Surprise Nr. 454

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Strassenmagazin Nr. 454 12. bis 25. Juli 2019

CHF 6.–

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Literaturausgabe

Himmelhoch Ein Lesesommer mit Kurzgeschichten von Noemi Somalvico, Christoph Simon, Renato Kaiser, Katja Brunner, Ralf Schlatter, Marco de las Heras


Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENSTRASSENCHOR CHOR

CAFÉ CAFÉ SURPRISE SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Entlastung Sozialwerke Sozialwerke

BEGLEITUNG BEGLEITUNG UND UND BERATUNG BERATUNG

Unterstützung Unterstützung

Job Job

STRASSENSTRASSENMAGAZIN MAGAZIN Information Information

SURPRISE SURPRISE WIRKT WIRKT

ZugehörigkeitsZugehörigkeitsgefühl gefühl EntwicklungsEntwicklungsmöglichkeiten möglichkeiten

STRASSENSTRASSENFUSSBALL FUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle

SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

GESCHICHTEN GESCHICHTENVOM VOMFALLEN FALLEN UND UNDAUFSTEHEN AUFSTEHEN Kaufen KaufenSie Siejetzt jetztdas dasBuch Buch«Standort «StandortStrasse Strasse––Menschen MenschenininNot Notnehmen nehmen das dasHeft Heftinindie dieHand» Hand»und undunterstützen unterstützenSie Sieeinen einenVerkäufer Verkäuferoder odereine eine Verkäuferin Verkäuferinmit mit1010CHF. CHF. «Standort «Standort Strasse» Strasse» erzählt erzählt mitmit den den Lebensgeschichten Lebensgeschichten von von zwanzig zwanzig Menschen, Menschen, wie wie ununterschiedlich terschiedlich diedie Gründe Gründe fürfür den den sozialen sozialen Abstieg Abstieg sind sind – und – und wie wie gross gross diedie SchwierigSchwierigkeiten, keiten, wieder wieder aufauf diedie Beine Beine zuzu kommen. kommen. Porträts Porträts aus aus früheren früheren Ausgaben Ausgaben des des Surprise Surprise Strassenmagazins Strassenmagazins ergänzen ergänzen diedie Texte. Texte. Der Der Blick Blick aufauf Vergangenheit Vergangenheit und und Gegenwart Gegenwart zeigt zeigt selbstbewusste selbstbewusste Menschen, Menschen, diedie es es geschafft geschafft haben, haben, trotz trotz sozialer sozialer und und wirtschaftliwirtschaftlicher cher Not Not neue neue Wege Wege zuzu gehen gehen und und einein Leben Leben abseits abseits staatlicher staatlicher Hilfe Hilfe aufzubauen. aufzubauen. Surprise Surprise hathat siesie mitmit einer einer Bandbreite Bandbreite anan Angeboten Angeboten dabei dabei unterstützt: unterstützt: Der Der Verkauf Verkauf des des Strassenmagazins Strassenmagazins gehört gehört ebenso ebenso dazu dazu wie wie derder Strassenfussball, Strassenfussball, derder Strassenchor, Strassenchor, diedie Sozialen Sozialen Stadtrundgänge Stadtrundgänge und und eine eine umfassende umfassende Beratung Beratung und und Begleitung. Begleitung. 156156 Seiten, Seiten, 3030 farbige farbige Abbildungen, Abbildungen, gebunden, gebunden, CHF CHF 4040 inkl. inkl. Versand, Versand, ISBN ISBN 978-3-85616-679-3 978-3-85616-679-3 Bestellen Bestellen beibei Verkaufenden Verkaufenden oder oder unter: unter: surprise.ngo/shop surprise.ngo/shop 2

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TITELBILD: PRISKA WENGER

Editorial

Nicht nachmachen «Himmelhoch» heisst dieses Heft. Und ich verrate es gleich, der Titel der nächsten Ausgabe wird «Abgrundtief» lauten. Es geht um oben und unten. Geografisch, metaphorisch, psychisch, sozial. Von der Dramatikerin Katja Brunner haben wir eine Schweizerreise bekommen: eine ­literarische Gratwanderung, die auch zum sprachlichen Gipfelstürmen einlädt. Wir haben eine Bastelanleitung von Ralf Schlatter dafür, das Schicksal umzukehren. Geht ganz einfach, aber machen Sie’s ­trotzdem nicht nach. Konkret wenigstens nicht, in Gedanken dagegen unbedingt. Und passen Sie auf allfällige Steine auf der Skipiste auf, sie könnten Ihr Leben dra­ matisch verändern. Und der Museumsbe­ such von Christoph ­Simon: Auch nicht nachmachen! Einen schönen Satz gibt es aber doch gratis zum Mitnehmen: «Ein ­Lebenskünstler ist ein Mensch, der die Wirklichkeit in Möglichkeiten verwandelt.» Bei Renato Kaiser geht es um das Wesen der Geburt. Er schreibt zwar als Mann, aber ich bestätige als Frau: Dass die Hochge­

Illustrationen

4 Noemi Somalvico Chanson für Charles 7 Christoph Simon

Such dir ein Bild aus, Marie!

11 Renato Kaiser

Die Zeichnungen in dieser Ausgabe stammen von Priska Wenger, die bereits mehrere Sonderhefte von Surprise illustriert hat. Sie lebt und arbeitet in New York und Biel.

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Warum nicht das mit’m Storch?

fühle bei der Vorstellung, ein Kind zu ge­ bären, in der konkreten Umsetzung schnell an Höhenmetern verlieren k ­ önnen, ist nicht ganz falsch. Um eine verpasste Geburt geht es auch in Noemi Somalvicos fan­ tastischer Geschichte. Das überbehütete Kind, das hier die zentrale Rolle spielt, ist durchaus aktuell. Am Schluss ist Feierabend. Mit Marco de las Heras gelangen wir beim sozialen Oben und Unten an. Oder eher: beim Raus­ schmiss aus dem Arbeitsleben. Dann stellt sich die Frage, wo man ankommt. Vielleicht ja im Leben, dem echten. Die Autorinnen und Autoren haben ihre Geschichten alle honorarfrei zur Verfügung gestellt. Wir bedanken uns ganz herzlich bei Noemi Somalvico, Christoph Simon, Renato Kaiser, Katja Brunner, Ralf Schlatter und Marco de las Heras. DIANA FREI

Redaktorin

13 Katja Brunner

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

16 Ralf Schlatter

30 Surprise-Porträt

Im Himmel wie auf Erden … Der Absprung

17 Marco De Las Heras

«Dann bin ich mit 200 Prozent dabei»

Feierabend

26 Rätsel 28 SurPlus Positive Firmen

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Chanson für Charles TEXT  NOEMI SOMALVICO

Es gibt, soweit ich weiss, nur ein Beispiel eines Menschen, der nie aus dem Bauch seiner Mutter gekommen ist. Er heisst Charles und wurde seit zwanzig Jahren nicht geboren. Er war noch nie draussen, er hat noch nie den Eiffelturm gesehen, dabei wohnt er in seiner Mutter in Paris. Paris, Paris. Ich habe mich gefragt, ob Charles in seiner Fruchtblase die Nacht vom Tag unterscheiden kann. Wie die Lichtverhältnisse dort drinnen sind. Ob Charles durch die Fruchtblase die Blumen riecht, diese biederen Geranien, die die Mutter auf dem Fenstervorsprung heranzüchtet. Seit Jahren lebt Charles in seiner Mutter im selben engen Appartement, im zweiten Stock, Rue de la République. Die Strasse soll selbst nachts so laut sein, dass die dünnen Fensterscheiben vibrieren. Im Winter zieht der Wind durch die Ritzen ebendieser Fenster. Trotz allem stellt Paris für einen, der nie geboren wurde, einen geeigneten Wohnort dar. Charles’ Vater hat die Familie früh verlassen, er ist abgehauen, als Charles seinen dritten Geburtstag feierte. Charles’ Mutter sah damals schon aus wie zwei Fässer 4

Wein, und wenn sie Auto fuhren, musste sie horizontal Platz nehmen, um nicht den Wagen in ein fatales Ungleichgewicht zu bringen. Wo Charles’ Vater sich niederliess? Ich stelle ihn mir auf einer Insel vor, irgendwo im Südpazifik, von seinem ungeborenen Sohn will der Vater nichts wissen. Eine Verwandtschaft lässt sich allerdings nicht leugnen: seine Liebe zur Musik hat der Vater seinem Sohn vermacht. Abende lang liess Charles sich durch den Bauch von den alten Kassetten beschallen, dieselben Lieder, die der Vater auf seiner verlorenen Insel vor sich hin pfiff. In einem solchen französischen Chanson mag mehr Sehnsucht vorhanden sein als in allen Geräuschen von Paris zusammen. In La mer zum Beispiel von dem Chansonnier Charles Trenet, einem Lied, das Charles während dreier Wochen ununterbrochen hörte. «Maman», Charles sprach Französisch, «je veux voir la mer.» Der Chauffeur, die Mutter hatte ihn zwecks dieser Reise engagiert, lud die Koffer in den Kofferraum, die Mutter Surprise 454/19


belegte die Rückbank mit ihrem ausgedehnten Leib. Und obschon das Auto viel Platz fasste, wurde es eine anstrengende Fahrt über Lyon und Genf Richtung Italien. Die Mutter wollte sich von niemandem sagen lassen, dass ihr Sohn die Welt verpasse. Vom Chauffeur liess sie sich und Charles durch sämtliche Regionen Italiens chauffieren. Bei jedem Denkmal und bei jeder vue panoramique manövrierte sie sich aus dem Wagen und stellte Charles die Sehenswürdigkeiten vor: «Voilà Charles, die Toskana.» «Voilà Charles, das Panthéon.» Und irgendwann mal: «Voilà Charles, das Mittelmeer.» «Elle est bleu?», fragte Charles. «Ja, sehr blau.» Tief im Bauch war Charles wohl doch enttäuscht, da die Wunderbarkeit, die im Lied von Trenet besungen wurde, in diesem doch eher monotonen Geräusch (die Brandung) nicht greifbar wurde. Um sich ins Meer hineinzuwagen, war die Mutter zu massiv. Sie begnügte sich damit, wie ein Walross in der Sonne zu liegen. Der Chauffeur wartete im Auto. Er sprach die Reise über kaum ein Wort. Wenn die Mutter sich anschickte, das Auto zu verlassen, stand er ihr mit seinem schmalen Schultergestell freundlich zur Verfügung. Ansonsten rauchte er oft Zigaretten durchs Autofenster und erfreute sich der lieblichen hellen Abendstimmungen. Surprise 454/19

Wenn Charles es wünschte, schob er eine CD mit den Chansons in den Rekorder und sie hörten Charles Trenet, Francis Cabrel, Yvette Guilbert, usw. Eine solche Tour ist für alle Beteiligten erschöpfend und wohl war auch Charles froh, als sie wieder in Paris waren, wo es weiterging wie bis anhin: Am Morgen Frühstück und Zeitung, für Charles ein bisschen Musik und Englischunterricht mit der Lern-CD, am Mittag Würstchen mit Salat. Der Chauffeur, der sich als talentierter Handwerker herausgestellt hatte, baute der Madame ein praktisches Fahrgestell, ähnlich einem erhöhten Rollstuhl, von dem aus die Mutter bequem in der Béchamelsauce rühren konnte. Dann Mittagsschlaf, zwei Stunden. Am Nachmittag Treffen mit Freundinnen. Das bedeutete: Kaffee trinken, Klatsch und Tratsch. Wenn Charles dies gelangweilt haben sollte, so liess er es sich nicht anmerken. Die Freundinnen waren anfangs süchtig danach, sich mit Charles durch den Bauch zu unterhalten. «Hallo Charles, wie geht’s?» «Hallo Charles, wie lange sind deine Haare?» «Hallo Charles, die Zeit vergeht wie im Flug, nicht wahr?» «Comment?» Die Freundin wiederholte ihre Frage, indem sie sich mit dem Gesicht ganz nah an den Bauch der Mutter beugte. «Die Zeit vergeht wie im Flug, nicht wahr?» «Bon», meinte Charles, das Herz seiner Mutter schlage meist gleich schnell und auch die Kathedrale, die er von draussen höre, gebe hoffentlich regelmässig ihre halben und ganzen Stunden an. Deswegen habe er übrigens ihre Frage erst auch nicht verstanden: «La cathédrale vient de sonner cinq heures.» Insgesamt war Charles recht höflich. Aus Rücksicht auf seine Mutter hatte er seine volle Länge nicht erreicht. Wenn ihm drum war, erzählte er kurze, selbsterfundene Witze. Die Mutter lachte, eine stolze Träne rollte über ihr Gesicht. Hätte eine der Freundinnen Charles eine heimliche Frage stellen wollen, hätte sie warten müssen, bis die Mutter eingeschlafen war. Diese Situation trat nie ein. Die Mutter griff nach ihrer Handtasche, wenn ihr linkes Auge vor Müdigkeit zu zucken begann. «Meine Teuersten», sie schob den Stuhl zurück und wankte aus dem Lokal, ihre Wohnung lag um die Ecke. Was hätten die Leute mit ihrem Sohn besprochen, wär sie nicht dabei gewesen? Vielleicht hätten sie Charles leise zu überzeugen versucht: Blaue Blumen! Gelbe Blumen! Bademäntel! Seidenstrümpfe! Der Frühling! Der Herbst! Schnupftabak! Es lohnt sich, den Bauch zu verlassen. Die Dämmerung! Wirbelstürme! Bratkartoffeln! Briefpost! Liebe! Federkohl! Von seiner Mutter wusste Charles, dass andere Menschen viel darum gegeben hätten, sich, wie er, in einem Bauch sicher zu wissen. Um ihn zu überzeugen, hätte es mehr bedurft. Eines Fernsehers vielleicht. 5


