst. Zwar koche ich zuhause oft traditionelle eritreische Gerichte, ich probiere aber immer auch neue Lebensmittel aus. Ich habe gelernt, mich über solche Kleinigkeiten zu freuen. In der Schweiz fühle ich mich auch genug sicher, um alleine auf die Strasse zu gehen. Ich spaziere gerne durch die Stadt, war schon immer ein Stadtmensch, auch in Eritrea. Ich schätze es, dass es in der Schweiz so ruhig und sicher ist, von der politischen Stabilität bis zur Krankenkasse. Das ist nicht selbstverständlich. 30

Fana Tesfay, 48, verkauft Surprise in Albisrieden und möchte noch einmal in ihrem Leben einen Kiosk eröffnen.

Seit einigen Jahren arbeite ich als Putzfrau für ein grosses Unternehmen. Weil ich damit nicht genügend Geld verdiene, verkaufe ich noch Surprise-Hefte. Diese Arbeit erinnert mich an meinen Kiosk in Eritrea. Auch beim Surprise-Verkauf kann ich mit den Leuten schwatzen und Kaffee trinken. Manchmal werde ich von älteren Frauen sogar auf ein heisses Getränk eingeladen. Ich schätze es sehr, dass die Leute hier so nett sind. Oft fragen sie mich nach meiner Geschichte. Dann erzähle ich ihnen von Eritrea, meinem Mann und meiner Tochter. Die Leute reagieren meistens mit grossem Mitgefühl, das spendet mir Trost. Wenn ich meine Kunden für ein paar Tage nicht sehe, beginne ich sie zu vermissen. Darum werde ich wahrscheinlich auch für Surprise arbeiten, wenn ich irgendwann einen besser bezahlten Job habe. Am liebsten würde ich wieder einen eigenen Kiosk eröffnen. In der Schweiz verkauft man an einem Kiosk jedoch andere Dinge als in Eritrea. Hefte, Blumen und viele kleine Dinge, welche die Leute hier brauchen. Vielleicht könnte ich ja auch Surprise-Hefte verkaufen. So hätte ich verschiedene Leidenschaften in einem Job vereint – lachen, schwatzen, Kaffee trinken und den Kontakt zu meinen Surprise-Kunden pflegen.»

Aufgezeichnet von DINA HUNGERBÜHLER

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Bohemia, Dornacherstr. 255 Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Haltestelle, Gempenstr. 5 | FAZ Gundeli, Dornacherstr. 192 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstr. 1 | HausBAR Markthalle, Steinentorberg 20 | Treffpunkt Breite, Zürcherstr. 149 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | MARTA, Kramgasse 8 | Café MondiaL, Eymattstr. 2b Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa, Lorrainestr. 23 | Luna Llena, Scheibenstr. 39 | Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Dreigänger, Waldeggstr. 27 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei, Güterstr. 6 Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestr. 20 | Becanto, Bethlehemstrasse 183 | Phil’s Coffee to go, Standstr. 34 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN DIETIKON Mis Kaffi, Bremgartnerstrasse 3a IN FRAUENFELD Be You Café, Lindenstr. 8 IN LENZBURG feines Kleines, Rathausgasse 18 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4-Markt Baselstr., Baselstr. 66 | Rest. Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Rest. Brünig, Industriestr. 3 | Arlecchino, Habsburgerstr. 23 IN MÜNCHENBUCHSEE tuorina boutique & café, Bernstr. 2 IN MÜNCHENSTEIN Bücher- und Musikbörse, Emil-Frey-Str. 159 IN NIEDERDORF Märtkaffi am Buuremärt IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestr. 47 IN OLTEN Bioland Olten, Tannwaldstr. 44 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstr. 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 | Kafi Freud, Schaffhauserstr. 118 | Kumo6, Bucheggplatz 4a | Sport Bar Cafeteria, Kanzleistr. 76

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise Surprise 469/20

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SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

ERLEBEN SIE BASEL, BERN UND ZÜRICH AUS EINER NEUEN PERSPEKTIVE. Menschen, die Armut, Ausgrenzung und Obdachlosigkeit aus eigener Erfahrung kennen, zeigen ihre Stadt aus ihrer Perspektive und erzählen aus ihrem Leben. Authentisch, direkt und nah. Buchen Sie noch heute einen Sozialen Stadtrundgang in Basel, Bern oder Zürich. Infos und Terminreservation: www.surprise.ngo/stadtrundgang 32

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