Surprise Nr. 447

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Strassenmagazin Nr. 447 29. März bis 11. April 2019

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Handel

Wo der Kaffee wächst

Reise zum Ursprungsort eines Schweizer Exportschlagers Seite 8

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TITELBILD: MARCO FRAUCHIGER

Editorial

Eigenverantwortung Heinz Spannenberger heisst der Mann, aus dessen Leben Sie in dieser Ausgabe ab Seite 16 lesen. Er lebt im süddeutschen Reutlingen, und seine Geschichte ist auf gewisse Weise sehr deutsch. Und dann auch wieder nicht. Der universelle Teil von Spannenbergers Leben: Alkoholsucht, Scheidung, Job weg, Sozialhilfe. All das geschieht die ganze Zeit und überall, hätte genauso auch in der Schweiz passieren können: Biografien mit Brüchen, gebrochene Menschen. Der sehr deutsche Teil im Leben des Heinz Spannenberger beginnt, als er ganz unten ist. Nachdem er über 40 Jahre als Arbeiter ins Sozialwesen einbezahlt hat, kommt er nicht einmal auf die deutsche Durchschnittsrente. Weil er nicht über die Runden kommt, fischt Spannenberger, 68, Pfandflaschen und Dosen aus Abfalleimern. Seit Deutschland 2003 das Flaschenpfand einführte, sammeln Obdachlose die Wertstoffe

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Kurzes Verfahren

6 Challenge League

Kinderrechte – für wen?

7 All Inclusive

Traumberuf IV-Rentner?

8 Handel

In der Wiege des Arabica-Kaffees

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16 Altersarmut

Ein Mann am Ende

ein. Dann kamen die Hartz-IV-Empfänger dazu. Und mittlerweile auch Menschen, die ihr ganzes Leben gearbeitet haben – in der Annahme, sich später einmal einen bescheidenen Ruhestand gönnen zu können. Die Kritiker eines gut ausgebauten Sozialstaats sprechen gern von Eigenverant­ wortung. Das ist im Grunde auch richtig. Der Mensch will für sich sorgen, das ­sehen wir bei S ­ urprise jeden Tag. Umso verantwortungsloser ist es, wenn man von den Menschen Eigenverantwortung ­for­dert, solange sie im arbeitsfähigen Alter sind – und sie hängen lässt, wenn sie in Rente gehen. Heinz Spannenberger hat übrigens vor 15 Jahren mit dem Trinken aufgehört – ganz allein. Angerechnet wird ihm das nirgends. AMIR ALI

Redaktor

22 Audiowalk

Wer prägt das Quartier?

24 Film

Ein Schlepper auf der Flucht

25 Buch

Scheiden tut weh

26 Veranstaltungen 27 Agglo-Blues

Coach cool

28 SurPlus Positive Firmen 29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren 30 Surprise-Porträt

«Besser als in Barcelona»

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Aufgelesen

Hier bin ich glücklich Mit einer Einwegkamera ausgerüstet, zogen Verkaufende der australischen Strassenzeitung The Big Issue los, um die Orte zu fotografieren, an denen sie besonders glücklich sind. Eine Auswahl. BIG ISSUE AUSTRALIA, MELBOURNE

Trevor, The Blue Mountains «Ich war unten am Hafen von Sydney, um einen anderen Verkäufer zu treffen. Da dachte ich, ich schiesse ein paar Bilder. Ich kam oft hierher, als ich obdachlos war, weil man hier Menschen traf und es irgendwie friedlich war. Das Wasser gibt mir ein Gefühl von Erleichterung.» Lenny, Melbourne «Mein Hinterhof in Brunswick war der Ort, wo ich besonders glücklich war. Nun wurde er verkauft und mir bleiben nur wenige Tage, um etwas Neues zu finden. Hier konnte ich vergessen, wo ich war, mich entspannen und in die Wolken gucken, umgeben von einer Menge wunderschöner Pflanzen und einer dicken Katze, die auch gern dort abhing.» David, Adelaide

«Dies ist die Praxis meines Arztes. Eigentlich ist das kein glücklicher Ort, doch an diesem Tag waren keine anderen Leute dort und ich konnte einfach reingehen und musste mir keine Gedanken drüber machen, dass man mich anstarren würde. Ich war letztes Jahr viermal im Krankenhaus und ich mag es, wenn ich nicht im Wartezimmer sitzen muss.» 4

Eddie, Brisbane «Mit Sport fühlt man sich besser – ich hole mir das durchs Fahrradfahren. Ich fühle mich dann, als könnte ich fliegen. Ich vergesse alles, und aller Stress fällt von mir ab. Ich habe dieses Foto in Shorncliffe aufgenommen, einem schönen Teil von Brisbane. Das Wasser beruhigt mich, mir ist friedlich zumute, wenn ich den Wellen zuschaue.» Surprise 447/19

FOTOS: ZVG

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.


ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

Digitale Nachhilfe

1,6 Millionen Briten beziehen ­aktuell Universal Credit, die 2012 reformierten Sozialleistungen im Königreich. Weil das ohnehin schon prekäre System sich vor allem auf Onlineanmeldungen stützt, haben viele Betroffene Schwierigkeiten, sich für die ihnen zustehenden Gelder anzumelden. 4,3 Millionen ­Briten waren noch nie im Internet, weitere 14,5 Millionen haben keine bis wenig digitale Fähigkeiten. Das schottische Glasgow steuert nun dagegen und hat eine digitale Integrationsbeauftragte angestellt, ­ die mit einem Ipad bewaffnet durch die Stadt zieht, um Wohnungslo­­sen und anderen Sozialleistungsberechtigten zu helfen, sich für die ­finanzielle Unterstützung registrieren zu lassen.

THE BIG ISSUE, LONDON

Parasiten-Pest Wohnungs- und Obdachlose in den USA haben keinen regelmässigen Zugang zu Waschgelegenheiten und Sanitäranlagen, und die Betten in den Notunterkünften müssen sie sich mit zahlreichen anderen teilen. Als Folge davon leiden die Betrof­fe­nen häufig unter Parasiten wie ­Läusen, Krätzmilben oder Bettwanzen. Die Bekämpfung dieser Para­siten ist kostspielig, aber unumgäng­­lich. Eine mögliche Folge sind Infektionen, das ständige Jucken und schlaflose Nächte können die Befallenen jedoch sogar in den Wahnsinn treiben. «Es ist der Alptraum einer jeden Obdachlosen. Ich bin komplett zusammengebrochen, als ich vor 10 Monaten mit Kopfläusen aus einer Notschlafstelle kam. 350 US-Dollar hat mich die Anti-Läuse-Kur gekostet», sagt Barbara Weber aus Portland, Oregon.

STREET ROOTS, PORTLAND

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Vor Gericht

Kurzes Verfahren Ein kurioses Bild: Beweisstücke, ausgestellt auf einem Tisch zur Linken der Schranken eines Gerichts in der Zürcher Vorstadt. Ein Pocket Bike, neudeutsch für Minitöff, eine Flasche Motorenöl, neben weiteren Kostproben des bemerkenswerten deliktischen Warenkorbs eines Betrüger-­P ärchens: ­Mobiltelefone und Tablets. Dutzende Autobahnvignetten und Alpamare-Frei­karten. Eine T-Shirt-Druckmaschine. Eiweisspulver, Kinderschuhe und Grüntee. All das boten die beiden über verschiedene Internet-­ Portale zum Kauf an. Käuferinnen bestellten, bezahlten – und warteten dann vergeblich auf ihre Sachen. Noch länger ist die Liste der Waren, die das Paar bestellte, aber nie bezahlte: Bekleidung, Schuhe, Kosmetika, Duvets und Regale, Mini Scooter, E-Zigaretten, Werkzeugsets. Insgesamt entstand in drei Monaten ein Schaden von über 20 000 Franken. Beide, sie heute 30, er knapp 40, haben ihr Leben mit Vollgas an die Wand gefahren. Sie schildert ihren Niedergang in einem Tempo, dass die Gerichtsschreiberin nicht mehr mitkommt: Lehre abgebrochen, Kind bekommen, heroinabhängig geworden, Kind fremdplatziert, auf der Strasse gelebt. «Am Schluss», sagt sie, «hat es mich gar nicht mehr gegeben.» Er erzählt, wie ihm sein Leben nach einer Erbschaft entglitt. 400 000 Franken habe er einfach verprasst. Er kündigte seinen Job und kaufte einen Porsche Cayenne, ass nur noch auswärts, vor allem aber kokste er sehr, sehr viel. Nach eineinhalb Jahren