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Ich kann mir die Muttergefühle so vorstellen: Je länger Charles sich in ihr aufgehalten hatte, desto deutlicher war für sie: Ihr Sohn war nicht geschaffen für die Welt da draussen. Weder Sonne noch Wind würden ihm bekommen. Mit dem Blick eines Ausserirdischen würde er geboren werden, von der grellen Sonne geblendet auf die Strasse torkeln und unter einem schweren Fahrzeug wie Pappmaché zusammenklappen. Das war das eine. Das andere war die Sorge um ihr eigenes Fortbestehen: Dass nichts mehr aus ihr sprechen würde, dass nichts mehr ihr antworten, nichts mehr sich mit ihr freuen, mit ihr weinen würde. Dass nichts mehr aus ihr wissen wollte: Wie sieht das aus, Maman? Hat der Mann einen Schnauz? Was denken unsere Nachbarn dazu? Trinkt ihr Weisswein? Weder die Mutter noch der Sohn wussten, wer sie waren, wenn sie nicht jemanden im Bauch aufhoben oder im Bauch aufgehoben wurden. Gerade des Nachts, wenn die Mutter keinen Schlaf fand, wird auch Charles sich hintersonnen haben. Wie hoch der Himmel, wie reissend die Seine, wie kompliziert die Stadt sein mussten. «Ich bin dir nicht genug?», hörte Charles die Mutter weinen. Er tat, als sei er tief im Schlaf. Als sie auf dem Balkon gesagt hatte, ein Konzert sei zu anstrengend, hatte Charles beschlossen, allein hinzugehen. Ohne Mutter. Ohne Bauch. Ohne ihre Stimme. Ohne ihren Darm. Ohne ihr ewig pochendes Herz. Charles atmete tief ein. Wie unvorstellbar schön ein Chanson ohne den Krach einer Mutter klingen musste. Am Tag des Konzerts von Francis Cabrel klingelte der Chauffeur an der Tür des Appartements im zweiten Stock an der Rue de la République. Draussen schien die Sonne. Auszug aus einer längeren Erzählung. NOEMI SOMALVICO produziert Literatur zum Essen, zum Hören und Ausstellen. Schreibt Erzählungen, die bald so lang sind wie Romane. Seit 2018 absolviert sie einen Master an der Hochschule der Künste Bern. Veröffentlichungen in diversen Zeitschriften, Anthologien und beim Radio. Zuletzt: «Siehst du es regnet» in «poetin nr. 26».

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FOTO: JAEL SOMALVICO

In der Fruchtblase hätte man Charles fernsehen lassen müssen, einen beliebigen französischen Sender, angesichts dieser Bilder hätte Charles den Mutterbauch sicher gesprengt. Aber nie hatte jemand den Mut, vor dieser massiven Mutter den Mund aufzumachen und die Wahrheit zu sagen: Dass Paris und die ganze Welt es wert sind. Den frühen Abend verbrachte Charles in seiner Mutter auf dem Sofa. Sie ass Kirschen aus der Dose und erzählte ihrem Sohn schaurige Geschichten von draussen. Vom Bäcker aus Montmartre zum Beispiel, der sturzbesoffen über einen Brückenrand und direkt auf eine moldawische Herzogin gefallen war. Die Herzogin war zu einer touristischen Fahrt auf der Seine eingeladen und augenblicklich tot gewesen. «Quel dommage», kommentierte Charles, wollte gleich darauf aber wieder seine Musik hören. «Qu’ une petite chanson. S’il te plaît.» Die Mutter seufzte. In diesem, seinem zwanzigsten Lebensjahr bat Charles die Mutter mehr um Musik, als diese zu hören bereit war. Und jedes Mal, da die Mutter Charles’ dringenden Wunsch nach einem ­Chanson aufschob oder gar ablehnte, trieb Charles innerlich etwas weiter von ihr fort. Zum zwanzigsten Geburtstag kam der Chauffeur auf Besuch. Der Mutter brachte er Tulpen und Charles brachte er Tickets für ein Konzert von Francis Cabrel. Er sprach zu Charles vom Kühlschrank her, er wusste nicht, wo hinschauen. «Quel bonheur!» Charles’ Stimme überschlug sich. Die Mutter zog eine Augenbraue hoch, sie schob sich zum Fenster, wo sie konzentriert Wasser auf ihre Geranien sprühte. «Francis Cabrel!», rief Charles aus, verwundert und beglückt. Bei all der Freude sagte die Mutter: «Ein Konzert ist mir zu anstrengend.» Von da an war es still im Bauch. Am nächsten Morgen, als die Mutter im Badezimmer an ihren Bauch klopfte, antwortete Charles nicht. «Bist du wach?» Die Mutter trank drei Milchkaffees nacheinander, die sollten Charles in Fahrt bringen. Aber auch am Mittag sprach er nicht, es war etwas unangenehm für die Mutter: als trüge sie einen Toten durch die Gegend. Sie liess den Freundinnentreff sausen. «Warum sagst du nichts?», fragte sie. «Wegen dieses blöden Konzerts?» Charles’ Stimme war eine andere, als er antwortete, dunkel geworden über Nacht: «Maman. Je veux sortir.» Er begann es zu verlangen in den Strassen von Paris: «Maman, je veux sortir.» In den Bäckereien von Paris: «Maman, je veux sortir.» Auf den Rolltreppen von Paris: «Maman, je veux sortir.» Ab sofort ging die Mutter nicht mehr raus und liess sich alles per Post zuschicken. Croissants, Waschmittel, Werbung. Sie hatte sich längst einverstanden erklärt, ihn ans Konzert von Francis Cabrel zu begleiten, aber Charles hörte nicht auf, seine Geburt zu verlangen.


Such dir ein Bild aus, Marie! TEXT  CHRISTOPH SIMON

Himmel, nein! Schau dir das an! Alle Farben aufgebraucht im Atelier. Die Farben, die sonst in ihren Tuben vertrocknen. Eine Kuh?! Wie kommst du auf eine Kuh? Ich sehe da keine Kuh. Ich sehe ein Mandala. Ich soll mich in das Bild hineinversetzen? Du meine Güte, wieso redest du auf einmal wie eine Kunstpädagogin? Nun sei nicht grad beleidigt. Ich versuch’s ja. Was sagt sie mir denn, die Kuh? Ich bin eine Stille. Das sagt sie mir, die Kuh. Ich bin eine Leise. Wenn ich wiederkäue, ist das der angenehmste, stillste Lärm. Es kommt vor, dass mich Wanderer anstarren. Sie wollen ergründen, wie man sich von blauem Gras ernähren kann. Mache ich es richtig, Marie? Gschpürig genug? Wenn die Kommentare spöttisch werden und jemand ruft: «Das ist jetzt aber ein schauerliches Fleckvieh!», dann werde ich enorm ­verschlossen. Ich habe gesagt, du darfst dir eins aussuchen, Marie. Mit einer Einschränkung: Wenn wir mit dieser Kuh erwischt werden, werde ich vor Gericht gegen dich aussagen. Dann geh du schon mal weiter. Ich versetze mich noch ein Weilchen in dieses Mandala. Ernsthaft, Marie. Ich kann das. Mich hineinversetzen. Und ich lasse dich daran teilhaben. Was hat sich der Künstler zum Beispiel bei diesen drei Frauen hier überlegt? Bei diesen drei Bäuerinnen. Also, die ganz rechts heisst Vreni und hat Zahnschmerzen. Die Bäuerin ganz links heisst Ida und hat auch Zahnschmerzen. Sie ist seit ihrem dreizehnten Lebensjahr Alkoholikerin. Die Dame in der Mitte heisst Marguerite. Französisch geschrieben: MARGUERITE. Dem Halstuch nach ist sie ein Fan vom FC Basel. Marguerite sieht Ruth Dreifuss dermassen ähnlich, dass ich mich frage, ob sie mit einem Foto von ihr zum Schönheitschirurgen gefahren ist und gesagt hat: So will ich aussehen. Gefällt dir das Bild? Möchtest du die Bäuerinnen in der Stube? Ich sehe zwar absolut keinen Schwarzmarkt dafür, aber ich finde sie inspirierend. Ich lese in ihren Gesichtern wie in einem Buch. Vreni denkt an ihren Ex-Mann. An ihren Felix. Der wohnt jetzt in Bali, zusammen mit seiner Geliebten Paula und seiner dänischen Dogge Paula. Marie, auch wenn es dir nicht gefällt, ich kann reden, soviel ich will. Ein Museum ist keine Kirche. Komisch. Die Frauen sehen aus, als wären alle Männer aus ihrem Umfeld vor Jahren gestorben. Es ist unübersehbar, dass ihnen der männliche Frohsinn fehlt. Und es ist deutlich, dass sie jeden Morgen aus dem Haus gehen, ohne dass ihnen jemand einen ermunternden Blick zuwirft. Bist du sicher, dass du nicht diese Bäuerinnen willst? Schade. Die hätte ich jetzt gern eingepackt. Ich habe dir Surprise 454/19

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gesagt, ich schenke dir ein Bild deiner Wahl, und das tue ich auch. Aber ich hätte nicht gedacht, dass es so nervenaufreibend lange dauert, bis du eins ausgewählt hast. Wir können auch zwei mitnehmen. Die Bäuerinnen aus dem letzten Raum und diese drei Bauern hier. Was machen sie, was denkst du, Marie? Einen Schnauzwettbewerb? Wer hat den schönsten Schnauz im ganzen Land? Ich sehe, was da steht. Kuhhandel. Aber ich sehe keine einzige Kuh, die sie verhandeln könnten. Vielleicht reden sie einfach ein bisschen Blödsinn: «He, Boris, wer kann länger die Luft anhalten?» Und daheim erzählen sie den Frauen, sie hätten wichtige Geschäfte abgewickelt. Ah – dein Gesicht da kenn ich, Marie. Du hältst den Kopf schräg, aber in Wahrheit hörst du mir überhaupt nicht zu. Du wartest nur darauf, dass ich in eine Lichtschranke trete oder einen Bewegungsmelder auslöse und du sagen kannst: «Siehst du!» Entspannt. Vergnügt und entspannt, so kommt mir die Dame auf diesem Bild vor. Sie braucht den Herrn für eine flüchtige Konversation vor einer Schale Kaffee und lässt ihn danach sitzen. Und er? Er ist Gentleman genug, um sich in seiner Ehre nicht gekränkt zu fühlen. Nein, kein Gentleman. Ein Lebenskünstler. Wir sehen sofort, wie er sich ein solch famoses Vis-à-vis verdienen kann. Durch Charme. Was sie wohl reden? Vielleicht erzählt er von ihrer Schönheit. Hält sie so von einer kosmetischen Operation ab. Ein Lebenskünstler ist ein Mensch, der die Wirklichkeit in Möglichkeiten verwandelt. Der Lebenskünstler kann vieles und will nichts. Wozu vorwärtskommen?, fragt er sich. Wozu funktionieren, in irgendeinem fremdbestimmten System? So klug ist er. Und so einsam. Ständig auf der Suche nach der erlösenden Liebe, die er nicht findet. Siehst du, Marie? Das Bild geht mir nah. Wir Lebenskünstler sehen die Menschen kommen und gehen, wir fragen uns, was für Geschichten sie hinter ihren Fassaden verbergen, welche Geheimnisse verborgen bleiben. Wir müssen uns nur in ein Café setzen, ausgerüstet mit genug Zeit, und schon geht der Vorhang hoch: Liebesdramen, Alltagsquatsch, Schicksalsschläge, Eitelkeit, Situations-

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komik und Gegensätze, wie sie bunter nicht sein könnten. Ein Fest für die Sinne und für die Vorstellungskraft, gratis und um die Ecke. Lass uns weitergehen, ich verweichliche. Wenn du dich nicht bald für ein Bild entscheidest, gehen wir ins Naturhistorische und besorgen dir einen Elefantenfuss als Papierkorb. Man fragt sich schon, was sich die Kuratorin dabei denkt. Aber ihr geht es wohl gleich wie allen. Sie kann eben auch nicht nur aufhängen, was ihr gefällt. Ein Strafverteidiger kann nicht nur Unschuldige verteidigen. Ein Arzt behandelt auch Patienten, die er nicht mag. Und die Monets und Manets hängen alle schon in Paris und Basel. Ein Pech aber auch. Was würdest du den Künstler von diesem Foto fragen? Wieso nur das rote Käppchen von Rotkäppchen? Was ist die Botschaft? Wie lange haben Sie dafür gebraucht? Haben Sie das einfach so geknipst oder sind da Tricks dahinter? Können Sie davon leben? Was fotografieren Sie als nächstes? Sieben Zwergenmützen? Nein, ich will dir nichts ausreden, Marie. Mittlerweile bin ich froh, wenn du überhaupt ein Bild wählst. Wenn du das rote Käppchen ohne Rotkäppchen willst – bitte. Oder willst du einen Monet? Einen Giacometti? Nichts einfacher als das. Den Plan habe ich. Ich gehe nach Zürich ins Kunstmuseum und löse den Alarm aus. Entschuldigung, ich bin mit der Nase ans Bild gekommen, soll nicht wieder vorkommen! Entschuldigung, mein Arm muss die Bronzefigur touchiert haben. Einen alten Trottel wie mich nehmen sie nicht ernst. Wenn ich für dich dann so einen magersüchtigen Giacometti in den Migrossack stecke, hält die Security die Sirene für einen Fehlalarm. Noch ein Raum?! Ich bin schon ganz erschöpft von all der Kunst. Wir hätten uns an der Kasse ein paar Postkarten kaufen sollen. Schau, Marie. Wir beide. Auf dem Heimweg. Erinnert mich an diesen Abend – wie lange ist das her? Zwanzig Jahre? Dieser Abend, als ich, den Hut tief ins Gesicht gezogen und eine Pistole in der Manteltasche, die Tür dieser Bankfiliale aufstiess. Das heisst: ich wollte sie aufstossen. Nur hatte die Bank schon geschlossen. Ich stand vor der verschlossenen Tür und rannte dann unter den Augen der Bankangestellten, die drinnen das Geld zählten, zu unserem Fluchtauto. Weisst du noch? Du wartetest dort auf mich, in Tränen aufgelöst. Jemand hatte unser Auto aufgebockt und alle vier Räder gestohlen. Siehst du, das sind wir zwei auf dem Bild! Wie wir dann Hand in Hand voller enttäuschter Hoffnungen die Stadt hinter uns liessen und unverhofft vor dieser Villa standen … Doch, natürlich, das war in derselben Nacht! Aber sicher, Marie! Diesen Film müsste jemand drehen: Wir zwei in dieser Villa, überwältigt von all den Wertgegenständen, und plötzlich steht dieser Bub vor uns. Vierjährig, fünfjährig? Er kommt verschlafen die Treppe herunter, sieht uns zwei Fremde im Wohnzimmer … Und du geistesgegenwärtig – Marie, also das werde ich nie vergessen! Wie du ihm erklärst, wir seien Freunde seiner Eltern und würden uns nur mal kurz ein paar Sachen ausleihen. Und dann hilft er uns, den Schmuck zu finden und hält uns die Tür auf, damit wir mit dem Videorecorder und allem nach draussen komSurprise 454/19