war das ganze Geld weg. «Sie haben 20 000 Franken pro Monat ausgegeben», rechnet der Gerichtspräsident vor. «Die Sucht war mein Untergang», sagt der Beschuldigte. Inzwischen geht das Paar getrennte Wege – aber beide haben sich gefangen, ­zumindest im geschützten Umfeld der Entzugskliniken geht es ihnen besser. Sie arbeitet in der Hauswirtschaft der Institution, er lackiert Fensterläden, ebenfalls in der hauseigenen Werkstatt. Wenn sie heute zurückblicke, sagt die Frau, könne sie sich gar nicht mehr vorstellen, was da passiert sei. Er sieht ein: Alles ist überbordet. Das abgekürzte Verfahren ist die Schweizer Version des amerikanischen «Deals»: Geständnis, Anerkennung aller Zivilforderungen und Kooperation – dafür gibt es strafrechtliche Gnade. Das heisst, die Staatsanwaltschaft unterbreitet nach ihren Ermittlungen den Verteidigern und Gerichten einen Urteilsvorschlag, in diesem Fall je 18 Monate bedingt für gewerbsmässigen Betrug. Wenn alle einverstanden sind, wird der Urteilsvorschlag durch das Gericht zum Urteil erhoben, ohne dass eine ausführliche Befragung durchgeführt wird oder die Anwälte Plädoyers halten. Bis der Deal für das Paar steht, gilt es aber noch die langen Listen zu bereinigen. Welche beschlagnahmten Waren jetzt genau vernichtet oder zur Deckung der Verfahrenskosten verwertet werden. Welche den Beschuldigten oder Geschädigten zurückgegeben. Welche Geschädigten wie viele Zivilansprüche geltend machen können. Dann verliest der Gerichtspräsident endlich das Urteil. Als er fertig ist, entfährt ihm ein erleichtertes «So!» * persönliche Angaben geändert Y VONNE KUNZ  ist Gerichtsreporterin

in Zürich 5


Challenge League

Kinderrechte – für wen? Ich treffe heute Nahom, einen von Hunderten unbeglei­ teten minderjährigen Asylsuchenden, die ich in den letzten Jahren für verschiedene Organisationen begleitet habe. Obwohl ich für diese Arbeit nicht mehr offiziell angestellt bin, ist es mir und den Jugendlichen weiterhin wichtig, in Kontakt zu bleiben und uns gegenseitig zu unterstützen. Diese Verantwortung ist anstrengend, weil es über die eigenen Kapazitäten hinausgehen kann. Aber sie ist auch spannend. Noch vor einem Jahr freute ich mich regelmässig darauf, Nahom zu ­treffen. Es interessierte mich, wie es ihm in der Schule, mit seinen Freunden und in der Fussball­ mannschaft ging. Und wir unter­ nahmen spannende ­Sachen ­zusammen. Leider habe ich dieses Gefühl heute nicht mehr. Wenn ich wählen dürfte, würde ich ihn ­lieber nicht mehr treffen, aber ich zwinge mich dazu.

dabei auf dem Boden schaut: «So … was gibt es Neues?» Es ist diese Frage, die mich daran hindert, ihn öfter zu treffen. Was soll ich ihm sagen? Ich antworte aus­ weichend. Dann erzähle ich ihm von einem Artikel, den ich gelesen habe und in dem es um Ausschaffung und Kinderrechte ging. Nahom fragt: «Was sind Kinder­ rechte?» Wie soll ich das einem Jugendlichen erklären, dessen ganze Lebensgeschichte und Alltag in Diskre­ panz zur geltenden Kinderrechtskonvention stehen? Ich gebe mein Bestes. Nahom fi ­ ndet es interessant und fragt weiter: «Gelten die Kinderrechte auch für mich?»

Wenn ich wählen dürfte, würde ich ihn l­ ieber nicht mehr treffen, aber ich ­zwinge mich dazu.

Gemäss Uno-Konvention ­gelten die Kinderrechte für alle Menschen ­unter 18 Jahren. Länder wie Eritrea und die Schweiz, die diese Kon­ vention unterzeichnet haben, sind zur Einhaltung verpflichtet. Zahl­ reiche Kinder und Jugendliche sind jedoch aus unterschiedlichen Grün­ den gezwungen, ihr Heimatland zu verlassen, und nehmen ­gefährliche Fluchtrouten auf der Suche nach einer besseren Z ­ ukunft in Kauf.

Nahom ist der älteste Sohn seiner Familie und hat noch drei jüngere Geschwister in Eritrea. Sein Vater SEMHAR NEGASH war Soldat. Die Familie sind Bauern, So wie Nahom, der inzwischen der Vater kam nur ab und zu in den Ferien nach Hause. Als Nahom 19 Jahre alt ist. Er hat zwar Glück 12 Jahre alt war, verschwand der gehabt, in einem sicheren Land wie ­Vater plötzlich. Die Familie hörte der Schweiz zu landen. Und doch Gerüchte, dass er im Gefängnis sei. war und ist er hier einem Asylver­ fahren unter­worfen, das die Kinder­ Bis heute wissen sie nicht, ob er rechte zu wenig berücksichtigt. Wann aber s­ ollen noch lebt. Ab diesem Moment musste Nahom seiner dann die Kinderrechte gelten, wenn nicht hier und jetzt Mutter helfen und konnte nicht mehr regelmässig zur und für alle? Schule gehen. Die Behörden drohten, ihn ins Militär zu schicken. Deshalb entschied er sich mit 14, Eritrea zu verlassen. Nach zwei Jahren auf der Flucht kam Nahom 2015 in die Schweiz. Von Anfang an gab er sich Mühe, die Sprache zu lernen, zwei Jahre später schon begann ­ er mit einer Lehre als Sanitärinstallateur. Er war beliebt bei den Kollegen und beim Chef. Im August 2018 bekam Nahom einen Brief vom SEM mit dem Bescheid, dass er nicht mehr in die Schule ­gehen und auch seine Lehre nicht fortsetzen dürfe. Innerhalb eines Monats müsse er die Schweiz verlassen. Seit sechs Monaten sitzt er nun in einem speziellen Ausschaf­ fungscamp. Noch darf er sich frei bewegen, ob er dem­ nächst in Haft genommen wird, ist ebenfalls unklar. Nachdem wir etwas gegessen haben, gehen wir spazie­ ren. Es herrscht Schweigen zwischen uns. Plötzlich fragt mich Nahom, während er sich am Kopf kratzt und 6

Die Berner Anthropologin SEMHAR NEGASH würde es bevorzugen, wenn die Kinderrechte mehr wären als ein Papiertiger. Surprise 447/19


ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

Durch die ganze Debatte zog sich das ­Argument, dass es nicht sein dürfe, dass jemand mit einer Behinderung unter ganz bestimmten Umständen möglicher­ weise ein bisschen mehr Geld zur Ver­ fügung haben könnte als jemand ohne Behinderung. Natürlich bezeichnete man die Betroffenen nicht als «Menschen ­ mit einer Behinderung», sondern als Men­ schen, «die nicht arbeiten». Und natür­ lich wurde zum Vergleich nicht das Einkom­men eines CEO herangezogen und auch nicht das Schweizer Durch­ schnitts­einkommen. Ob es dem Working Poor irgendwie bessergeht, wenn sein schwerkranker oder behinderter Nachbar noch weniger Geld als er zur Verfügung hat, darf allerdings bezweifelt werden.

All Inclusive

Traumberuf IV-Rentner? Parlamentarischen Debatten über die ­Sozialwerke zuzuhören ist kein Zucker­ schlecken. Obwohl die Positionen der verschiedenen Parteien von vornherein klar sind, dauern die Diskussionen ­meist furchtbar lange. Und wenn man sich die trockene Materie etwas versüssen will und bei jeder Erwähnung der ­Wendung «falsche Anreize» ein Kirschstängeli isst, ist man schon betrunken, bevor es überhaupt richtig losgeht. In der vergangenen Session wurde im Parlament sowohl über die Invaliden­ versicherung als auch über die Ergän­ zungsleistungen verhandelt. Und wie das in den letzten Jahren so üblich geworden ist, wenn es um Sozialleistungen geht, fordern rechte und bürgerliche Politiker und Politikerinnen Kürzungen an allen Ecken und Enden. Die linke Minder­heit versucht dann im Gegenzug das Al­ lerschlimmste zu verhindern. Meist mit wenig Erfolg. Wenn man der Argumentation rechter und bürgerlicher Abgeordneter mehrere Stunden lang zuhört, bekommt man den Eindruck, dass IV-Leistungen nicht an Menschen mit schwerwiegenden Surprise 447/19

­ esundheitlichen Problemen ausbeg zahlt werden, sondern an Leute, die sich eines schönen Tages dachten: «Hey, IV-Rentner sein, das wär’ doch irgendwie noch cool! Das mach ich mal.» Speziell Jugendlichen mit psychischen Erkrankun­ gen wird unterstellt, dass sie diese ­«Laufbahn» bewusst einschlagen, weil man als IV-Bezüger ja viel mehr Geld ­bekomme als die gleichaltrigen Kollegen mit ihrem Lehrlingslohn. Dass ein Lehr­ lingslohn nicht zum Leben reicht und die Kollegen nach Abschluss ihrer Lehre ziemlich schnell deutlich mehr Geld zur Verfügung haben als jemand mit einer IV-Rente und Ergänzungsleistungen, fällt bei dieser wackeligen Argumentation komplett unter den Tisch. Auch bei älteren IV-Bezügerinnen und Bezügern, namentlich jenen, die bereits Eltern sind, vermutete die Ratsrechte eine eiskalte Karriereplanung. Die Kinderzu­ lagen für IV-Beziehende müssten gekürzt werden, da diese eine IV-Rente angeblich zu ­attraktiv machten. Ja klar, erst kriegt man ein paar Kinder und legt sich dann eine schicke Behinderung zu, zum Bei­ spiel eine schöne Multiple Sklerose, weil sich das einfach richtig gut lohnt.