men. Was für eine zauberhafte Nacht! Ich habe es immer gesagt: Eigentum ist nicht, was dir gehört. Eigentum ist, was du beschützen kannst. Abendliche Heimkehr … Ein wirklich reizender Titel, findest du nicht auch? Man spürt dabei sofort die Idee, die dem Ganzen zugrunde liegt, nicht wahr? Menschen und ihre Pläne, und wie sich ihre Pläne unvermittelt ändern. Erkennst du uns? Willst du es trotzdem? Wie wir es machen? Wir halten uns an die Regeln aus «Topkapi»: genial planen, brillant ausführen und nicht erwischt werden. Aufsicht? Welche Aufsicht? Hast du hier drin eine Aufsicht gesehen? Die Aufsicht ist im Museumsshop und kauft sich ein Van-Gogh-Puzzle für ihren Enkel. Endlich etwas Schönes! Etwas, das sich daheim sehen lassen würde! Marie, wenn das hier willst, bitteschön, ich mache dir gern den Gefallen! Dieser Leuchtkasten! Springt einem direkt ins Herz, nicht? Das ist die Gelegenheit, Marie! Ich gebe zu, dieser Leuchtkasten – nicht ganz einfach. Am liebsten sind mir gerahmte Bilder. Die kannst du herausschneiden und zusammenrollen. Vielleicht verkleiden wir uns als Museumsaufsicht? «Entschuldigung, wir müsSurprise 454/19

sen jetzt leider schliessen, begeben Sie sich zum nächsten Ausgang. Reinigungsarbeiten, Sie wissen schon … Auf Wiedersehen, wir danken fürs Verständnis.» Dann hätten wir alle Zeit der Welt, das Museum zu leeren. Aber Marie, nein doch nein. Wieso sagst du jetzt sowas? Wir sind keine Diebe! Wir sind Kunstliebhaber! Das Museum besitzt diese Bilder nicht. Juristisch vielleicht, aber im Prinzip gehören sie dem Steuerzahler. Wir können nichts stehlen, was uns schon gehört. Warum nicht die Flamme? Das ist doch kein Argument! Mir gefallen viele Dinge nicht, die ich tagtäglich um mich herum habe. Ein Vorschlag: Du setzt dich jetzt vor dieses Cheminée und lässt es auf dich wirken. Gut, schon gut. Ich komme ja schon. Typisch. Nichts drauf und dann noch «Ohne Titel». Beim Titel darfst du nicht schlampen. Nimm Paul Klee. Niemals hätte es Klee zu einem Zentrum geschafft, wenn er seine Männchen und Rechtecke «Ohne Titel» genannt hätte. Er lag auf der richtigen Spur mit «Rosenwind». Und richtig aufwärts ging’s, als er den Bindestrich entdeckte. «Wald-Hexen» und «Schlamm-Assel-Fisch» und «RadWahn». Aber zum Star mit Museumsshop und Krawatten 9


FOTO: ULRIKE MEUTZNER

und Teetassen avancierst du mit «Segelnde Stadt» und «Monument im Fruchtland». Das sind Titel! Du musst den Akademikerinnen etwas zum Schreiben und den Multimillionären etwas zum Hirnen geben. Ich verstehe ein bisschen was von Kunst. «Ohne Titel», also nein. Mein Vorschlag: «Schädel, geröntgt». Oder: «Sehr viel Schwarz». Oder wieso nicht sowas: «Die Frisur vom Panda ist immer gleich, damit er aussieht wie auf dem WWF-Logo». Das gäbe zu denken! Oder: «Ein albanisches Handörgeli löst ein Sudoku». Surreal! Oder: «Der Schotte heult beim Anblick von schottischen Hochrindern ohne Hörner». Zeitkritisch! Oder: «Ein tunesischer Kugelfisch geht wandern und verpasst den Zeigi-Tag im Kindergarten». Wenigstens beim Titel könnte sich so eine abstrakte Künstlerin etwas anstrengen. Wer weiss, vielleicht hätte sie auch lieber was Actionreicheres gemalt. Ein Erdbeben durchgepaust. Aber die innere Uhr des Planeten ist diesem Ansinnen nicht günstig gegenübergestanden. Aber Marie! Nein doch nein! Doch nicht dieses Bild! Machst du dich lustig über mich? Ausgerechnet dieses viele, sehr sehr viele Schwarz? Nein. Kommt nicht infrage … Vorsichtig, Marie! Lass mich das machen! Ich kann das nicht glauben! Ich riskiere Gefängnis und soziale Wiedereingliederungsprogramme für diesen «Schädel, geröntgt». Hältst du es richtig? Wir hätten einen Plastiksack mitbringen sollen. So einen Franz-Carl-Weber-Plastiksack Grösse Playmobil-Piratenschiff. Aber mit deinem Mantel geht’s auch. Ja, genau so. Ein Ärmel auf diese Seite, den anderen auf die andere. Erinnert mich an damals, als ich diesen Kiosk überfallen wollte und keine Strumpfmaske dabeihatte. Weisst du noch? Habe mir deine Strumpfhosen über den Kopf gezogen, sodass die Beine rechts und links heruntergebaumelt sind wie bei einem traurigen Cockerspaniel. Weshalb sollten sie uns nicht rauslassen? Natürlich lassen sie uns raus. So freu dich doch, Marie! Du hast dich durchgesetzt! Bald hängt der tunesische Kugelfisch bei uns im Wohnzimmer! Freust du dich nicht? Ich freue mich jedenfalls, Marie. Ich bin ganz neu verliebt in dich! Mit den drei Bäuerinnen oder der Cheminee-Flamme aus dem letzten Raum wäre ich noch viel verliebter in dich … aber nein doch nein, Marie, entspann dich. Hörst du irgendwo einen Alarm? Ich höre keinen Alarm. Ich schenke dir ein Bild, Marie, genau wie ich es geplant habe. Ich habe mein Werk vollbracht! Marie, meine Muse! Jetzt trinken wir erst mal einen Kaffee. So viel Genuss nach all der Kunst muss sein. Vielleicht gehst du schon mal vor, ja? Ich wische noch die Fingerabdrücke weg. Wir machen’s uns im Café gemütlich und beobachten ein paar Liebesdramen, Schicksalsschläge und Eitelkeiten. Wir Lebenskünstler! CHRISTOPH SIMON ist Slam Poet und Schriftsteller und lebt in Bern. Er ist Träger des Salzburger Stier 2018 und erzählt Morgen­ geschichten auf Radio SRF. Zurzeit ist er mit den Solo-Kabarettprogrammen «Der Richtige für fast alles» und «Zweite Chance» unterwegs.

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Warum nicht das mit’m Storch? TEXT  RENATO KAISER

Es hat sich jetzt schon ein paar Mal ergeben, dass irgendwo, irgendwann in einem Gespräch, spätestens dann, wenn es um Gott und die Welt ging, also dann, wenn alle schon recht betrunken waren, dass dann irgendeiner gesagt hat: «Ja aber vielleicht ist Gott ja gar kein Mann! Vielleicht ist Gott ja eine Frau, hm? Hast du darüber schon mal nachgedacht?» Und dann hat man das diskutiert wie verrückt. So als ob es für eine Frau irgendwie besser wäre, wenn der Gott dieser Welt, so wie sie jetzt gerade ist, eine Frau wäre. So als ob alle Frauen auf dieser Welt auf einmal tausend Franken mehr auf dem Lohnausweis hätten, nur weil wir jetzt hier gerade sagen, dass Gott eine Frau sei. So als ob die Hobbyfeministin am Tisch, die auf einmal ungewohnt eifrig von der Bibel erzählt, wirklich an so einen Gott glauben würde. Und so als ob der, der das gesagt hatte vorhin, ein wirkliches Interesse an der Situation des anderen Geschlechts gehabt hätte, abgesehen davon, ebendiese Hobby­feministin abzuschleppen. Aber ja, weil ich diesen Spruch mittlerweile schon oft genug gehört habe, habe ich mir doch mal ein paar Gedanken dazu gemacht und bin zu folgendem Schluss gekommen: Wenn es einen Gott gibt, würde es mich doch sehr erstaunen, wenn Gott eine Frau wäre. Nur schon aus einem Grund: Wenn Gott eine Frau wäre, dann hätte sie das System der Geburt doch irgendwie anders geregelt. Wenn diese Göttin wirklich allmächtig ist und die Welt so erschaffen konnte, wie sie es wollte, nach ihren Traumvorstellungen: Warum hat sie dann, was die Geburt anbelangt, die wahrscheinlich schmerzhafteste Option gewählt, die’s gibt? Warum nicht einfach ein Türchen? Ein Gebärrucksack? Irgendetwas Praktisches, vielleicht sogar wireless, keine Ahnung! Ich meine: Sogar die Menschen selbst sind auf eine bessere Idee gekommen! Warum nicht das mit dem Storch? Denn wie ist das mit dem Storch entstanden? Aus Erklärungsnot! Wahrscheinlich hat irgendwann einmal irgendein Kind seine Eltern gefragt, wo denn die Babys herkommen und die zwei haben sich dann ganz gequält angeschaut und einer der beiden hat dann gesagt, der Storch bringe die Babys. Weil: Die unbequeme Wahrheit kann man dem Kind doch nicht zumuten, ist doch irgendwie nicht ok. Aber wer hat denn in unserem Fall entschieden, dass das für uns ok ist, also vor allem für die Frau? Das mit dem Storch ist ja wirklich eine tolle Idee: Eine Frau bestellt ein Baby, vielleicht in Absprache mit ihrem Mann, vielleicht mit ihrer Frau, vielleicht auch alleine, Surprise 454/19

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Wenn Sie sich neu in der Wohnung eingerichtet haben, kommt einer und zerrt Sie am Kopf heraus.

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Glauben Sie mir, das ist kein Spass und das Kind hat auch keine Freude daran. Das hat sich seit neun Monaten eingelebt und hat erst gerade angefangen, sich wohlzufühlen, Sie kennen das ja selbst, wenn Sie in einer neuen Wohnung sind und sich eingerichtet haben, die Bilder hängen an der Wand, die Lampen sind an der Decke, die Tage der Müllabfuhr kennen Sie auch schon langsam und dann – zack – kommt einer und zerrt Sie am Kopf aus Ihrer Wohnung: da wären Sie doch auch sauer, oder? Und darum will das Kind auch gar nicht raus und alles in allem resultiert das dann schlussendlich in einer mehrstündigen Prozedur aus pressen und ziehen und stossen und atmen und schreien und Blut und unendlichen Schmerzen.» «Oh. Krass. Ja, und was wäre dann die zweite Option?» «Ah ja, genau, die zweite Option wäre, dass man Sie narkotisiert, Ihnen den Bauch aufschneidet, das Baby rausholt und Ihren Bauch dann wieder zunäht.» «Ui, das klingt jetzt so ein bisschen ähnlich wie dieses Märchen mit dem Wolf und den Steinen, einfach umgekehrt ...» «Stimmt! Jetzt wo Sie’s sagen, aber nun, ich will ja jetzt nicht schlecht über Kollegen reden, aber bei diesem ‹Gott›, von dem ich Ihnen erzählt habe, klingt ganz vieles wie im Märchen.» «Ja schon und ich meine, ich kenne Ihren Kollegen jetzt nicht so gut, aber ich muss sagen, beide Optionen klingen jetzt nicht gerade benutzerfreundlich ...» «Ja! Das sag ich auch! Aber das ist jetzt ja auch nicht so wichtig, auf wann hätten Sie denn gerne Ihr Baby bestellt? Vielleicht so etwa heute in einem Jahr? Dann können Sie jetzt vielleicht noch eine Weltreise machen oder die Taucherprüfung oder noch ein paar Mal so richtig ausgehen, was meinen Sie? Ich würde es Ihnen sehr empfehlen. Studien haben erwiesen, dass das Verhältnis zwischen Eltern und Kind einfach besser ist, wenn dem Kind nicht passiv-aggressiv vorgeworfen wird, dass man all die Sachen wegen ihm nicht mehr machen konnte.» «Ja gut, doch doch, dann würd ich doch sagen, heute in einem Jahr. Ja.» «Ja wunderbar, vielen Dank. Nur ein Baby? Oder wollen Sie gleich zwei? Also wenn Sie jetzt sofort bestellen, dann ist das zweite Baby gratis.» RENATO K AISER ist Spoken Word Künstler, Comedian, Satiriker, Autor und Präsident von spoken-word.ch. 2005 gewann er seinen ersten Slam in Winterthur, 2012 wurde er Poetry Slam Schweizermeister. 2012 erhielt er den Förderpreis der St. Gallischen Kulturstiftung und 2013 den Förderpreis der Internationalen Bodensee­ konferenz. Live spielt er sein Programm «Renato Kaiser in der Kommentarspalte – Satire mit Hirn und Herz».

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FOTO: JOHANNA BOSSART

völlig egal, bestellt also ein Baby, weil sie sich sagt: «Hey, ich glaub, ich wär soweit. Ich hab fertig studiert, Praktikum gemacht, weiterstudiert, nochmal ein Praktikum gemacht, promoviert, die Anwaltsprüfung bestanden, habe jetzt drei Jahre gearbeitet, hab jetzt langsam so was wie ein geregeltes Leben, bin 43 und ja: ich glaube, ich hätt jetzt gern ein Baby.» Und dann würde sie das halt bestellen, per Telefon, online oder kabellos über ein Gebet, vielleicht per Skype, und die Göttin würde sagen: «Kein Problem, der Storch kommt am Dienstagabend», und die Frau würde dann vielleicht sagen: «Auuu, Dienstagabend ist ganz schlecht, dann hab ich immer mein Ayurveda-Power­ kickboxyoga» und dann würde die Göttin sagen: «Ja gut, dann halt Mittwochabend, mir ist das egal, Zeit hat für mich keine Bedeutung» und dann würde die Frau sagen: «Ja für mich eben schon und wissen Sie, wenn ich ehrlich bin, finde ich nächste Woche doch ein bisschen früh, ich meine, so ein Baby, das hat man dann ein Leben lang!» – «Ja, da haben Sie natürlich recht», würde die Göttin dann sagen, «und weglasern ist total teuer, nicht wahr?» und dann würde die Göttin lachen und die Frau nicht so, aber die Göttin würde es trotzdem sehr lustig finden, weil man halt mit der Zeit einen anderen Humor entwickelt, wenn man jeden Tag abertausende Babys per Storch verschickt. Und die Frau würde kurz überlegen, ob sie bei dieser Göttin jetzt wirklich ein Baby bestellen will oder nicht oder ob es vielleicht noch eine andere Option gibt und das fragt sie dann diese Göttin auch, ob es noch eine andere Option gäbe und die würde dann kurz auflachen und sagen: «Ja gut, bei mir gibt’s keine andere Option. Aber ich hab da noch so einen männlichen Kollegen, Gott heisst der, der hat sogar zwei Optionen. Also hören Sie zu, die erste ist: Sie tragen das Kind in sich, es wird in Ihnen im Bauch grösser und grösser, Ihre Haut spannt sich, es gibt Dehnungsstreifen, die Sie nicht mehr wegkriegen, ständig wollen irgendwelche Leute Ihren Bauch streicheln und ihren Kopf drauflegen, als wären Sie eine verdammte Muschel aus dem Mittelmeer, Sie haben Stimmungsschwankungen, Wutanfälle, Heulkrämpfe, essen komisches Zeugs, Geschäftskollegen schauen Sie von Weitem skeptisch an und reden wochenlang nicht mehr mit Ihnen, weil Sie nicht so recht wissen, ob Sie jetzt schwanger sind oder einfach nur zugenommen haben, das tut weh, weil es eh egal ist, dick und wie ein Alien fühlen Sie sich sowieso, Ihr Kind tritt Sie auch noch die ganze Zeit, als ob es nicht schon reichen würde, dass Sie Rückenschmerzen haben, und nach neun Monaten müssen Sie es da unten, also ich will jetzt ja nicht ins Detail gehen, aber ja, da unten müssen Sie es dann rausdrücken. Und um Ihnen das gleich mal klarzumachen: Das Kind ist dann etwa dreieinhalb Kilo schwer und einen halben Meter lang, wenn Sie Glück haben.


IM HIMMEL WIE AUF ERDEN – EINE LITERARISCHE STUDIE VON REGIONALVERHÄLTNISSEN ZUEINANDER UND VONEINANDER mit etwas Himmel dazwischen TEXT  KATJA BRUNNER

Ganz klar keine Schönheit der Berge, kein liebliches Alpen­ panorama von sich gestreckt, nein, schroff empor gewachsene Böslinge sind das da. Vertrucken den Menschen den Kopf, Bergrücken vorne und hinten, es schauen einen nur Rücken an in Unterschächen, dafür so warme, angewärmte und freundliche Gesichter, zutraulich. Stille Rufe in ein Nirgendwo, Loch im Kopf, es läuft aus, dort – aus – aus dem Kopf hinaus wie am Felshang aus dem Felshang hinaus Wasserschaum. Kaskädchen, immer Kaskädchen, alles artig, artige Konversation, der zoologische Effekt, arrogante Stadt­ nasen meinen ständig über alles Bescheid zu wissen. Wir sind ja hier in der Deutschschweiz, es ist immer noch alles im Diminutivlein bitte, immer artig kommunizieren, immer alles artig tun. Airolo-Göschenen retour und immer brav den Mittagsschlaf einhalten, nie vorpreschen und ja immer geregelt Laute von sich geben, das, denken Städter, sei die Landbevölkerung – und alles immer tun wie der Grossvater es schon getan hat. Und der Bappe vom Opa des Bruders von der Oma. In vorgeserbelten Vokabeln sprechen, wir erfinden hier nichts neu, wir erfüllen doch Vorgaben nach Massnahme und gesundem Menschenverstand, der immer wieder neu abgeglichen werden kann zwischen den eigenen vier Felswänden, die Ambition ist klar, Überleben, der Herrgott nah. So denken das die Städter über die Landbevölkerung, ein Neutrum eigentlich ist sie, das Land­ bevölkerung. Das Wetter ist der Witwer der Sonne und zu beklagen gäbe es viel, aber da am Volksfest gibt es auch die Fairen und die Argwöhnischen, die Lauten und die Offenen, die Müden und die Alkoholisierten wie überall immer und die Gemeinschaftlichkeit, die Fremden immer brav sichtbar, kein Eiertanz vonnöten, damit klar gemacht werden kann: Du bist hier fremd; der Sieger der Schwinget keiner von Prätention, du gewinnst, sagen die Bewegungen der anderen, aber gewonnen wird ja immer, öfter sogar verloren, aber bild dir nichts drauf ein, Kinder, die taumeln und wohl geordnete Toiletten, selbst gezimmert. Sprachdifferenz, da muss ich staunend die Öhrchen spitzen und Surprise 454/19

abwarten, in der Sprache quer gelegen. Ja, die Fenster sind frisch gereinigt, da kann ich ja nur mit meinen Fettfingern drauf rumschmieren, Pommesspuren für alle. Dann wieder so ein sattes Grün, dass mir die Augen beinahe den Dienst verweigern, deren Schaltzentrale verwehrt mir so ein sattes Maigrün, so eine geballte Wucht an Farbe. NÄCHSTER HIMMEL Hotel Alpina, man schaut an Krachen um Krachen, aber so ein zartes freundschaftliches Licht, Schnupftabak und Stimmengewirr, Dorfjugend, so ein Moped ist der Beweis sämtlicher Freiheiten. Dann unvermittelt Musiker, die staunen, und doppelte Espressi und die Dorfkapelle so rund und fein wie ein Stein angespült von Wogen, über Jahre hinweg geglättet. Warten ist kein Zustand, nur Arbeiten ist einer, kann man hier an denen ablesen, die seit Jahrhunderten den Bergen, dem Schnee trotzen, ihnen ein Leben abtrotzen. Dann weiter mit so einem Postauto, das zu einer Schweizer Kindheit gehört, unabdingbar, dieses gelbe Scheissding, und meistens auch noch pünktlich und immer sind die Leute mit den Nordic Walking Sticks drin, selbst wenn man nur zum Türlersee fährt. Da sind also wieder diverse Menschen mit Nordic Walking Sticks, dieses Mal aber freundliche mit so hellen Gesichtern und verwanderten Beinen, das erkennt man sofort, das Dynamische, Naturverliebte, Regelgetreue, das da in den Gesichtern blüht, ein Ehepaar sehr wanderwegkundig und aus dem Kanton Uri – die Zürcher sind natürlich wiedermal die Verhassten, da schäme ich mich direkt, aber irgendwie freut’s mich auch, wenigstens etwas Brauchbares generiert die Idee vom KANTON, nämlich den Hass auf die ZürcherInnen, diese verschlagenen PseudogrossstädterInnen, zu denen man unstolz, aber trotzdem ziemlich prätentiös gehört – nein, nein, sie fahren dort (ZH) nur manchmal hin wegen des Zoos und der Oper, aber das kulturelle Angebot in der Innerschweiz sei eh schon zu gross, man müsse wählerisch bleiben; jaja, man kann ja auch durchaus zwischen Rivella blau, rot und grün auswählen, das ist ja allerhand schon. Und wenigstens neigen sie die Köpfe und sind nicht auf Tell stolz, ihnen ist der Tell egal, das ist gegenteilig zu allem, was ich glaubte, ein 13


Ürner, dem der Tell gänzlich egal ist, wenn auch es schon – das erwähnen sie gerne – etliche Gründe gäbe, auf die Schweiz und die Geschichtsschreibung stolz zu sein – wenn auch, wenn auch nicht alles aufgearbeitet, gibt der Herr zu verstehen; Bodenständigkeit und Arbeitsamkeit, das ist immer die Glocke, die bimmelt, und ich denke an die Wetterfront, die aufzieht, bald sind wir im Tessin, dort ist alles anders. Eintritt in die Sphären der Gelnägel, des Burkaverbots, der Selbstironie und der verkleinerten Italianità – oder dem, was Deutschschweizer damit verwechseln. NÄCHSTER HIMMEL: un giorno in little Eataly im Bus Im Tessin war’s immer eso schön, sagte Onkel Eddie zu seiner Verabredung, die er nach Tante Hildegards Ableben für sich reklamierte. Im Tessin hatten wir es immer gut, sagte er. Goldgelbes Licht, eine gute Pizza und echli Boccia. Flussbäder, bald schon in Italien, und Wandern kann man so gut, via alta und Marroni sammeln. Ja genau. Ein gelato oder zwei. ANNEXION DURCH DIE DEUTSCHSCHWEIZER, BITTE NÖD. Oh, bella frisüra, komm doch noch auf einen Kaffee, und die Häuser sind kühl im Sommer und haben Wände wie Burgen im Winter, schwerfällig warm gewordene Häuser grosser Gastlichkeit, und draussen der Alpenfirn vielleicht und ein oder zwei Palmen, die sich glücklich 14

oder weniger glücklich der Sonne entgegenstrecken, man weiss es nicht so genau, dann da die Schnellstrasse: Mitten durchs Dorf, das ist wichtig, dass die fast jeden Dorfkern noch durchtrennen würde, so eine Schnellstrasse muss das schliesslich tun – und da die Migros neben einer Gruppe Kakibäume so orange behangen, stramme Früchte tragend bald im Herbst dann. Dahinter grünbraunes Weideland, es hat geregnet viel in den letzten Tagen, dick hängt so ein winteriger Nebel, wattierte Grundbausteine gedämpft, sickert Licht auf die Wiesen. Dort ist dann der Fluss und nach dem Fluss nochmal Weideland und danach ein Dorf, das sich an den aufsteigenden Berg kuschelt. So hinanlegt in die Achselhöhle des Berges. Schmiegen an den Talrand tut sich das Dorf und schon schallt da die Kirchenglocke herüber. Man weiss nicht, ist das Nacht oder Taggebimmel, ist das Nebel, den ich mag, oder ist das eben genau kein Nebel, den man ertragen kann hier. An der Schnellstrasse entlang: Betonmischer, Kräne, Industrie, Wellblech, Helvetia, ein Restorant, Wanderwegzeichen, Ginsterbüsche, schwere Hecken, liebevoll dekorierte Vorgärten, schnelle Strassen, eng an Häusern vorbei, Menschen lieb in Bushaltestellen wartend auf Worte, ein Hotel, verlassen, Bretter verhauen vor den Fenstern. Surprise 454/19


FOTO: ZVG

Ein Platz wie ein Sperrmülllager, Campinghocker, ein Handball, kaputte Sonnenschirme, unbedingtes, ehemaliges Weiss, eine Badewanne, Algen wachsen. Dann ein Kiosk mit einem dicken Mann darin, der lächelt. Ein Mann, der wandert in Funktionskleidung tüchtig um den Körper geschnallt, man weiss ja nie, und einem Rucksack, ich nehme an, dort ist ein freundlicher Proviant drin, einige Nüsse, zwei Bananen und Cracker, er hat mit dem Rauchen aufgehört, seine Nordic Walking Sticks schlagen auf dem Boden auf, von Weitem sieht er aus als ginge er an Zahnstochern. Dann der Motor vom Bus dröhnt weiter. Wobei, nein, der schnurrt eher. Dann haben wir eine Nonne, sie schreitet eher als dass sie geht, ich kenne nur Ungläubige, ich hoffe, sie hat’s nicht mit dem Herzen, beim Vorbeifahren dünkt mich ihr Gesicht so, als wüchse darauf Kohlrabi, das ist immer ein Anzeichen von Herzgeschichten. Dann eine Gruppe deutlich Deutschschweizer Touristen, sie haben Wanderkarten in der Hand, sie haben tüchtiges Schuhwerk und gute Gürtel um die Bäuche, da bin ich mir sicher, ich kann sie nicht sehen, aber ich gehe davon aus, sie haben Knieschoner und zwei aus vier haben Arthrose, das macht ihnen für Stunden nichts, wie die Gämse besteigen die den Berg, ob von Süd oder Nord, Surprise 454/19

Gipfelstürmer, golden ager, die sie sind, voll stählernem Sportsgeist auf die Wanderwege geplagt, von protestantischem Eifer auf die Gipfel gejagt und abends dann einkehren auf eine feine Pizza mit echli Schinken nein bis zum Abwinken der Heiri hat ganz rote Baggen und die anderen tragen nur noch Jacken und an der Schnellstrasse knickt einer Madonna der Schein weg zerschellt ungehört auf dem Asphalt. K ATJA BRUNNER studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste Berlin und Literarisches Schreiben am Literatur­ institut Biel. Sie schreibt Prosa und Theater­ stücke, die in sieben Sprachen über­tragen und auf vier Kontinenten gespielt wurden. Zurzeit schreibt sie an einem Auftragswerk fürs Schauspiel Leipzig, 2018 war sie Preisträgerin des Förderpreises des Regie­ rungsrates Zürich. Aktuell läuft ihr Stück «die hand ist ein einsamer jäger» an der Volksbühne Berlin.