Damit Arbeit sich «lohnen» kann, muss jemand mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung allerdings auch erstmal einen passenden Arbeitsplatz finden. Besonders schwierig ist das für psychisch Kranke. Bei ihnen verlaufen nur ein Viertel der IV-Eingliederungsmass­ nahmen erfolgreich. Die Ratslinke schlug deshalb eine generelle Behinder­ ten-Quote für Unternehmen ab 250 ­Mitarbeitenden vor. Die rechte Mehrheit war not amused. Hatte man im ersten Teil der Debatte noch betont, wie wichtig Anreize zur Ein­ gliederung – in Form von finanziellen Kürzungen für die Betroffenen – wären, fand man es nun absolut inakzeptabel, auch den Arbeitgebern Verantwortung zu übertragen. Der selbst körperlich be­ hinderte CVP-Nationalrat Christian Lohr meinte gar, es könne für Menschen mit Behinderungen stigmatisierend sein, wenn sie in einem Betrieb als sogenannte Quotenbehinderte gelten. Statt arbeitslos zu sein wäre aber wohl s­ o mancher Betroffener lieber Quotenbehin­ derter. Gerne auch im Nationalrat.

MARIE BAUMANN  schreibt seit 2009 unter ivinfo.wordpress.com über sozialpolitische Themen und mag gerade keine Kirschstängeli mehr sehen. *hicks*

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Die teuflischen Früchte vom heiligen Ort Handel In den Wäldern Äthiopiens wächst Kaffee noch wild statt auf Plantagen.

Doch das globale Geschäft macht den Bauern zu schaffen. Und schon flackert ein kurios anmutender Konflikt wieder auf. TEXT  CONRADIN ZELLWEGER FOTOS  MARCO FRAUCHIGER

Kaffa Region ÄTHIOPIEN

Die roten Kaffeekirschen blitzen zwischen den sattgrünen, glänzenden Blättern hervor. Plötzlich blicken zwei weisse Augen zwischen den Früchten hervor. Ein alter, dürrer Mann mit einem grauen Bart steht zwischen den Sträuchern von Kataa Mudugaa, einem kleinen, sagenumwobenen Waldstück in der Nähe der Grossstadt Jimma im Südwesten Äthiopiens. Er sieht aus wie Kaldi, der Hirte, der um das Jahr 850 durch Zufall den Kaffee entdeckt haben soll. Damals weidete der Hirte auf dieser Lichtung seine Geissen. Die Tiere frassen die roten Früchte der umliegenden Kaffeesträucher und tanzten danach bis in die Nacht hinein wild herum. Die Schlaflosigkeit der Geissen machte Kaldi stutzig, also kostete er selbst von den Kaffeekirschen. Als er Mönchen in einem Kloster von seiner Entdeckung berichtete, glaubten diese, die aufputschende Wirkung der Früchte sei teuflisch, und liessen die Kirschen verbrennen. Auf diese Weise soll erstmals der Geruch von geröstetem Kaffee aufgestiegen sein. Der Alte im Gebüsch, der uns die Legende erzählt, heisst nicht Kaldi, sondern Abdulrahman. Er lebt hier im Wald. «Es ist ein heiliger Ort», sagt er mit leiser, brummiger Stimme. Flink läuft er zwischen den Bäumen und Sträuchern hindurch zu einer Lichtung. Er zeigt auf einen roten Felsen im Gras. «Hier sieht man den Hufabdruck einer Geiss, die Kaldi hütete.» Der Stein ist von EinbuchSurprise 447/19

tungen übersäht. Auch ein Fussabdruck von Kaldi selbst soll hier irgendwo zu finden sein. Etwa hundert Kilometer von der Waldlichtung entfernt, in der Kleinstadt Bonga im Bezirk Kaffa, wird man uns später bei unserer Suche nach dem Urkaffee eine andere Geschichte erzählen: Kaffa sei der Geburtsort des Kaffees. Man wird uns zu einem mächtigen, moosbewachsenen Kaffeebaum mitten im Urwald führen: Der «Mother Coffee Tree», wie die Bauern ihn liebevoll nennen. Klar ist: Arabica-Kaffee kommt aus Südwest-Äthiopien. Doch der genaue Ort ist im Land umstritten. Es herrscht ein Streit zwischen den Regionen Kaffa und Jimma um den Ursprung des Kaffees. Und manchmal protestieren die Bauern deswegen sogar auf den Strassen. Die Schweiz exportiert mehr Kaffee als Käse Wir sind aus dem Land angereist, das die Welt mit Nescafé und Kaffeekapseln überflutet. In den letzten zehn Jahren ist die Schweiz zur Hauptdrehscheibe für den interna­ tionalen Kaffeehandel geworden. Das Bundesamt für ­Umwelt schätzt, dass inzwischen über zwei Drittel des weltweiten Handelsvolumens von hier aus abgewickelt werden. Sechs der weltweit wichtigsten Rohstoffhändler haben hier ihren Sitz. Und auch physisch exportiert die Schweiz mehr Kaffee als Käse und Schokolade zusammen­ 9


genommen, wie Zahlen der Eidgenössischen Zollverwaltung von 2015 belegen. In Zürich schreibt eine hippe Barista-Kette: «Kafi isch liebi, kafi isch läbe». Der morgendliche Muntermacher geniesst Kultstatus. Mit mehr als drei Tassen pro Tag stehen die Schweizerinnen und Schweizer auf Platz 3 der Kaffeetrinkenden weltweit. Das hat Folgen: Die Produktion braucht enorm viel Wasser, die Kaffeebohnen werden um die halbe Welt transportiert. Und auch die Arbeitsbedingungen für Kaffeebauern sind oft prekär. Woher kommt dieser Rausch, der einem schon beim Riechen an frischgemahlenen Bohnen die Sinne raubt? Und wie gehen diejenigen mit Kaffee um, für die das Genussmittel bereits seit Jahrhunderten zur Kultur gehört – lange, bevor es zum ökologisch problematischen Kassenschlager wurde? Ein grosses Schild kündigt den Geburtsort des Kaffees an. Die Touristen auf der einwöchigen Kaffeereise, der wir uns angeschlossen haben, sprechen plötzlich ganz leise, als überraschend Abdulrahman aus dem Wald auftaucht und die Legende von Kaldi zum Besten gibt. Auch Michaël Tuil erzählt den Mythos oft: «Die Kunden hören die Geschichte gerne.» Der Schweizer importiert äthiopischen Kaffee, geführte Kaffeereisen sind das zweite Standbein seines jungen Unternehmens Direct Coffee. Natürlich geht es ihm nicht in erster Linie um Legendenbildung. «Der Kaffee wächst hier in seinem natürlichen Ökosystem», das sei entscheidend für den Geschmack, sagt Tuil. «Die Bohnen hier sind komplexer, sie haben eine blumige und fruchtige Note.»