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Der Absprung TEXT  RALF SCHLATTER

Thomas und Stefan wuchsen nebeneinander auf. Mehrfamilienhaus, Mittelland, Ortsrand. Thomas dritter Stock, links. Stefan dritter Stock, rechts. Und hätte es den Begriff Sandkastenfreunde nicht schon gegeben, man hätte ihn für die beiden erfinden müssen: Ewige Nachmittage lang bauten sie Burgen, gruben Tunnels und Badeseen, fuhren Lastwagen, brüteten Kinderüberraschungseier aus und versenkten Geheimnisse. Was wohl aus den beiden wurde? Nun, es ist rasch erzählt: Aus Thomas wurde der Vizedirektor der lokalen Bank, aus Stefan ein Obdachloser. Warum steigt der eine auf, warum stürzt der andere ab? Nun, es ist rasch erzählt: Wäre der Vater von Stefan nicht auf der Skipiste über einen Stein gefahren und saumässig unglücklich gestürzt, wäre er darüber nicht arbeitsunfähig geworden, hätten ihn deswegen nicht die Depressionen gepackt, hätte er sich nicht an seinem 50. Geburtstag, im Mehrfamilienhaus, dritter Stock, rechts, mit der Armeepistole in den Kopf geschossen, wäre die Mutter aus Verzweiflung darüber nicht zur Alkoholikerin geworden, hätten sie ihr nicht das Sorgerecht entzogen, wäre Stefan nicht aus dem Heim ausgerissen, hätte er auf der Gasse nicht diese seltsame Pille erwischt, hätte er nicht auf Entzug die lokale Bank ausgeraubt, hätte ihn das Gefängnis nach der Strafe nicht zurück auf die Strasse gespuckt. Wie kam der Stein auf die Skipiste? Über den Thomas’ Mutter einen Tag später auch fuhr, auch stürzte, aber nicht dermassen unglücklich, sondern auf einen anderen Skifahrer, mit dem sie nachher, mit zwei gebrochenen Armen, eine Woche lang im gleichen Spitalzimmer lag, der seinerseits Prokurist war in der lokalen Bank, der ihr versprach, er werde ein gutes Wort einlegen beim Chef in Sachen Lehrstelle für ihren Thomas, der dann fast nicht anders konnte, als die Lehrstelle anzunehmen, da die Mutter inzwischen mit dem Prokuristen durchgebrannt war und sich Thomas’ Vater aus lauter Verzweiflung darüber an seinem 50. Geburtstag, im Mehrfamilienhaus, dritter Stock, links, im Schlafzimmer erhängt hatte und Thomas bis heute glaubt, er sei schuld an dieser ganzen Tragödie und es ihm jeden Morgen eng wird um den Hals, und das liegt nicht an der Krawatte. Also noch einmal: Wie kam der Stein auf die Skipiste? Nun, das ist rasch erzählt: Er fiel vom Himmel. Thomas also in der Bank drin, Stefan auf der Bank draussen. Und Ironie des Schicksals: die Bank stand draussen vor der Bank. Jeden Morgen ging Thomas daran vorbei, grüsste Stefan schon lange nicht mehr, schaute stattdessen stur auf sein Mobiltelefon, hielt dem Anblick nicht stand, sein Sandkastenfreund, in diesem ausgebli-

chenen Schlafsack, neben der Bank ein alter Einkaufswagen, darin sein ganzes Hab und Gut. Wer hatte die Buche gepflanzt, zwischen Bank und Bank? Und warum setzte sich das Rotkehlchen drauf? Es war ein Dienstagmorgen im Frühling. Thomas sass in seinem Büro. Es war dieser unschuldige, leicht sehnsüchtige Ruf des Rotkehlchens, draussen auf der Buche: Thomas beschloss, einen Absprung zu machen. Das Schicksal umzukehren. Am besten jetzt, sofort. Er löste die Krawatte ein wenig. Sein Zwerchfell begann leise zu zittern. Er fuhr den Computer herunter. «Ich bin rasch weg», sagte er zu seiner Sekretärin, ging ins nächste Warenhaus und kaufte ganz viel Klebband, ein Teppichmesser, einen Goldspray und ein Tüchlein, so eines, wie es Lucky Luke um den Hals trägt. Er ass einen Hotdog, draussen, an der Sonne, an einem Stehtischchen. Dann ging er zurück zur Bank, zog sich kurz vor der automatischen Schiebetür das Tüchlein über die Nase, ging hinein, streckte den Finger unter sein Jackett, als hätte er eine Pistole in der Hand und sagte: «Das ist ein Überfall. Geben Sie mir meinen Monatslohn, in Zehnernoten.» – «Thomas?», sagte die Frau am Schalter. «Bist du das?» Er sagte nichts, blieb einfach stehen. Er sah der Frau an, dass sie krampfhaft überlegte, was zu tun war, sich aber beim besten Willen an kein Szenario aus dem Notfallkurs erinnern konnte, in dem vorkam, dass ein Vorgesetzter bei ihr seinen eigenen Lohn stehlen wollte. Und wenn es schon nicht wirklich kriminell war, wie das dann erst buchhalterisch aufgehen sollte. Irgendwann schien sie gedanklich zu kapitulieren, schluckte leer und begann, die Noten abzuzählen. Mit mehreren Papiertüten voller Zehnernoten ging Thomas zurück ins Büro. «Ich möchte für den Rest des Tages nicht mehr gestört werden», sagte er zu seiner Sekretärin. Dann schloss er die Tür hinter sich ab und fing an zu basteln. Zuerst klebte er alle Noten zu einer grossen, runden Fläche zusammen. Das sah schön aus, dieses satte Gelb der Zehnernoten, und all diese Hände auf den Noten, die die Welt zu dirigieren schienen. Dann zerschnitt er den Teppich, auf dem das Salontischchen in der Sessel­ ecke gestanden hatte, und machte daraus einen Rand, der die ganze Notenfläche umfasste. Mit den Teppichfransen verknüpfte er den Rand mit der Fläche und verstärkte das Ganze mit Klebeband. Als nächstes riss er die Vorhänge herunter, schnitt sie in Streifen und machte sie am Rand fest. Dann sprayte er die ganze Fläche der zusammengeklebten Zehnernoten mit Goldfarbe voll. Mit der leeren Spraydose in der Hand setzte er sich auf seinen Bürostuhl und begutachtete sein Werk. Gut und gern eine halbe

Er kaufte ganz viel Klebband, ein Teppichmesser, einen Goldspray und ein Tüchlein wie Lucky Luke.

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FOTO: CHRISTOPH HOIGNÉ

Stunde lang sass er da, ganz still. Worauf wartete er? Vermutlich auf das Rotkehlchen. Kurz vor sechzehn Uhr fing es wieder an, zu singen. Als wäre das sein Signal gewesen, stand Thomas auf, stellte sich neben die Notenfläche und machte die Vorhangstreifen einzeln an seinem Gürtel fest. Dann öffnete er das Fenster. Die Sonne schien quer durch die Buche. Er stieg auf den Fensterrahmen, holte tief Luft und sprang. Der goldene Fallschirm glänzte unwirklich im Nachmittagslicht. Und hielt erstaunlicherweise bis ungefähr fünf Meter über dem Boden. Dann rissen die Vorhangschnüre und Thomas sackte hinunter. Fiel wie ein Stein vom Himmel, ins Gras, genau neben Stefan, verrenkte sich gottsjämmerlich den Fuss und schrie auf vor Schmerz. Stefan schreckte aus seinem Dämmerschlaf auf und streckte den Kopf aus dem Schlafsack. Der Fallschirm schwebte nieder und deckte die beiden einen Augenblick lang sanft zu. Surprise 454/19

Stefan setzte sich auf, zog den Schirm beiseite und machte grosse Augen. Und fackelte nicht lange. Er stand auf, nahm den Fallschirm unter den einen und Thomas unter den anderen Arm. Man hat die beiden nie mehr gesehen. R ALF SCHL AT TER lebt als Autor und Kabaret­ tist in Zürich. Aktuelle Bücher: «Steingrubers Jahr», Roman, und «Margarethe geht», Kinderbuch. Für Radio SRF 1 «Morgengeschichten». Kabarett mit Anna-Katharina Rickert im Duo «schön&gut», ausgezeichnet mit dem Salzburger Stier 2004, dem Schweizer Kabarettpreis 2014 und dem Schweizer Kleinkunstpreis 2017.

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Feierabend TEXT  MARCO DE L AS HER AS

Es ist kurz vor Mittag und mein Magen knurrt, als mich Herr Jon in sein Büro ruft. Ich blicke durch die Glasscheibe im oberen Drittel seiner Tür und warte, bis er mich zu sich winkt. Herr Jon, sage ich, Sie wollten mich sprechen? Kommen Sie herein, sagt er. Ich mache einen Schritt in den Raum und schliesse die Tür hinter mir. Der Boden ist mit grauem Teppich ausgelegt, es ist ein altes Büro aus den Siebzigerjahren, mit alten Schränken, die streng nach Holz riechen, und einem alten Sekretär. Herr Jon sitzt tief in seinem Stuhl. Er ist ein stämmiger Mann mit einer Halbglatze, der wie immer ein kariertes Hemd trägt. Wie einbestellt stehe ich im Raum und glaube seine Absicht zu erahnen, wenn er mich um diese Uhrzeit in sein Büro ruft. Vermutlich handelt es sich um ein strategisches Meeting. Ich habe es an einem Tag eingeführt, als wir alle viel um die Ohren hatten. Ich bin in sein Büro geplatzt, um ihm mitzuteilen, dass es höchste Eisenbahn für eine solche Zusammenkunft sei. Was ich damit meinen würde? Um die Ecke gäbe es ein gutbürgerliches Restaurant, in dem wir zünftig speisen könnten. Auf Firmenspesen natürlich. Herr Jon hatte zu lachen angefangen und meine Leichtigkeit in Stresssituationen bewundert. Ein gutes Essen auf Firmenkosten wäre wie ein ausbezahltes Schmerzensgeld, hatte er geantwortet, also nichts wie hin! Lassen Sie mich raten, sage ich, es ist wieder Zeit für ein strategisches Meeting? Nicht ganz, sagt Herr Jon, nehmen Sie doch erstmal Platz. Der Stuhl ist auf gleicher Höhe wie seiner. Er mag keine Machtspielchen, er begegnet einem auf Augenhöhe. Als ich mich setze, sehe ich eine gefüllte Tupperschüssel, die auf seinem Schreibtisch steht. Seine Frau hat ihm für die Arbeit vorgekocht. Der Duft der Lasagne steigt in meine Nase und mein Hunger ist jetzt so gross, dass mir selbst das Kantinenessen schmecken würde. Mein Magen knurrt. Da ist wohl jemand hungrig, sagt Herr Jon. Ist ja auch gleich Mittag, sage ich, wie geht’s ihrem Rücken? Deutlich besser, sagt er, ich sollte einfach nichts mehr im Garten machen und mehr auf meine Frau hören. Und sonst so? Was macht das Leben? 18

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Wir haben eine Reklamation für einen Text erhalten, die muss noch bearbeitet werden. Die kann warten, sagt er. Die wollen bis Ende der Woche die Fertigversion haben. Die sollen sich nicht so anstellen! Sagen Sie das denen mal. Wenn sie nicht warten können, dann haben Sie eben Pech gehabt, sagt Herr Jon und schiebt die Tupperschüssel beiseite. Und privat, ich meine, wie geht es Ihnen privat? Alles bestens, sage ich, ich hab viel abarbeiten können die letzten Wochen. Gut, sagt er, hört sich gut an. Und sonst? Kein Stein, der im Schuh drückt? Kein Stein, der im Schuh drückt? Welcher Stein, Herr Jon? Ach nichts, ich weiss auch nicht, er winkt ab. Er sieht aus dem Fenster. Seine Wangenknochen sehen im Profil wie eine Schwellung aus. Ein Sonnenstrahl fällt durch die Glasfront hinein. Der Staub wird sichtbar. Mein Magen knurrt. Sagen Sie, habe ich Ihnen eigentlich je erzählt, was mir passiert ist, als ich so alt war wie Sie? Er sieht noch immer aus dem Fenster, als würde er in einer Erinnerung schwelgen. Sie haben die Leidenschaft fürs Wandern gefunden?, scherze ich. Ja, das auch!, lächelt er, aber nein, das meinte ich nicht, sondern ich hatte immer diese Vorstellung von mir, wissen Sie? Welche Vorstellung? Ja, von mir, sagt Herr Jon, von mir, Sie wissen schon, immer mehr sein zu wollen, als was man eigentlich ist, Sie wissen schon. Na ja, und eines Tages, da bin ich in die Beichte gegangen, fährt er fort, weil ich gelogen hatte, und da, ja, da hat mir der Beichtvater gesagt, das komme daher, weil ich immer jemand anderes sein möchte. M-hm, sage ich, interessant, und weiter? Nichts weiter, die Geschichte ist zu Ende, sagt Herr Jon, ich habe dann meine Frau kennengelernt und dann haben wir Kinder bekommen, das wissen Sie ja schon alles, und dann ändern sich die Dinge sowieso. Wollen Sie auch mal Familie? Wenn die Richtige dabei ist. Ja ja, klar, das ist in Ihrer Generation nicht so einfach, das weiss ich schon, sagt Herr Jon, aber das kommt noch, verlassen Sie sich drauf. Ich habe meine Frau in der Warteschlange beim Bäcker kennengelernt, gleich bei uns um die Ecke, also keine Sorge, die kommen immer dann, wenn man es nicht erwartet. Eine Frau wird Ihnen guttun, glauben Sie mir, er nickt mir zu. Gehen Sie auch immer schön aus, in Bars oder Diskotheken oder wie wird das heutzutage gemacht? Surprise 454/19

Ich gehe nicht mehr aus, die Zeiten sind vorbei. Aber Sie sind jung, sagt er. Ja und? Deshalb muss man ja nicht gleich ausgehen. Mein Guter, Sie müssen ein wenig unter die Leute kommen. Machen Sie sich da mal keine Sorgen, Herr Jon. Er schnauft aus. Ein paar Bilder seiner Jungs stehen hübsch eingerahmt auf seinem Schreibtisch. Sie können natürlich machen, was Sie wollen. War nur ein Ratschlag. Sie wissen, ich bin dankbar für jeden Ihrer Ratschläge, Herr Jon, aber ausgehen ist einfach nichts für mich. Na gut, wie auch immer. Können Sie sich vorstellen, warum ich Sie in mein Büro gerufen habe? Wenn essen gehen schon mal wegfällt, haben wir neue Aufträge reinbekommen? Er schüttelt den Kopf. Hat der Kantinenkoch gewechselt? Nein, er lächelt. Sagen Sie mir jetzt bitte nicht, MAN hat meinen Text abgelehnt. Nein, das ist es nicht, sagt Herr Jon, Ihr Text war gut. Er kratzt sich am Kopf. Nein, nein, es geht um etwas anderes. Er faltet seine Hände auf seinem Bauch. Er lehnt sich zurück. Sein Kopf knickt jetzt nach unten, sodass man das Gefühl hat, er würde jeden Moment einschlafen und zu schnarchen beginnen und seine Frau wäre deshalb in ein separates Schlafzimmer geflüchtet. Ein paar Sekunden sehe ich ihm zu, wie sich sein Brustkorb hebt und senkt. Herr Jon?, frage ich. Alles in Ordnung? Haben Sie die Bibel einmal gelesen? Er sieht nach oben, ich schüttle den Kopf. Ich lese meinen Jungs immer daraus vor, und wissen Sie, was die Bibel sagt? Die Bibel sagt: Einen jeglichen dünkt sein Weg recht, aber der Herr prüft die Herzen. Er hebt wieder seinen Kopf, wartet eine Sekunde ab. Der Sonnenstrahl blendet mich und ich schirme ihn mit meiner Hand ab. Als er bemerkt, dass ich nichts darauf zu sagen habe, fährt er fort. Na gut, ich bin hier am Ende mit meinem Latein. Ich habe keine Ahnung, wie man so ein Gespräch anfängt. Es ist so, wir haben einen neuen CEO an die Spitze bekommen, einen dieser jungen, eingebildeten Hupfer, die nur auf Profit aus sind, alles andere ist denen egal. Oh, sage ich, verstehe, tut mir leid, Herr Jon. Da können Sie ja nichts dafür, er lächelte schmerzlich. Also, auf was ich eigentlich hinaus möchte ist, sagt er und lehnt sich plötzlich über den Tisch und fängt zu flüstern an, dieser Kerl, Sie wissen schon, er … er hat etwas gerochen. 19


Etwas gerochen?, frage ich, und nun fange auch ich zu flüstern an und lehne mich über den Tisch. Was hat er denn gerochen? Sie wissen schon. Ich rücke mit meinem Stuhl noch ein wenig näher, unsere Köpfe sind jetzt weit über den Tisch gelehnt. Nein, flüstere ich, ich glaube nicht. Und warum flüstern wir? Herr Jon lässt seinen Kopf hängen. Ich bleibe nach vorne gelehnt, während mein Blick auf eine Fotografie hinter ihm wandert. Weisser Sandstrand und türkises Meer. Die Karibik. Seine Hochzeitsreise. Seine Frau und er lachen mit leicht verbrannten Gesichtern in die Kamera. Seine Frau hatte ein argloses Gesicht, mit dem gutmütigen Ausdruck einer typischen Hausfrau, die die Wäsche wäscht und sie aufhängt und die Hemden ihres Mannes bügelt, eine Frau, die man in der Warteschlange beim Bäcker kennenlernt, so eine Frau war sie. Die Karibik, das war eine der schönsten Reisen seines Lebens, hatte er einmal erzählt. Ich sehe wieder zu ihm. Ok, passen Sie auf. Der Grund, weshalb ich Sie in mein Büro gerufen habe ist der, sagt Herr Jon. Es geht um Ihre Unterlagen. Wir lehnen uns beide zurück. Um meine Unterlagen? Herr Jon nickt. Meine Unterlippe zuckt. Möchten Sie sich dazu äussern? Er wartet eine Sekunde ab. Mein Magen knurrt. Jedenfalls, ich hab mich für Sie einsetzen können, sagt Herr Jon, mit allen Vieren hab ich für Sie gestrampelt und … Danke, unterbreche ich, aber das wäre nicht nötig gewesen, Herr Jon. Lassen Sie mich ausreden, sagt er. Aber Herr Jon … Warten Sie! Ich hab nämlich nicht nur mit allen Vieren für Sie gestrampelt, sondern auch für Sie gebetet. Oh ja, Sie mögen lachen, aber ich hab für Sie gebetet. Einen Gruss an den Himmel habe ich gerichtet, weil Sie im Grunde ein anständiger Kerl sind. Und ob Sie’s nun glauben oder nicht, es hat Wunder bewirkt – es wird keine Anzeige gegen Sie erhoben. Aber Sie müssen mit diesem Blödsinn aufhören. Herr Jon, erkläre ich, das ist lange her. Ich mach das sowieso nicht mehr, es ist also alles gut, wäre das alles? Sonst müsste ich jetzt wieder zurück ins Büro und die Reklamation bearbeiten. Herr Jon seufzt, ein Schweigen setzt sich ab, ich möchte mich erheben. Bleiben Sie sitzen! Das ist eine Arbeitsanweisung, solange ich noch Ihr Chef bin!

Du wirst weggelobt, denke ich mir, auf den freien Arbeitsmarkt.

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Warum denn? Weil es noch eine schlechte Nachricht gibt. Unter seinen Augen haben sich Tränensäcke gebildet, die mir bis anhin noch nie aufgefallen sind, und ich kann nur vermuten, wie masslos enttäuscht er von mir sein muss. Der Stuhl ist unbequem. Es ist derselbe Stuhl, auf dem du gesessen hast, als du eingestellt worden bist, denke ich mir. Ich muss Sie bitten, Sie wissen schon, Sie bitten, er macht eine seltsame Handbewegung. Ja? Ihr Büro zu räumen. Ich soll mein Büro räumen!? Er nickt. Das ist jetzt ein schlechter Scherz, oder? Sie meinen jetzt gleich, oder was? Ich weiss. Es zerreisst mir das Herz, das dürfen Sie mir glauben. Aber ich muss Sie wegloben, so leid es mir tut. Mich wegloben?, frage ich. Wohin denn? Auf den freien Arbeitsmarkt. Er schnieft. Auf den freien Arbeitsmarkt!? Er nickt. Nein, das können Sie nicht machen, Herr Jon, sage ich, Sie können mich jetzt nicht einfach so gehen lassen. Sie wissen ganz genau, was das hier alles für mich bedeutet. Ich bin ein Anderer, das sagte ich doch bereits, dank Ihnen, Herr Jon! Also lassen Sie mich jetzt zurück auf meinen Arbeitsplatz gehen und die Reklamation für uns erledigen. Das kann niemand so gut wie ich, das wissen Sie ganz genau! Wer ist dieser Kerl überhaupt? Was bildet der sich eigentlich ein?! Er ist der neue CEO. CEO hin, CEO her! Von dem lasse ich mir gar nichts sagen, ich zieh’ dem seine Eier lang, Herr Jon! Das bringt doch auch nichts, damit spielen Sie solchen Typen doch nur in die Karten. Ich scheiss auf seine Karten!, rufe ich. Die steck ich ihm auch noch in den Arsch! Danach entsteht eine jener Pausen, in der ich verstehe, dass auf diesem Gesprächsniveau nichts zu erreichen ist. Während dieser Pause sitze ich mit einem zappelnden Bein im Stuhl und Herr Jon nach hinten gelehnt. Du wirst weggelobt, denke ich mir, auf den freien Arbeitsmarkt. Es tut mir leid, murmelt Herr Jon noch. Mein Bein zappelt noch immer und ich schaue mit verschränkten Armen aus dem Fenster und blinzle schnell. Mein Magen knurrt. Ich presse meine Lippen aufeinander. Sie können mich doch nicht einfach … verdammt, ich mag Sie, Herr Jon! Das hier ist für mich wichtig, Sie wissen doch, dass ich ohne Sie … dass ich ohne die Arbeit … Ich weiss, sagt Herr Jon, ich weiss, mein Junge, lassen Sie es ruhig raus. Ein Taschentuch vielleicht? Väterlich kramt er in seinen Hosentaschen und reicht mir ein plattgesessenes Taschentuchpäckchen über den Tisch. Das macht mich fertig. Machen Sie’s gut, ich muss jetzt gehen!, rufe ich und verlasse sein Büro. Auf dem dunklen Gang löse ich den Bewegungsmelder aus. Surprise 454/19


Mein Büro besteht aus einem alten Schreibtisch und einem noch älteren, verknitterten Ledersessel. Der fusselige Teppichboden sollte auch noch erwähnt werden. Keinerlei aufgestellte Familienbilder, keine Andenken, keine einverleibten Karrieresprüche, die auf Postkarten gedruckt sind. Das einzige Persönliche darin ist der Fotokalender, den mir Herr Jon einmal geschenkt hat und der jeden Monat einen anderen unerreichbaren Strand auf dieser Erde zeigt. Strände wie die Karibik, nur ohne Herrn Jon und seine Frau darauf. Ich nehme meine Arbeitstasche, trete gegen den Sessel und werfe den Kalender in den Müll, um ihn sogleich wieder herauszuholen und glatt zu streichen. Ich lege ihn auf den Boden neben dem Mülleimer. Das Namensschild lasse ich draussen an der Tür hängen. Es ist Mittag. Die Sonne scheint grell und besitzt noch nicht das satte Licht meines gewöhnlichen Feierabends, als ich über den Mitarbeiterparkplatz husche. Ich öffne die Tür meines BMWs, werfe die Tasche hinein, starte den Motor und rausche durch die Schranken des Betriebsgeländes. Herr Jon fährt übrigens einen Passat, mit einem Sonnenschutz für Kinder, der an den hinteren Scheiben angebracht ist. Ich setze meine Sonnenbrille auf. Durch ihre dunklen Gläser dringt die Realität nur gedämpft zu mir durch und ist leichter verdaulich. Das Licht ist nicht das Übliche und auch der Verkehr ist es nicht. Normalerweise dauert es eine halbe Ewigkeit, bis ich durch den Feierabendverkehr komme, aber um diese Uhrzeit sind die Strassen leer. Aus Gott weiss welchem Grund fällt mir andauernd das Plakat für Ausbildungsstellen im öffentlichen Dienst auf, das an jeder Ecke lauert. Über einem Jungen, der mich angrinst, steht eine Denkblase, WO LIEGT DAS ERFOLGREICH? Seit wann hängt es dort? Ich kann mich nicht erinnern, dass es je dort gehangen hat. Was soll das überhaupt? Warum fragt man einen Weggelobten so etwas? Das ist unverschämt, so etwas tut man nicht. Jeder Werbetexter trägt Verantwortung für seine Betrachter, sage ich mir, während ich an einer roten Ampel zum Stehen komme und auf das Plakat stiere. Und was hat dieser Spruch mit dem öffentlichen Dienst zu tun? Und warum dauert diese beschissene Ampel so lange, bis sie auf Grün schaltet? Das ist Folter! Warum stellt sich dieser Junge diese Frage? Ausgerechnet diese!? Und warum lacht er mich so hämisch an? Kenne ich diesen Jungen? Weiss ich, was er will!? Seine Hintergründe, sein Leben, seine Beweggründe, seine Umstände? Wo bleibt das gottverdammte Verantwortungsbewusstsein bei solchen Fragen? Die Ampel schaltet auf Grün. Um der Stille zu entfliehen, schalte ich irgendwann auf der Landstrasse das Radio an und höre, dass Bill Gates zum wiederholten Mal die Forbes List anführt. Ich schalte weiter zum Klassiksender, auf dem gerade eine Astrologin die Prognose der jeweiligen Sternzeichen vorliest. Sie liest und liest, und auch wenn ich nicht richtig zuhöre, ihre Stimme ist beruhigend. Danach spielt wieder Klassik. Als ich vor Gabriels Haus zum Stehen komme, ist die Melodie zu kratzigen Lauten verkümmert. Ich lächle mir prüfend im Rückspiegel zu und ziehe den Schlüssel. Es Surprise 454/19

ist noch immer nicht das satte Sonnenlicht meines Feierabends, als ich durch den Vorgarten laufe. Gabriel bewohnt einen alten Flachbungalow. Bröckelnder Putz, vergitterte Fenster, ungepflegter Rasen und ein maroder Holzzaun, aus dem die Bretter an manchen Stellen herausgerissen sind. In dieser Siedlung sehen alle Bungalows gleich aus. Ein solches Viertel, in dem die Leute hinter Fliegengittern verschwinden, nachdem sie ihren Müll nach draussen gebracht haben, während Flugzeuge über den Dächern zur Landung gleiten. Die Wartezeit vor seiner verschlossenen Tür ist etwas Seltsames. Als würde man um Obdach bitten. Ich drücke zum zweiten Mal die Klingel. Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich Schritte höre. Und als Gabriel die Tür öffnet, zuerst die Haustür, dann die Fliegentür, und hinter dem engmaschigen Netz hervortritt, setzt mein Atem aus und mein Mund öffnet sich leicht, wie bei einem Schauspieler, der seinen Text vergessen hat. Du hättest nicht herkommen dürfen, denke ich, das hättest du nicht tun dürfen. Gabriel lächelt mich an. Er wartet auf eine Reaktion von mir und fixiert mich. Das Glänzen in seinen Augen, die wenigen Falten in seinem Gesicht, er fixiert mich. Das spitzbübische Lächeln, die Grübchen in seinen Wangen, dasselbe Lachen, wie ich es auch habe, er fixiert mich. Ich verlagere das Gewicht vom einen Fuss auf den anderen und probiere noch die Stellung aus, in der ich mich wohlfühle. War gerade in der Gegend, sage ich und drehe mich bei dem Wort Gegend demonstrativ zu den Seiten. Im Flur riecht es nach einem aufdringlichen Raumspray. Orange – Zimt. Einer jener Gerüche, die man in meiner Vorstellung in Wohnungen von Ex-Alkoholikern, bankrotten Spielern, Arbeitslosen und abgehalfterten Stars vorfindet. Ich ziehe meine Schuhe aus und schlüpfe in Gabriels alte Birkenstock. Gabriel legt seine Hand zwischen meine Schulterblätter und läuft mit mir nach vorne. Im Wohnzimmer steht alles dort, wo es schon seit eh und je gestanden hat. Nur der Röhrenfernseher, in dem die Vorrunde der Fussballeuropameisterschaft ausgestrahlt wird, wurde von der Linken in die rechte Ecke verschoben. Der Ton ist leise und die Spieler laufen zur Halbzeit in die Pause. Unentschieden. Mach’s dir bequem, sagt Gabriel, er verschwindet in die Küche. Ich bleibe einen Moment im Wohnzimmer stehen und frage mich, ob er etwas von meiner Entlassung ahnt. Schliesslich arbeitest du für gewöhnlich zu dieser Zeit und bist seit Längerem nicht mehr zu Besuch gekommen. Ich sehe mich im Raum um. Für einen kurzen Augenblick sehe ich alles mit den Augen einer neutralen Person. Plötzlich sehe ich meinen Ursprung glasklar vor Augen,

Die Wartezeit vor der Tür ist etwas Seltsames. Als würde man um Obdach bitten.