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DER MENSCH IST KEINE MASCHINE. Weltweit werden Millionen von Textil­ arbeiterInnen schamlos ausgebeutet. Kämpfen für globale Fairness. www.solidar.ch

Unweit von Kaldis Waldlichtung liegt die Kooperative ­Qottaa, welche den Spezialitäten-Kaffee produziert, den Tuil in der Schweiz verkauft. Es ist ein Zusammenschluss von gut 350 Kaffeebauern-Familien. Semira Miteku pflückt Beere für Beere und legt sie in einen geflochtenen Korb. Sie ist eine der vielen Bäuerinnen der Kooperative. Statt auf Plantagen wachsen die Sträucher in einem lichten Wald am Hang. Auch wildgewachsene sind darunter, sie mögen den Schatten grösserer Bäume. Keine künst­ liche Bewässerung, keine Düngung. Hin und wieder werden junge Sträucher dazu gepflanzt. Kapseln aus einer anderen Welt Tuil hat Semira Miteku und ihren Kolleginnen etwas mitgebracht. Er zieht eine Kaffeekapsel aus der Tasche. «Wisst ihr, was das ist?» Die Bäuerinnen begutachten die violette Kapsel aus der Schweiz skeptisch. «Hier ist euer Kaffee drin», erklärt Tuil. Keine Reaktion, offenbar verstehen die Bäuerinnen nicht, was ihr Kaffee mit dieser Kapsel zu tun haben soll. Kaffeekapseln kommen aus einer anderen Welt. Anfangs hat sich Tuil dagegen gesträubt. Als er schliesslich eine kompostierbare Version fand, sprang er auf diesen Zug auf. Zu stark war die Nachfrage. «Mit der Kapsel kann ich den Konsumentinnen eine gute und gleichbleibende Trinkqualität garantieren», sagt Tuil. Auch im Kaffeeland Schweiz sind ja nicht alle geborene Baristas. Vor drei Jahren hatten Tuil und seine Frau die Idee für ein soziales Kaffee-Startup. Ihre Bohnen kaufen sie direkt bei den Kooperativen. So findet kein Zwischenhandel statt, die Bauern bekommen mehr Geld für ihre Ernte. Von jeder verkauften Packung Kaffee fliesst ein Franken in medizinische Hilfsprojekte, in Mahlzeiten an Schulen oder in Lesebrillen für die Kinder der Bauern. Esel stehen vor der Nassmühle Schlange. Auf ihrem Rücken wackeln Säcke, prall gefüllt mit Kaffeekirschen. Die Bauern transportieren diese kilometerweit aus den umliegenden Wäldern zum Sitz der Kooperative. Langsam dämmert die Nacht, es wird kühl. Die Saison läuft gut, die ganze Nacht wird gearbeitet. Generatoren dröhnen, die Mühle läuft seit Stunden. In den Pausen setzen sich die Bauern ans Feuer, Qat-Blätter werden herumgereicht, ein in Äthiopien legales Rauschmittel, das euphorisierend wirkt. Kaum ein Bauer, der nicht darauf herumkaut. «Wir geben das ganze Geld der Ernte für Qat aus», witzeln manche. Viele Bauern bauen neben Kaffee auch Qat an, was viel lukrativer ist. Die Droge droht den Kaffeeanbau zu verdrängen, wie es im Jemen bereits flächendeckend geschehen ist.

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Abdulrahman im Wald von Kataa Mudugaa.

Pro Tasse Kaffee braucht es rund 140 Liter Wasser, vom Anbau über die Verarbeitung bis zur Zubereitung.

Tahir Aba, dem Präsidenten der Qottaa-Kooperative, machen die tiefen Weltmarktpreise zu schaffen.

Hier wächst der Kaffee noch wild, ohne künstliche ­Bewässerung und ohne Düngung. Surprise 447/19

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Wassersparende Verarbeitung ist möglich, führt aber zu Qualitätsschwankungen.

«Hier ist jeder Kaffee biologisch»: Frehiwet Getahun.

In Äthiopien selbst trinkt man sonnengetrockneten und damit wassersparend produzierten Kaffee.

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Doch noch herrscht hier reges Treiben. Unweit der Nassmühle stehen Waschanlagen, Trocknungstische und eine Lagerhalle. Die Mühle befreit die Kaffeekirschen vom Fruchtfleisch. Die frisch geschälten Bohnen werden gespült und anschliessend in einem Wasserbecken fermentiert. Neben dem Trog stehen Trocknungstische, wo die Bohnen für einige Tage in die Sonne gelegt werden. Es riecht säuerlich nach vergorenen Früchten. Die Produktion von Kaffee verbraucht viel Wasser. Eine Studie geht davon aus, dass pro Kaffeetasse 140 Liter ­Wasser benötigt werden. Dies ist ein Durchschnittswert, der alles von der Bewässerung, Verarbeitung bis hin zur Zubereitung berücksichtigt. Damit ist Kaffee eines der wasserintensivsten Lebensmittel überhaupt. Wegen des Klima­wandels wird der Wasserverbrauch für Kaffee weiter steigen: Plantagen, etwa in Kolumbien, müssen bereits heute stark bewässert werden, damit brauchbare Bohnen wachsen. Auch Äthiopiens Anbaugebiete spüren den Klima­ wandel, zu diesem Schluss kommt zumindest die britisch-­ äthiopische Studie «Coffee Farming and Climate Change in Ethiopia» von 2017. Auf der Qottaa-Kooperative sieht man die Situation noch relativ entspannt. «Wir merken noch wenig Auswirkungen des Klimawandels», sagt ein Bauer. Ein Grund dafür ist, dass die Sträucher im Schatten eines Waldes wachsen. Bewässerungsanlagen gibt es hier keine. Doch auch das Waschen und die Verarbeitung der Bohnen brauchen viel Wasser. Darum setzt Kaffeeimporteur Michaël Tuil vermehrt auf sonnengetrockneten Kaffee. Die Kaffeefrüchte werden dabei erst nach dem Trocknen vom Fruchtfleisch befreit. So wird das Wasser für die Nassmühlen eingespart. In Europa bekommt man bisher kaum Kaffee, der auf diese Weise getrocknet wurde, da es dabei zu Qualitätsschwankungen kommt. In Äthiopien selbst hingegen trinkt man schon «seit Kaldi» sonnengetrockneten und damit wassersparend produzierten Kaffee. Für Äthiopien ist Kaffee mehr als ein nationaler Mythos: Nach Brasilien, Vietnam, Indonesien und Kolumbien ist das ostafrikanische Land der weltweit fünftgrösste Kaffeeexporteur, Kaffee mit Abstand das wichtigste Exportgut des Landes. Bis zu einem Drittel der Exporteinnahmen stammen aus dem Handel mit den Bohnen, über die genauen Zahlen sind sich die Quellen uneins. Aktuell ist allerdings der Rohstoffpreis an der Börse im Sinkflug. Ein Pfund grüne Kaffeebohnen kostet rund einen US-­ Dollar, das entspricht etwa zwei Franken pro Kilogramm. «Wir sind stolz darauf, Kaffee an seinem Ursprungsort zu produzieren», sagt Tahir Aba, der frischgewählte Präsident der Qottaa-Kooperative. Allerdings macht der niedrige Surprise 447/19

Preis der Kooperative zu schaffen. Sie verkauft nur einen Teil der Ernte über Direktimport, so wie an den Schweizer Michaël Tuil. Dabei ist die Ernte hier viel aufwendiger als auf den grossen Plantagen und kostet deshalb auch mehr. Durch hügelige Nebelwälder fahren wir weiter nach Bonga, ein 30 000-Seelen-Städtchen in der Region Kaffa, dem anderen Ort, der den Kaffee hervorgebracht haben soll. Der Wald ist hier dichter als in Jimma. Von der Legende mit Kaldi und seinen Geissen will hier niemand etwas hören. Hier in der Nähe soll nämlich der älteste Kaffeebaum Äthiopiens stehen, der «Mother Coffee Tree». Für die Ortsansässigen ist dies der Baum, von dem der erste Kaffee gebraut wurde. Kaffee schlürfen vom Altar Davon ist man auch bei der Kaffa Forest Coffee Farmers Cooperative Union überzeugt, einem Zusammenschluss von 48 Kooperativen. Frehiwet Getahun, der Vorsitzende, empfängt uns in seinem Büro. Er spricht langsam und überlegt, der Konflikt um den Ursprung des Kaffees scheint ihm etwas unangenehm, erst später erfahren wir, warum. An der Wand seines Büros hängen zahlreiche Zertifikate. Auf einem Tisch liegen vergilbte Verpackungen von geröstetem Kaffee aus Europa, auch eine Packung aus Bern ist darunter. Auf einer steht geschrieben: «100 % wildwachsender Arabica aus zertifizierter Bio-Wildsammlung». Die Zertifikate machen Frehiwet Getahun Kopfschmerzen. «Hier ist jeder Kaffee biologisch», erklärt er. Die Bauern pflücken den Kaffee im Wald, Dünger können sie sich gar nicht leisten. Doch ein für Europa brauchbares Bio- oder Fair-Trade-Siegel zu bekommen, ist schwierig. «Die Farmen sind so abgelegen, da kommen die Zertifizierer kaum hin», erklärt Getahun. Zudem sei der Preis für die Zertifizierung oft zu hoch. Doch gerade etwa für den Schweizer Markt sind solche Nachhaltigkeitslabels zunehmend wichtig. Das Bundesamt für Umwelt schätzt, dass Herr und Frau Schweizer im nächsten Jahr für bis zu 70 Prozent des gebrühten Kaffees ein Nachhaltigkeitszertifikat einfordern werden. Auch weltweit steigt der Bedarf nach ausgewiesenem biologischen Anbau. Auf der Suche nach dem Urkaffee können wir gut nachvollziehen, weshalb der Zertifizierungsprozess so schwierig ist: Die Orte sind so abgelegen, dass manche Kinder weinend davonrennen, als sie uns erblicken. Alle trinken hier den «Buna», wie sie ihren Kaffee liebevoll nennen. Die Zubereitung des Heissgetränks liegt in Frauenhand. Dazu werden die getrockneten olivgrünen Kaffee­ bohnen in einer Pfanne über das Feuer gehalten, wo sie langsam Farbe annehmen. Das Öl tritt an die Oberfläche, 13