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woher du kommst, wie du der wurdest, der du bist, und wie du auch niemand anderes werden konntest. Vor allem das spüre ich jetzt ganz deutlich. Wie ich niemand anderes werden konnte. Es fühlt sich ganz danach an, als hätte Gabriel nur darauf gewartet, dass ich wieder hier stranden würde. Genau hier, wo du jetzt stehst, da wollte er dich haben. In der Wohnzimmerecke ist der Esstisch dekoriert. Er ist mit weisser Tischdecke überzogen und mit Besteck gedeckt, das Silber sein möchte, es aber nicht ist. Die Teller spiegeln und verzerren die Umgebung und die Gläser funkeln derart, dass es fast schon wieder billig wirkt. Eine Kerze und eine Weinkaraffe stehen bereit. Ein paar Rosenblüten liegen verteilt. Erwartest du Besuch? Ja, ruft Gabriel aus der Küche, aber jetzt bist du da. Er kümmert sich weiter um die Nudeln. Die Abzugshaube läuft auf Hochtouren. Er wurde also versetzt. Weil ich nicht recht weiss wohin mit mir, gehe ich zum Regal und sehe einige unausgefüllte Lottoscheine. Spielst du noch Lotto? KENO!, flucht Gabriel aus der Küche. Fuck! Aua! Ist das heiss! Da sind die Chancen höher! Ich habe eine neue Strategie gefunden. Es geht darum, den Kreis immer enger zu schnüren und auf die richtigen Steckenpferde zu setzen. Scheisse! Das grösste Steckenpferd ist natürlich der Kenoschein selbst, er lacht, mit normaler Arbeit lässt sich heutzutage sowieso kein Geld mehr verdienen. Ich stöbere durch die Fächer und blättere durch Ga­ briels Zeitschriften: GQ, ein paar Automagazine und Sachbücher über Erfolg und Tipps zum schnellen Geld. Liebe, Genügsamkeit, Geborgenheit. In dieser Reihenfolge hatte Herr Jon sie dir immer aufgezählt. Das wären die Trägersäulen des Lebens. Seine Jungs werden ehrliche Menschen werden, genauso wie er selbst und seine Frau. Sie werden für die Karibik sparen, jeden Sonntag in die Kirche gehen und Herrn Jons Erbschaft antreten, seine Tupperschüssel, seine alten Krawatten, ein bescheidenes Haus. Wenn ich die Millionen gewonnen habe, dann kaufen wir uns eine Jacht und legen am Hafen an, ruft Gabriel. Du kannst aufhören zu arbeiten und ich muss erst einmal zum Psychiater. So viel Geld, stell dir das mal vor! Wer soll den Jackpot schon knacken, wenn nicht ich? Herr Jon hatte mich letzte Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen. Eine Einladung, die ich ausschlagen musste, weil ich mich noch nicht bereit gefühlt hatte, um mit ihm und seiner Familie am Tisch zu sitzen und mit ihnen gemeinsam das Tischgebet zu sprechen. Dieses Jahr wäre ich gekommen. Ganz sicher. Ich nehme Gabriels Modellauto in die Hand. Einen Porsche Turbo. Himmelblau. Ich glaube, nebst einem Eigenheim ist ein Porsche der einzig wahre Traum der Mittelschicht in diesem Land. Habe ich eigentlich schon erwähnt, dass Herr Jon einen Passat fährt? Mit einem Sonnenschutz für Kinder, der an den hinteren Scheiben angebracht ist. Das Erste, was ich mache: Ich kaufe mir eine Villa mit drei Schlafzimmern und einem Whirlpool. Dreifachgarage 22

darf nicht fehlen, und ein anständiger Helikopterlandeplatz, ruft Gabriel. Im Grunde sei ich ein anständiger Kerl, hat Herr Jon zu mir gesagt. Mir wurde ganz warm bei diesem Satz. Einmal hat Herr Jon mir im Vertrauen mitgeteilt, dass er selbst nicht so ein anständiger Kerl wäre, wie ich von ihm vermuten würde. Manchmal würde er sich nachts, wenn alle schon schliefen, in die Vorratskammer schleichen, um die Tafel Schokolade seiner Frau zu vernaschen. Auf Nachfrage seiner Frau würde er die Schuld auf seine Kinder schieben, und ich musste anfangen zu lachen, als er mir das erzählt hatte, und stellte mir Herrn Jon im Pyjama vor und wie er leise die Treppen zur Küche hinunterlief. Ich hätte mich anständig von ihm verabschieden sollen. Miami, Beverly Hills, Monaco, Dubai, ruft Gabriel zu mir rüber, und wo geht’s bei dir hin? Karibik, sage ich. Surprise 454/19


Karibik?, sagt Gabriel, was willst du denn in der Karibik!? Da sind doch alle arm! Bring die Teller rüber! Essen ist fertig! Als wir am Esstisch sitzen, zündet Gabriel die Kerze zwischen uns an. Ein bisschen Romantik kann nicht schaden, sagt er. Er hat die Trüffel-Fettucine fein säuberlich auf unsere Teller geschöpft und uns Wein eingeschenkt, dazu jedem ein Stück Brot abgerissen. Ist es dir zu hell hier drin? Nein, sage ich, weshalb? Wegen deiner Sonnenbrille. Ich fasse mit meinen Händen zu meinen Augen und tatsächlich: Ich trage sie noch. Ich würde sie gerne aufbehalten, wenn es dich nicht stört. Wenn ich dich so ansehe, sagt Gabriel, denke ich fast, ich hab’ ein Date mit mir selbst. Surprise 454/19

Das Besteck klirrt in unseren Tellern, während wir die Fettucine mit Gabel und Löffel aufrollen. Gabriel schlürft seine Fettucine und in seinen Mundwinkeln lagern sich Trüffelreste ab, ausserdem hat er sich eine Servierte zu einem Lätzchen um den Hals gebunden, um Flecken auf seinem Hemd zu vermeiden. Nach den ersten paar Gabeln bemerke ich, wie gross mein Hunger tatsächlich ist. Da ich nicht abwarten kann, verbrenne ich mir den Gaumen. Willst du mal ’n Witz hören?, fragt Gabriel, während ich die Fettucine still in mich hineinschlinge. Ich nicke. Pass auf: Unterhalten sich zwei Blondinen, sagt die eine: Von meinen neuen Schuhen kriege ich immer Blasen. Antwortet die zweite: Merkwürdig, bei mir ist es genau anders herum. Gabriel lacht. Sein Kopf läuft rot an. Ich schmunzle. 23


Ist der nicht geil? M-hm, sage ich, mein Mund ist voll. Den hab ich noch aus’m Bau. Ich schlucke hinunter. Weisst du noch den Witz mit der schielenden Richterin?, frage ich. Welcher war das? Der von Mama. Der ist gut, oder?, fragt Gabriel. Einer der besten Witze überhaupt. Ich meinte den Trüffel. Ach so, sage ich, ja, der auch. Tatsächlich geht es mir schon besser, nachdem ich den Teller leergegessen habe. Wir schweigen dann eine Weile, ohne uns dabei anzusehen, und ich denke darüber nach, wie der Witz mit der schielenden Richterin gelautet hatte, aber er will mir nicht einfallen. Irgendwann wendet sich Gabriel dem Fernseher zu. Er nimmt die Fernbedienung und stellt ein bisschen lauter, jedoch nicht so laut, dass eine Unterhaltung unmöglich wäre. Eine Lautstärke, die Raum für Neues offenlässt. Die Stimme des Moderators ist zu hören und im Hintergrund raunen die Fans. Italien trägt blau, Kroatien rotweiss. Italien hat deutlich mehr Ballbesitz und es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie den Führungstreffer erzielen. Ich sehe nach links zum Fernseher, Gabriel nach rechts.

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Ich spüre, dass Gabriel etwas sagen möchte und sich überlegt, wo er anfangen soll. Auch ich überlege, ob ich ihm etwas sagen soll, lasse es aber bleiben. Hast du schon gehört, sagt Gabriel, Bill Gates führt wieder die Forbes List an. Hab’s im Radio gehört, ja. Ein Pfundskerl, der hat den Riecher! Hab mal gehört, er soll aus einfachen Verhältnissen kommen und eine schwere Kindheit gehabt haben. Der musste durch die Scheisse. Mit allen Wassern ist der gewaschen. Nur das sind die Erfolgreichen heutzutage. Diese Typen hatten alle eine schwere Kindheit, das ist ein Werbetrick, sage ich. Das ist eine Vermutung! Gabriel sieht nach vorne und gibt sich dem Fussball­ spiel mehr und mehr hin. Schiess doch, verdammt, ruft er, auf was wartet der denn? Auf bessere Zeiten, sage ich. Darauf kann er lange warten, mit seinen zwei rechten Füssen. Linke Füsse, korrigiere ich. Was? Man sagt: Mit seinen zwei linken Füssen. Klugscheisser! Der Fernseher flimmert und Gabriel erhebt sich kurz von seinem Sessel, um nach vorne zu gehen und zweimal kräftig gegen den Rahmen zu schlagen. So, sagt Gabriel, jetzt geht er wieder! Wie ist die Arbeit? Ich erschrecke bei dieser Frage. Ausgezeichnet, sage ich, ich wurde hoch gelobt. Hoch gelobt ist ein guter Anfang, aber reicht natürlich nicht für den grossen Durchbruch. Übrigens: Weisst du, wen ich gestern gesehen habe? Ich sehe zu ihm hin. Sag schon! Weisst du wen? Nein. Aber du wirst es mir sagen. Maximilian. Ich sehe wieder auf den Bildschirm und schiebe meine Sonnenbrille ein wenig nach oben. All die vielen Spieler, die alle einem Ball hinterherrennen und nicht alle auf den Bildschirm passen. Nicht zu vergessen all die Spieler, die auf der Auswechselbank sitzen und auf ihre Chance warten und nur eingewechselt werden, um in den letzten Minuten Zeit zu schinden. Wo? In der Lobby des Four Seasons, sagt Gabriel. Ich sehe zu ihm hin. Was machst du in der Lobby des Four Seasons? Kaffee trinken. Er nimmt sich die Fernbedienung und schaltet den Ton ein wenig lauter, Italien beim Angriff über die Flanken. Spiel ab!, ruft Gabriel, Spiel rüber, ja, schiess, mein Gott! Latte, das gibt es doch nicht! Hast du das gesehen? Und?, frage ich, watschelt er noch wie eine Ente? Hör doch auf, sagt Gabriel, das ist ein waschechter Fussballerschritt. Der Junge hatte eine Ballführung wie Maradona. Aus dem hätte ein Profi werden können.

01.07.19 16:12

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FOTO: ZVG

Ist es aber nicht. Hättest du ihm seinen Knöchel nicht gebrochen, schon. Gab es nicht diesen Klub, der an ihm interessiert war? Die haben ihn nach der Verletzung wieder fallen gelassen. Und das auch noch bei einem eurer Trainingsspiele, was hattest du dir bei dieser Blutgrätsche nur gedacht? Nicht viel, sage ich, ich wollte den Ball erwischen. Armer Max, sagt Gabriel, das hat sein ganzes Leben umgeworfen. So kurz vor der Ziellinie gestoppt zu werden, muss bitter sein. Gab nicht viele, die so zweikampfstark waren wie er. Max war ein richtiger Kämpfer. Jetzt läuft dieser Vollidiot ins Abseits!, ruft Gabriel. Ich sage es ja, die heutigen Stürmer sind blind für Linien. Du warst kein schlechter Stürmer. Ich spielte Mittelfeld, sage ich. Mittelfeld ist wichtig, sagt Gabriel, da schau hin, Ballverlust im Mittelfeld, zu blöd, um einen Pass zu spielen! Ob Herr Jons Söhne auch Fussball spielen? Bestimmt auf Positionen, die mit Sicherheit zu tun haben, in der Abwehr oder im Tor. Herr Jon wird sie anfeuern und ihnen den Sport nicht versauen, sodass sie sich später mit Freude an ihre Fussballerjahre zurückerinnern können. Sicherlich tröstet ihn seine Frau heute Abend. Die Jungs werden sie fragen, was mit Papa los sei und ihre Mutter wird ihnen sagen, dass alles in Ordnung sei. Sie würde seine Hand streicheln und ihm seinen Nacken massieren und ihm sagen, wie verspannt er doch sei. Sie wird ihm sagen, dass er nichts für mich habe tun können und ich schon alleine zurecht käme. Aber Herr Jon wird mich nicht vergessen, ich weiss es. Er wird seufzen und spät nachts erst einschlafen können, und mich nach ein paar schlaflosen Nächten anrufen. Er habe ein schlechtes Gewissen wegen mir und ob es mir gut gehe. Er möchte sich mit dir treffen, zum Kaffee, oder nein, lieber zum Tee, das beruhigt. Scheisse!, schreit Gabriel, hast du das gesehen?! Dieser beschissene Kroate! Einen verdammten Konter eingefangen! Die Spieler im roten Trikot sprinten zur Fahne und freuen sich. Ein Tor in der Nachspielzeit. Der Schiedsrichter pfeift ab. Kroatien gewinnt. Auf den Gesichtern der italienischen Spieler zeichnet sich der Gesichtsausdruck der Niederlage ab. Langsam und abgeschlagen schlendern sie über das Feld in die Kabinen. Gabriels Mundwinkel sind noch immer befleckt. Sein Lätzchen beschmutzt. Fuck!, ruft Gabriel und wirft die saubere Servierte auf den Teller, Italien war der Favorit! Kein Grund zur Aufregung, sage ich. Diese verdammten Kroaten! Fuck! Was für ein Scheiss­ tag! Nur ein Spiel, die Jungs verdienen Millionen. Aber ich nicht!, sagt Gabriel. Verstehst du? Ich nicht! Ich schiebe meine Sonnenbrille ein wenig nach oben, erhebe mich und räume den Tisch ab. Ich räume das Geschirr in die Spülmaschine und puste die Kerze aus. ­Gabriel prüft indessen die restlichen Spielergebnisse des Tages, was seine Stimmung wieder ein wenig anhebt. Surprise 454/19