die Bohnen beginnen braun zu glänzen. Röstgeruch vermischt sich mit dem Duft von Weihrauch, der dazu verbrannt wird. Knack – die erste Bohne hat ihr Häutchen gesprengt. Die Rösterin weiss, jetzt kommt es auf jede Bewegung an. Gleichmässig mischt sie die immer dunkler werdenden Bohnen, die nun zu dampfen b ­ eginnen. Nach etwa einer Stunde brodelt der frische, schwarze Kaffee in der Kanne auf dem Feuer. Rösten, mahlen, kochen und geniessen, das alles passiert am gleichen Ort. Die Tassen stehen auf einem kleinen Tisch und sind mit Blumen geschmückt. Fast wie ein Altar schaut das aus. Vom ökologischen Fussabdruck einer Tasse Hipster-Kaffee in Zürich sind wir hier weit weg. Es ist ein anderes Getränk, ohne Rohstoffhändler, Transportschiffe, Pestizide, Röstereien und Einwegbecher mit Plastikdeckeln. Ausnahmezustand im Reservat Das Kaffa-Reservat gehört zu den UNESCO-Biosphären, davon gibt es 79 auf dem ganzen Kontinent. Als der Fahrer die Zufahrtsstrasse zum Hotel mit Ausblick über die Nebelwälder hochfährt, kommen uns Spezialeinheiten der Polizei in Tarnanzügen entgegen. Vor einigen Tagen sei hier noch viel mehr los gewesen, erzählen uns die Gäste oben im Hotel. Die Kaffeebauern blockierten sämtliche Strassen. Bis zu 100 000 Demonstranten seien auf die Strasse gegangen. Dabei zählt die Stadt Bonga nur knapp 30 000 Einwohner. Was war hier los? Eine Kleinigkeit hatte den latent schwelenden Konflikt um den Ursprung des Kaffees zwischen Jimma und Kaffa neu auflodern lassen: Auf einer Webseite der staatlichen Fluggesellschaft Ethiopian Airlines wurde Kaffa als Geburtsort des Kaffees bezeichnet. Dann änderte man den angegebenen Ort plötzlich zu Jimma, dem Ort, wo Kaldi mit den Geissen zuhause ist. Ein Affront für die Menschen in Kaffa. Sie versammelten sich zur ersten öffentlichen Protestaktion mit Demonstrationen und Strassensperren rund um die Stadt Bonga. Mehr als drei Tage blieben die Läden geschlossen, den Hotels ging nach und nach das Essen aus. Zwar entschuldigte sich die nationale Behörde für Kaffee und Tee später für das Missverständnis, bezog aber keine klare Position. Bald darauf lösten Polizei und Militär die Proteste friedlich auf. Auch wenn der Konflikt auf den ersten Blick etwas kurios anmutet, machen der Preisdruck, der Klimawandel und das steigende Bedürfnis des westlichen Marktes nach Bio- und Fair-Trade-Zertifikaten der Wiege des Arabica-­ Kaffees zu schaffen. So braucht es nur einen unvorsichtigen Eintrag im Internet und die Menschen gehen auf die Barrikaden. 14

Die Zürcherin Maya Burtscher reist ebenfalls durch die Kaffeeanbaugebiete und hat von den Demonstrationen gehört. Die Ethnologin beschäftigt sich mit den zahlreichen Mythen und Legenden rund um die Entdeckung des Kaffees und mit dem Alltag der Kaffeebauern. Die Legende von Kaldi, dem Ziegenhirten, sei die verbreitetste Erzählung. «Schriftlich belegt wurde die Geschichte aber erst Jahrhunderte, nachdem sie sich zugetragen haben soll», sagt Burtscher. Es sei davon auszugehen, dass einige Volksgruppen jahrhundertelang zerquetschte Kaffeekirschen mit Butter mischten und als Brei assen, lange bevor die eigentlichen Fruchtkerne, die Bohnen, als Kaffee zubereitet wurden. Die meisten Wissenschaftler glauben heute, dass Kaffee irgendwann im 14. oder 15. Jahrhundert von Sklaven auf einem Schiff gekaut wurde. Sklavenhändler aus dem Jemen entdeckten daraufhin die Bohnen. Ein jemenitischer Sufi-Scheich experimentierte und erfand das Getränk, als das wir Kaffee heute kennen – weit weg von den äthiopischen Legenden von Kaldi und dem «Mother Coffee Tree». Wie kann es also sein, dass diese Erzählungen die Wiege des Kaffeeanbaus in ihren Grundfesten zu erschüttern vermögen? «Mythen befassen sich mit Realitäten, die über logische Diskurse und wissenschaftliche Denkweisen ­hinausgehen», erklärt Ethnologin Maya Burtscher. Der Streit um den Geburtsort habe auch ganz konkrete Konse­ quenzen: «Es geht um Verkaufsargumente in Kaffeehandel und Tourismus – und um Identität», so die Zürcher Ethnologin. In Bonga steht auch das «National Coffee Museum», eines der grössten Gebäude des Ortes. Auf dem Dach thront eine übergrosse Kaffeebohne, die einen Kaffeekrug umschliesst. Ein Wachmann versperrt den Eingang. Um seinen Hals hängt ein Gewehr mit abgenutztem Holzgriff. Um das Museum zu besuchen, sei ein Schreiben der Behörde notwendig, wir bekommen eine Telefonnummer. «Sonst kann ich da leider nichts machen.» Wir schlendern um das Gebäude herum. Durch die verdreckten Scheiben ist wenig zu erkennen. Im Ort erzählt man, das 2012 gebaute Museum sei leer, die Ausstellung wurde nie fertiggestellt. Offenbar scheuen die Behörden die Eröffnung, denn dann müssten sie Position im Kaffeestreit beziehen. Und wer weiss, was das wieder auslösen würde.

Dieser Beitrag wurde finanziell unterstützt durch den Medienfonds «real21 – die Welt verstehen», der von der Schweizer Journalistenschule MAZ und von Alliance Sud getragen wird. Surprise 447/19


Über zwei Drittel des weltweiten Kaffeehandels werden aus der Schweiz abgewickelt.

«Verkaufsargumente, Tourismus, Identität»: Ethnologin Maya Burtscher über den Kaffeestreit.

Kifle Mischo ist Kaffeebauer in der Nähe von Bonga.

Wiege des Arabica-Kaffees: Nebelwälder in der Region Kaffa.

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Am Ende im Abseits Altersarmut Heinz Spannenberger war Alkoholiker, Hartz-IV-Empfänger,

Obdachloser – und fleissiger Arbeiter. Nach 41 Jahren als Lastwagenfahrer kommt er nicht einmal auf die deutsche Durchschnittsrente. TEXT  CHRISTINA FLEISCHMAN FOTOS  EMILY PIWOWAR

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Er zieht den rechten Arm aus dem Mülleimer, seine Hand umklammert eine Bierflasche. Alle 20 Meter steht so ein Abfallbehälter, und Heinz Spannenberger lässt keinen aus. Einmal das Gleis entlang und wieder zurück, seine Stammstrecke. Er muss schnell sein, unter den Flaschensammlern ist der Bahnhof ein umkämpftes Gebiet. Mit zwei Dosen und der Flasche, insgesamt 68 Cent Pfand, kehrt er pünktlich zum Anpfiff der zweiten Halbzeit zurück in die Bahnhofskneipe von Reutlingen, einer 100 000-Einwohner-Stadt rund 30 Kilometer südlich von Stuttgart. Dunkles Holz, Fliesenboden, Plastikblumen. Vor Spannenberger steht ein Glas Spezi, ein Mischgetränk aus Cola und Orangenlimo, halb voll, abgestanden. Mindestens einmal am Tag kommt er in dieses Lokal, von dem er sagt, es ziehe ihn an wie ein Magnet. Weihnachten verbringt er hier und Silvester, spielt Schach mit einem Bekannten, schaut Fussball. Durch das Fenster beobachtet er das Treiben am Bahnsteig. Wirft jemand eine Flasche weg, geht er hinaus und sammelt sie ein. «Eigentlich ist jeder für sich allein» Nach 68 Lebensjahren mit wenigen Höhen und vielen Tiefen hatte Spannenberger von einem unbeschwerten Ruhestand geträumt, mit Geld, das auch mal für einen Urlaub reicht, ans Meer oder nach Österreich wie früher mit der Familie. «Das war wohl nichts», sagt Heinz Spannenberger. Er verschwendet seine weni­ gen Worte nicht zum Jammern. An seiner Stelle liessen sich tausend ähnliche Geschichten erzählen, die davon handeln, im Alter am Rand der Gesellschaft zu stehen. Menschen wie Spannenberger finden sich in jeder deutschen Stadt. Rentner, die Flaschen sammeln und am Monatsende um ein paar Euro betteln. Die meisten Passanten schauen weg. Weil niemand gern sieht, was passiert, wenn man den Halt verloren hat. Montagmorgen, Mitte des Monats. Spannenberger verlässt ein Büro der Arbeiterwohlfahrt (AWO), in den Händen 240 Euro für die nächsten zwei Wochen. Ein paar Türen weiter betritt er das Büro von Rita Wilde, seiner Betreuerin. Er setzt sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch, schlägt die Beine übereinander. Aus der verschlissenen Einkaufstüte, in der er sein Leergut transportiert, kramt er zwei abgegriffene Umschläge hervor und streckt sie ihr entgegen. Rentenversicherung und Rundfunkgebühren.

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880 Euro Rente erhält Heinz Spannenberger. Davon bleiben ihm zum Leben 480 Euro im Monat.

«Die Putzfrau war schon wieder nicht da», nuschelt Spannenberger. Auch hier spricht er nur das Nötigste. Die Betreuerin wählt eine Nummer, Spannenberger lehnt sich zurück, faltet seine Hände über dem Bauch, unter den langen Fingernägeln hat sich Dreck angesammelt. Aus gutmütigen, tiefblauen Augen mustert er den Raum, die Aktenordner im Regal, die bunten Landschaftsbilder an der Wand. Von der Lockenmähne seiner jungen Jahre ist ein Haarkranz geblieben, die Wangen säumt ein grauer Bart, Falten haben sich eingegraben. Zur Jeans, vielleicht zwei Nummern zu weit, trägt er ein hellblaues Poloshirt, beide Knöpfe offen. Frau Wilde legt den Hörer auf. «Die Putzfrau kommt Ende der Woche.» Fällt die Reinigung einmal aus, versinkt Spannenbergers Wohnung im Chaos. Er neige «zur Verwahrlosung, hier soll Verschlimmerung verhütet werden», heisst es im letzten Bericht der AWO zu seiner Situation. Weil er Pflegestufe 1 zugesprochen bekommen hat, kommen für den Putzdienst Sozialamt und Krankenversicherung auf. «Er ist weiterhin nicht in der Lage, sich um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern», so der Bericht. Also kümmert sich die AWO um Spannenbergers Post, Versicherungen, Rechnungen. Seine Kleidung stammt aus dem hauseigenen Secondhand-Laden. Weil er sich sein Geld nicht einteilen kann, übernimmt auch das die AWO. Er möchte es so. Seine Rente beträgt 880 Euro im Monat, davon gehen 352 für Miete und Strom ab, 10 für Mietschulden, bleiben noch 518 Euro. Davon bekommt er 480 Euro ausbezahlt. Der Rest sind Rücklagen, für Medikamente, Fusspflege oder sein Handy mit den extra grossen Tasten. Früher hat er sich manchmal eine Karte fürs Reutlinger Fussballstadion geleistet, heute liegen 11 Euro für einen Sitzplatz nicht mehr drin. Allein das Rauchen verschlingt fast sein Tagesbudget. Hätte er 2000 Euro im Monat, wie er sie als Lastwagenchauffeur verdient hat, das wär’s, sagt er. Nach 41 Jahren Beitragszahlungen kommt er nicht einmal auf die deutsche Durchschnittsrente von 1076 Euro. Surprise 447/19


«Ich weiss heute, ich war allein daran schuld, dass meine Ehe in die Brüche gegangen ist.» HEINZ SPANNENBERGER

Ein Stockwerk tiefer, in der AWO-Kantine, bestellt Spannen­berger Menü 1: gegrilltes Putensteak mit Bandnudeln, dazu eine Cola. An der Kasse weist er sich mit einem gelben Papier und vergilbtem Foto aus. Mit dem Sozialpass, den die Diakonie ausstellt, erhält er Rabatt auf das Essen: drei statt sechs Euro. Im Speisesaal nickt er einem Gast zu, nimmt aber allein an einem freien Tisch Platz. Während er kaut, schaut er auf sein Tablett oder starrt die Wand an. Man kennt einander, sieht sich jeden Tag, und redet kaum. «Eigentlich ist jeder für sich allein», sagt Spannenberger. Jeder, das sind Hartz-IV-Empfänger und Obdachlose. Er selbst war beides. 2002 wird Spannenberger betrunken im Auto erwischt, er verliert zum dritten Mal den Führerschein – und damit seinen Job. Jahrzehnte fuhr er Lastwagen. Spannenberger rutscht in Hartz IV ab, das deutsche Pendant zur Sozialhilfe. Dann, vor fünf Jahren, nickt er beim Fernsehen auf dem Sofa ein, die Zigarette fällt ihm aus der Hand. Vom Qualm wacht er auf, rettet sich auf die Terrasse, Polizei und Feuerwehr sind schon da. Als er Tage später seine Wohnung wieder betreten darf, ist alles verkohlt. Nur ein Zinnteller blieb unversehrt: eine Fussball-Trophäe, in die sein Name eingraviert ist, Meister mit dem FC Urach in der C-Klasse 1972/73. Surprise 447/19

Nach dem Brand nächtigt er sechs Wochen lang in einer Notunterkunft, bevor ihm die AWO eine neue Wohnung vermittelt, mit ihm Möbel kauft. Der Zinnteller, vom Russ befreit, thront seitdem auf seinem Wohnzimmerschrank. Zum ersten Mal stand er mit sechs Jahren auf dem Fussballplatz, wo er die glücklichsten Momente seiner Kindheit verbrachte. Im «Kleinen Bol» wächst er auf, dem Problemviertel Reutlingens. Seiner Familie fehlt schon immer das Geld. Der Vater Fensterputzer, die Mutter wegen Depressionen und Herzleiden zu krank zum Arbeiten. In der kleinen Wohnung teilt er sich ein Zimmer mit seiner neun Jahre älteren Halbschwester. Ein Badezimmer gibt es nicht, nur eine Toilette, zum Waschen muss die Spüle in der Küche reichen. Vor der Tür leere Bierflaschen und trostlose Gestalten: Nachbarn, die nicht arbeiten, die ihre Sorgen im Alkohol ertränken. Mit dem Sport kommt der Alkohol Als Heinz zwölf ist, stirbt seine Mutter an einer Lungenentzündung. Er wächst beim Vater auf, der zu viel trinkt und sich mehr um seine Liebschaften kümmert als um den Jungen. Meistens flüchtet Heinz auf den Fussballplatz. Eine Gegenwelt, in der der Mannschaftsgeist zählt, Tore, Aufstieg, gemeinsame Feiern nach einem Sieg. Er kriegt nicht genug davon. «Fussball war mein Leben», erzählt Spannenberger, der 40 Jahre als Stürmer auf dem Platz stand. Mit dem Sport schleicht sich der Alkohol in sein Leben. Nach jedem Training, jedem Spiel, trinkt er mit den Kameraden, manchmal zehn, manchmal fünfzehn Bier. Erst Höchstleistung auf dem Platz, danach Saufen im Vereinslokal, mehrmals die Woche, jahrelang. Wer seinem Körper das antut, muss geübt sein. Beim Trinken war Heinz Spannenberger Profi. Nach der Hauptschule lässt er sich zum Automechaniker ausbilden. Nicht, weil er besonderen Gefallen an Autos findet, er tut es einfach den meisten Jungs in seiner Klasse gleich. Mit 16 Jahren 19