Nachdem ich von ihm danach zur Tür begleitet werde, ziehe ich wieder meine Schuhe an und reihe die Birkenstock sorgfältig nebeneinander. Ich bin gerade im Begriff, aus der Tür zu treten, da zieht er mich am Ärmel. Schön, dass du hier gewesen bist, sagt er und knufft mich gegen die Schulter. Finde ich auch, ich hoffe ich habe keine Umstände bereitet, danke für’s Essen. Ich hoffe, du bist satt geworden. Haben dir die Trüffel geschmeckt? Haben sie. Hast du sie anders zubereitet? Diese Art ist ein Geheimrezept, da muss man etwas draufhaben, verstehst du? Das kann nicht jeder. Jedenfalls haben sie gut geschmeckt. Das ist die Hauptsache, sagt er. Ich hab dich lieb, das weisst du doch hoffentlich, oder? Glaub schon, sage ich, nochmals danke fürs Essen. Ich möchte mich wegdrehen. Apropos Essen, sagt er, er lächelt mich an. Seine weis­ sen, gut geformten Zähne treten hervor, seine Augen werden klein und ziehen sympathische Falten, ein Lächeln, dem man nichts verübeln kann. Jetzt nachdem du meine Trüffel probieren durftest, willst du vielleicht etwas in die Kaffeekasse schmeissen? Wie bitte? In die Kaffeekasse, sagt Gabriel, schmeissen, Geld, mit der Hand. Aber es gab doch nicht einmal Kaffee. Eben!, sagt Gabriel, die Kaffeemaschine ist kaputt. Wie viel denn? Frag doch nicht so was! Wie viel hast du denn dabei? Weiss nicht, sage ich, vielleicht dreissig. Das reicht. Den Rest übernehme ich. Ich warte einen Moment ab, als ich jedoch sehe, dass es ihm ernst ist, krame ich in meinem Geldbeutel und drücke ihm meine letzten Scheine in die Hand. Guter Junge, sagt Gabriel und schiebt mich aus der Tür, schön dass du gekommen bist und schön zu wissen, dass du wieder unter uns weilst! Ich nehme einen Schritt nach vorne, möchte ihn noch fragen, was er damit meint, unter uns weilst, aber da knallt die Tür auch schon zu. Gabriels Schritte entfernen sich wieder. Die frische Luft tut gut. Mein Kopf schmerzt ein wenig von dem Raumspray und ein Flugzeug fliegt vorbei. Die Sonne färbt sich allmählich satter. Das Licht nähert sich dem eines gewöhnlichen Feierabends an. Zeit für mich, nach Hause zu fahren. MARCO DE L AS HER AS, geboren in Nürnberg, Deutschland, ist Student am schweizerischen Literaturinstitut. Er hat u.a. in den Magazinen «Surprise», «Kolt», «Ensuite», «Wortlaut» und «Liesette» veröffentlicht und organisierte in Co-Leitung die Radiosendung HörBar von RaBe Bern.

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Kreuzworträtsel Wer rätselt, gewinnt: Finden Sie das Lösungswort und ­schicken Sie es zusammen mit Ihrer Postadresse an: Surprise ­Strassenmagazin, Münzgasse 16, 4051 Basel oder per E-Mail mit Betreff Rätsel 454 an info@surprise.ngo

Zu gewinnen: Unter allen richtigen Einsendungen verlosen wir 10 Gutscheine für einen Sozialen Stadtrundgang in Bern, Basel oder Zürich. Einsendeschluss ist der 25. Juli 2019. Viel Glück!

Tipp: Das Lösungswort kommt in einem der Texte dieser Ausgabe vor. Die Gewinnerinnen und Gewinner werden unter den richtigen Einsendungen ausgelost und persönlich benachrichtigt. Über den Wettbewerb wird keine Korrespondenz geführt.

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Surprise 454/19


Sudoku Füllen Sie die leeren Felder mit den Zahlen von 1 bis 9. Dabei darf jede Zahl in jeder Zeile, in jeder Spalte und jedem der neun 3 × 3-Blöcke nur ein Mal vorkommen. Die Lösungen finden Sie in der nächsten Surprise-Ausgabe.

Leicht

Mittelschwer

5 2 8

7 5 2 3 8

5 9

8 3 7 8 2 4

6 8 9

1 6 3

7 8

2 4 8 9 3 6

Surprise 454/19

9 3 5 4

2 9 5 7

3 7

4

8 3

1 3 4

raetsel.ch 349926

Teuflisch schwer

9 6 8 3 3 2 9 2

raetsel.ch 349927

6

6 2

3

Mittelschwer

4

9

2 7

1 9

raetsel.ch 349581

2

8 1

5

9

8

4 2 7

9

7

3 1 8

1 6

6 3 2 8 5

8 6

8 1 5 7

7

1 4 5 9 4 7 7 6 9 8

5 8 3

5

9 1 6

raetsel.ch 423996

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

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02

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03

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04

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05

Hausarztpraxis Tannenhof, Tann-Rüti

06

RLC Architekten AG, Winterthur

07

Gemeinnütziger Frauenverein Nidau

08

LIVEG Immobilien GmbH, Adliswil

09

VXL, gestaltung und werbung, Binningen

10

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

11

Brother (Schweiz) AG, Dättwil

12

Kaiser Software GmbH, Bern

13

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

16

Maya-Recordings, Oberstammheim

17

Cantienica AG, Zürich

18

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

19

Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

20

Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

21

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

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InhouseControl AG, Ettingen

23

Infopower GmbH, Zürich

24

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

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Ricardo Da Costa verliess 2003 GuineaBissau, wo seine Familie immer noch lebt. Der Mechaniker arbeitete zuerst als Bauarbeiter in Portugal und Italien. 2013 kam er in die Schweiz. Wenige Tage nach seiner Ankunft wurden ihm alle Wertsachen gestohlen und er stand ohne Papiere da. Auf der Gasse lernte er einen Strassenmagazin-Verkäufer kennen und verkauft seither auch. «Ich bin froh, bei Surprise zu sein», erzählt Ricardo. «Manchmal komme ich traurig ins Büro und gehe mit einem Lächeln auf dem Gesicht wieder raus.» SurPlus ist für ihn eine grosse Unterstützung: Das ÖV-Abo ermöglicht Mobilität beim Heftverkauf und bei Schwierigkeiten stehen ihm die Mitarbeitenden mit Rat und Tat bei.

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FOTO: BODO E.V./SEBASTIAN SELLHORST

Wir alle sind Surprise

«Journalismus trifft soziale Arbeit» 120 Delegierte aus 25 Ländern trafen sich Mitte Juni in Hannover zum jährlichen Kongress des Internationalen Netzwerks der Strassenzeitungen INSP, zu dem auch Surprise gehört. Diskutiert wurden Fragen der journalistischen Qualität bei begrenzten Ressourcen, der Einfluss der Digitalisierung auf Strassenzeitungen und -magazine, Verkaufsschulungen oder auch bargeldloses Bezahlen. Ideen für Kooperationen entstehen hier, Erfahrungen werden ausgetauscht. «Wir sind zwar unterschiedlich aufgestellt, eine Idee eint uns aber: Journa­lismus trifft soziale Arbeit», sagt Bastian Pütter, Redaktionsleiter von Bodo aus Bochum/Dortmund und Sprecher der deutschsprachigen Strassenmagazine. Das INSP feiert dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen, heute gibt es Stras­ senzeitungen und -magazine in 35 Ländern. Gemeinsam erreichen wir regelmässig rund fünf Millionen Lesende und unterstützen rund 21 000 Wohnungslose, Armutsbetroffene und Menschen in Krisen beim Weg (zurück) in ein selbstbestimmtes Leben.

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Surprise 454/19

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 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Semhar Negash, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Martina Caluori, Milena Keller, Olga Lakritz, Sunil Mann, Milena Moser, Gian Snozzi, Ulrike Ulrich, Matthias Willi Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  26 800 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: MATTHIAS WILLI

Surprise-Porträt

«Dann bin ich mit 200 Prozent dabei» «Ich spiele schon fast mein ganzes Leben lang Fussball, früher sogar in der 3. Liga. Später war ich auch Juni­ orentrainer und für die Elite der C-Junioren zuständig. Auch eine Schiedsrichterprüfung habe ich gemacht. Die letzten zehn Jahre aber hatte ich mit dem Sport kaum mehr zu tun. In den Strassenfussball bin ich so reinge­ rutscht, ein ­Bekannter von mir ist dabei, so habe ich da­ von erfahren. Ich landete bei den Dragons, das ist die Basler Mannschaft, bei der mein Kumpel spielt. Ich spielte gleich zu Beginn einige Turniere mit. In drei Ta­ gen holten wir drei Pokale, da sagte ich: Man muss auf dem Höhepunkt gehen, ich reiche meinen Rücktritt ein! Das war natürlich nur Spass. Fussball auf dem grossen Feld in der 11er-Mannschaft mag ich zwar nicht mehr spielen, das geht zu sehr auf die Knochen, und ich bin jetzt ja doch schon etwas älter. Beim Strassenfussball aber hat man so gut wie keinen Körperkontakt, das läuft viel fairer und sanfter ab als im regulären Fussball. Und seit ich für die National­ mannschaft und den Homeless Word Cup (HWC) in Wales nominiert bin, ist die Motivation umso grösser. Ich ­arbeite jetzt wirklich auf diese WM hin. Wir sind eine gute Truppe, und es macht mir Freude und Spass. Im Moment kämpfe ich aber auch mit meiner Depres­ sion. Ich habe sechs Wochen Klinik hinter mir, jetzt ­suche ich einen Therapieplatz. Das ist nicht ganz ein­ fach. Den Platz, den ich hätte haben können, will ich nicht. Ich war dort bereits einmal und habe schlechte Erfahrungen gemacht. Mein Leben war schon früh kompliziert. Ich bin ein Scheidungskind. Irgendwann heiratete meine Mutter einen neuen Mann. Dieser trank viel, und es kam immer wieder zu psychischer und physischer Gewalt gegen mich. Was damals passiert ist, belastet mich bis heute. Mit Kritik zum ­Beispiel habe ich unglaublich Mühe. Beruflich habe ich vieles gemacht. Die Lehre als Kunst­ stoffapparatebauer – so etwas wie ein Schreiner für Kunststoffe – brach ich ab. Mein Lehrmeister hatte mich fast die ganze Zeit als billige Arbeitskraft auf der Bau­ stelle eingesetzt. So war ich für die Abschlussprüfung nicht gut genug vorbereitet. Ausserdem war ich Le­ gastheniker und mit der Schule sowieso eher überfor­ dert. Ein verpatzter L ­ ehrabschluss wäre nur eine ­Enttäuschung mehr in meinem Leben gewesen, wes­ halb ich die Lehre abbrach. Ich arbeitete viel temporär und sporadisch, dazwischen bezog ich immer wie­ der Sozialhilfe. Zuletzt war ich Security-­Mitarbeiter beim FC Basel, ich kümmerte mich um die Sicherheit 30

Michael Rufer, 45, kam erst vor Kurzem zum Strassenfussball – und wird für die Schweiz gleich an der WM teilnehmen.

der Mannschaft und war bei allen Heim- und Auswärts­ spielen dabei. Daneben arbeitete ich auf dem Messebau, als Türsteher und bei einem K ­ ollegen, der eine Firma für Brand- und Wasserschaden­sanierung hat. Diesen letzten Job habe ich als einzigen behalten, alles andere wurde mir zu viel. Es sind immer­hin ein paar Tage ­Arbeit im Monat, ich habe meine Baustelle und dort meinen Frieden. Ich merke halt schon, dass ich derzeit nicht voll belastbar bin. Ich hoffe, dass ich nach der WM wieder mehr arbeiten kann. Ich bin zuversichtlich. Meine Wohnsituation ist geklärt, ich fühle mich wohl in meiner kleinen Zweizimmerwohnung am Rand von ­Basel, und meinen ­beiden Katzen geht es dort auch gut. Beim Fussball kann ich abschalten. Habe ich Freude am Spiel, ist die Welt in Ordnung. Ich habe schon be­ stimmte Vorstellungen von der Disziplin in der Mann­ schaft. Mit so einer wilden Truppe etwas zu erreichen, ist nicht einfach. Aber solange ich das Gefühl habe, dass man etwas reissen kann, bin ich mit 200 Prozent dabei. Am HWC werden wir tun, was wir können. Mein Motto: Dabeisein ist gut und recht – aber wenn man dabei ist, muss man auch mitlaufen und alles geben.» Aufgezeichnet von AMIR ALI

Spielplan und weitere Infos: www.homelessworldcup.org Live-Übertragung: www.youtube.com/user/HomelessWorldCup Surprise 454/19


SOZIALE STADTRUNDGÄNGE

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