fährt er auf einem Moped, einer schwarzen Hercules, durch die Stadt, er verliebt sich. Im Rausch tätowiert er sich den Namen seiner ersten Freundin auf den linken Unterarm. Die Buchstaben sind mit den Jahren verblasst, Janne ist längst Geschichte. Mit 22 Jahren lernt er Renate kennen. Sie arbeitet im Büro der Firma, für die er Lastwagen fährt. Sie ziehen zusammen, heiraten. Zwei Jahre später kommt Silke zur Welt. «Die glücklichste Zeit meines Lebens», sagt er heute. Doch die Familie leidet von Anfang an unter seiner Sucht. Er ist ständig unterwegs, treibt sich mit den Kameraden herum, kommt spät nach Hause. Sie mache das nicht länger mit, warnt Renate. Er ignoriert ihre Drohungen. «Ich habe mich für unwiderstehlich gehalten.» Nach vier Jahren Ehe zieht sie mit der Tochter aus, reicht die Scheidung ein. Heinz Spannenberger, mit 29 Jahren geschiedener Vater, zieht zurück in den «Kleinen Bol». Der Alkohol habe ihn nicht aggressiv gemacht, sagt er. Im Suff sei er ihr gegenüber handgreiflich geworden, sagt seine Ex-Frau. Er sei mit Tausenden D-Mark Schulden aus der Ehe gegangen, sagt er. Sie habe alle Schulden auf sich genommen, weil er nicht z­ ahlen konnte, sagt sie. Die Geschichte, die mehrere Versionen kennt, hat einen gemeinsamen Nenner. «Ich weiss heute, ich war allein daran schuld, dass meine Ehe in die Brüche gegangen ist», sagt er. Nach der Scheidung, die Tochter ist knapp zwei Jahre alt, findet seine Ex-Frau einen neuen Mann und Silke einen neuen Vater. Ein glückliches Familienleben, bis Spannenberger an die Tür klopft. «Er hielt sich nicht an Termine, aber wenn, dann kam er oft betrunken», erinnert sich die Ex-Frau. Sie sagt auch: «Seine Tochter hat er über alles geliebt.» Die wenigen Kindheitserinnerungen, die Silke mit ihrem leiblichen Vater verbindet, sind keine guten. «Ich habe mich immer 20

Nach 35 Jahren an der Flasche schafft er den kalten Entzug. Er fragt sich oft, ob er darauf stolz sein darf. in meinem Zimmer versteckt. Ich hatte einen Vater, ich brauchte nicht noch einen.» Spannenberger ist für sie der Mann, der immer mal wieder in ihr Leben schneit und gleich wieder verschwindet. Nach Jahren ohne Kontakt lädt sie ihn zur Konfirmation ein, später zur Hochzeit. Er kommt, doch wieder bricht der Kontakt ab. 2017 dann das letzte Treffen. Zu ihrem 41. Geburtstag besucht er sie und seine vier Enkel. «Er hat keine Frage gestellt, kaum geredet», erzählt sie. Wenn sie von ihrem leiblichen Vater spricht, nennt sie ihn nur noch EZ, kurz für Erzeuger. Ein Fremdkörper in dieser Welt «Der Alkohol hat alles zerstört», sagt Spannenberger. Die Ehe, die Beziehung zu seiner Tochter, die Gesundheit. Und er hat die Erinnerung an manche Geschichte getrübt. Kramt er in der Vergangenheit, findet er selten Details. Eines Tages vor 15 Jahren sei er in seine Kneipe gegangen und habe sich nicht zu den Trinkkameraden am Tresen gesetzt, sondern an einen Tisch, allein. Er orderte eine Cola, die Kellnerin nahm es als Scherz, von der Bar schallte höhnisches Lachen. Nach 35 Jahren an der Flasche sei er morgens aufgewacht mit dem Gedanken: So kann es nicht weitergehen. Kalter Entzug. Er überlegt, was damals der Auslöser Surprise 447/19


Maximale Konzentration statt maximaler Rausch: Das Spiel ohne Worte ist Spannenbergers neuer Sport.

war. Doch eine Antwort fällt ihm nicht ein. Sein Körper entwöhnte sich schnell, der Kopf brauchte dafür zwei Jahre. Vielleicht war es das Grösste, das er jemals erreicht hat. Er fragt sich oft, ob er darauf stolz sein darf. Spannenberger zieht seinen Arm aus einem weiteren Mülleimer, leert aus der erbeuteten Flasche einen Rest Bier auf den Gehweg und legt sie vorsichtig zu den anderen in seine Tüte. Langsam schlurft er weiter, je länger der Weg, desto häufiger die Pausen. Er stoppt an einer Bank am Wegesrand, seinem täglichen Rastplatz, und steckt sich eine Zigarette an, während er Passanten beobachtet. Ein Pärchen schlendert mit Einkaufstüten vorüber, im Café nebenan nippen Gäste an Latte Macchiatos. Am Brunnen schleicht ein silberner Sportmercedes vorbei. Spannenberger sitzt wie ein Fremdkörper in dieser Welt. Was ihre Bewohner als Abfall hinterlassen, nimmt er mit in seine. Drei Jahre ist es her, dass er zum ersten Mal in den Mülleimer fasste. Bei der ersten Flasche stachen ihn noch die Blicke der Passanten in den Rücken. Jede weitere kostete weniger Überwindung, der Griff wurde Routine. Heute erkennt er, wer gleich gläsernes Geld in den Müll werfen wird, und hält sich bereit. Je nach Art der Flasche variiert das Pfand zwischen acht und fünfzehn Cent. Zwei bis fünf Euro sammelt er pro Tag. An guten Tagen auch mal neun. Am Abend tauscht er an der Supermarktkasse sein Pfandgeld gegen Zigaretten. Spannenberger nähert sich einer Fantadose, die vor einem Friseursalon am Boden steht. Er hebt sie an und stellt sie sofort wieder ab. Noch fast voll, die gehöre sicher jemandem, stehlen will er nicht. Beim Flaschensammeln zieht er Grenzen: Niemals würde er wühlen, und betteln schon gar nicht. Ein bisschen Würde will er sich erhalten. Vielleicht hat er deshalb seine Tage klar strukturiert. Aufstehen um 6.30 Uhr, um 7 Uhr kommt der Pflegedienst vorbei und stellt ihm seine Medikamente bereit: Pillen, die den Blutdruck senken, Surprise 447/19

Gefässe erweitern, Harn treiben. Die meisten schluckt er, um einen dritten Herzinfarkt zu vermeiden. Der erste traf ihn vor 20 Jahren, der letzte vor acht. Weil die Beine schmerzen, hinkt er leicht beim Gehen, seine Hände zittern. Wenn Spannenberger hustet, bebt sein Körper. 52 Jahre Rauchen hinterlassen Spuren. Zwei grosse Schachteln HB inhaliert er pro Tag, 44 Zigaretten. Als er noch Lastwagen fuhr, waren es doppelt so viele. Manchmal ruft er seine Halbschwester in Düsseldorf an. Die Gespräche dauern keine drei Minuten. «Wie geht’s dir?» «Mir geht’s gut.» «Also dann.» Einmal im Jahr kommt sie zu Besuch nach Reutlingen. Jahrelang herrschte Funkstille, der Alkohol habe das Verhältnis belastet, erzählt sie. «Heinz ist ein seelenguter Mensch, aber er ist labil. Er hatte zuhause kein Vorbild.» Zu gerne würde Spannenberger noch einmal heiraten. Er hält Ausschau nach der Richtigen, doch es scheitert schon beim Ansprechen, er ist zu schüchtern. Es gab Frauen in seinem Leben, doch nichts Beständiges, die längste Beziehung hielt fünf Jahre. Gemeinsam trocken Seit die letzte Liebschaft in die Brüche ging, sind Alfred, Roland und Klaus seine Familie. Mit ihnen sitzt er stundenlang zusammen beim Binokel, einem schwäbischen Kartenspiel, das man entweder schnell begreift oder nie versteht. Mehrmals die Woche trifft sich die Männerrunde im «Sozialen Wohnzimmer», einer Mischung aus Café und Rumpelkammer unweit des Stadtzentrums. An der giftgrünen Wand lehnt ein Porträt, das Hemingway zeigt, von der Decke hängen goldene Girlanden, hinter einer Glas­ tür verstauben Gläser im Wohnzimmerschrank. Spannenberger stellt die Tüte mit seinen Flaschen am Eingang ab. Alfred Stähle, ein kleiner Mann mit Schnauzbart und Lachfalten, springt von seinem Stuhl auf, schüttelt ihm die Hand. «Eine Cola, wie immer?» Früher haben die beiden nach dem Fussballtraining gemeinsam gezecht. Heute sind sie gemeinsam trocken. Die Worte, die sich Spannenberger spart, gibt Stähle grosszügig aus. «Am Ende ging es nicht mehr um Fussball, sondern nur noch ums Saufen», sagt er. Stähle ist Betreiber des «Sozialen Wohnzimmers» und ehrenamtlicher Suchtberater. Dass Heinz ohne Therapie gegen den Alkohol gesiegt hat: Respekt, sagt er. «Dafür braucht man einen starken Willen.» Spannenberger lächelt mit gesenktem Blick. Später, auf dem Weg zurück in die Bahnhofskneipe, die ihn anzieht wie ein Magnet, sagt er: «Wenn’s die Leute so sagen, wird’s auch stimmen.» In der Kneipe holt er am Tresen ein Schachbrett und setzt sich zu einem Freund, Andreas heisst er. Sobald die 32 Figuren stehen, tunnelt sich Spannenbergers Blick, sein Kopf spielt die nächsten vier möglichen Züge durch. Das Spiel, das ohne Worte auskommt, ist Spannenbergers neuer Sport nach dem Fussball. Maximale Konzentration statt maximaler Rausch. Für seinen Schachclub tritt er regelmässig bei Turnieren an. Zwei Tage dauerte seine längste Partie. Die Spielzüge, die ihm sein Vater beigebracht hat, gab er vor zehn Jahren an Andreas weiter. Was er im Leben nicht geschafft hat, beherrscht Spannenberger bei diesem Spiel: den nächsten Schritt überlegen, Risiken abwägen, die Lage kontrollieren. Er zieht seine Dame diagonal über das Feld. Ein gewagtes Manöver. Denn er weiss, er wird sie jetzt verlieren. Aber er weiss auch, er kann immer noch gewinnen. 21


FOTOS: ALEX UROSEVIC

Sorgfältiger könnte man kein Bühnenbild einrichten: Spanische und italienische Quartierbewohnerinnen und -bewohner treffen sich im Punto d`Incontro an der Zürcher Josefstrasse.

Ist die Quartierbeiz eine Bühne? Audiowalk Migration, Sexarbeit, Sucht – davon erzählen uns Menschen im Zürcher Kreis 5. Sie sind die, die ein Quartier mehr prägen als Gebäude und Strassen. TEXT  NORA ZUKKER

In der Zürcher Photobastei werde ich meine Kopfhörer bekommen. Danach laufe ich für 80 Minuten von der Langstrasse bis zum Röntgenplatz, vom Sihlquai bis zum Kino Riffraff durch den Zürcher Kreis 5. In einem Buchladen wird mir eine Frau begegnen. Für einen Moment werde ich nicht wissen: Ist der Buchladen eine Bühne? Gehört die Frau zum Stück? Über die Kopfhörer wird mir diese Frau von ihrem früheren Leben als Sans Papier erzählen. Heute hat sie einen geregelten Status. Aber immer ist sie gerannt, wenn sie draussen war und versteckte sich anschliessend in ihrer Wohnung. Dort hat sie gelesen, unzählige Bücher, für die sie ihr ganzes Geld ausgegeben hat. Später werde ich zu einem Kletterareal gelangen. Dort wird Hans Peter Meier sein, den man als Surprise-­ Verkäufer und Stadtführer kennt. Er wurde obdachlos, nachdem er in die Alkoholsucht rutschte. Wir denken: Diese Geschichte kennen wir. Dass er aber Extrembergsteiger war, das wissen wir nicht. Woher auch? Wann hätte er uns diese Geschichte erzählen können? «Hans Peter Meier war früher IT-Spezialist. Als ich zudem erfahren habe, dass er als Jugendlicher Extrembergsteiger war und in den Biwaks in der Bergwand über 22

Philosophen wie Kant, Laotse oder Konfuzius nachdachte, sah ich ihn nochmals ganz anders», sagt Isabelle Stoffel, die Regisseurin der Produktion «Kreis 5». Stoffel deckt auf, wie viel komplexer Lebensläufe sind, als uns die auf Anhieb sichtbaren Rollenbilder glauben machen könnten. «Mich interessieren die Menschen mit ihren Geschichten viel stärker als irgendwelche Theaterrollen», sagt sie und macht damit klar: Theater ist eine Form, die sich der Welt öffnen soll und kann. So werden Stigmata, die Menschen in einem «Problemquartier» kennen, zur Grundlage einer künstlerischen Form. «Auf einer Bühne sehen wir oft Menschen, die weiss sind und geschliffen reden. Aber ich möchte andere Stimmen hörbar machen. Etwa ein junger Mann aus Eritrea, der übers Mittelmeer kam. Natürlich kennen wir die Bilder der Boote. Aber was es bedeutet, durch die Wüste zu laufen, erfahren wir nur durch persönliche Geschichten. Oder was es heisst, nach der Flucht solange in einem Schweizer Militärbunker zu leben, bis klar ist, wohin es weiter geht.» Im Kreis 5 leben Menschen mit Wurzeln in 79 Ländern. Sie prägen die Gesellschaft. Aber sie können nicht mitreden. Gleichzeitig erwarten aber wir aber von ihnen, dass Surprise 447/19


«Alle reden von Durchmischung. Und doch müssen die Menschen mit weniger Geld wegziehen.» ISABELLE STOFFEL , REGISSSEURIN

sie unsere Kultur verstehen. In der Schweiz leben gesamthaft zwei Millionen Ausländer. Isabelle Stoffel will nicht nur ihre Stimme hörbar machen, sondern auch Gegensteuer geben, weil sie die mediale Berichterstattung als undifferenziert wahrnimmt: «Einige Medien setzen zum Beispiel Flucht und Migration gleich. Das sind Verallgemeinerungen, die schnell zu einem polemischen Diskurs führen können. Möglicherweise haben sie auch kein anderes Ziel, als Begriffe wie <Überfremdung> zu etablieren und Angst zu schüren. Für das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft ist aber eine differenzierte Betrachtung nötig.» Die, die das Quartier prägen Und so ist die Regisseurin nach den Gesprächen mit ihren Protagonistinnen und Protagonisten losgezogen und hat für jede Geschichte eine passende Bühne gesucht, in Aussen- und Innenräumen. Nicht nur dort, wo wir unbedingt eine Sexarbeiterin erwarten würden, genauso wird ein ehemaliger Drogensüchtiger nicht nur in der Nähe des Platzspitz stehen. Isabelle Stoffel hat aber gerade durch den Platzspitz Überraschendes entdeckt: «Ich habe bei der Recherche gemerkt, dass sich die Nachbarn im Quartier nach der Schliessung des Platzspitzes gegen die damals regressive Drogenpolitik solidarisiert haben. Aus ihrer Hilfe sind zahlreiche Anlaufstellen entstanden, die heute staatlich weitergeführt werden. Das macht Hoffnung.» Der Kreis 5 steht auf der Kippe, was die Gentrifizierung angeht. Im Moment gibt es hier noch Genossenschaftswohnungen, aber es wird nur eine Frage der Zeit sein, bis auch diese verschwinden. Und mit ihnen die Menschen, die dieses Quartier geprägt haben. Ein weiterer Grund für Surprise 447/19

Tontechnikerin Ilana Walker mit Schauspielerin Mona Petri (rechts): Petri hat mit der Regie zusammen auch das Konzept erarbeitet.

die Regisseurin, den Live-Audio-Walk hier spielen zu lassen: «Bei der Gentrifizierungsdiskussion frage ich mich immer wieder: Braucht es nicht bessere Regeln, um den entfesselten Kapitalismus zu bändigen? Alle reden von gesellschaftlicher Durchmischung. Aber ohne gesetzliche Grenzen kommt es doch wieder dazu, dass die Mieten in attraktiven Quartieren so weit steigen, dass Menschen mit weniger Geld wegziehen müssen. Vielleicht sind sie aber genau die, die das Quartier interessant gemacht haben. Die Verdrängung aus den zentralen Quartieren kann anderseits aber auch dazu führen, dass am Stadtrand soziale Brennpunkte entstehen.» Migration, Sexarbeit, Aufenthaltsstatus oder Sucht lassen sich in Geschichten packen. Ein Thema wie die Gentrifizierung ist dagegen nicht leicht zu bespielen. ­Dafür finden im Anschluss an die Audio-Walks Podiumsdiskussionen statt. An allen zehn Aufführungsterminen wird also auch reflektiert und diskutiert. Auf der Bühne stehen dann die Protagonistinnen und Protagonisten des Rundgangs – zusammen mit Menschen aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft. «Mein starker Wunsch ist es, die persönlichen Geschichten in den gesellschaftlichen Kontext zu stellen», sagt Stoffel. Die Kraft des Theaters ist, einen Diskurs eröffnen zu können. Damit wir künftig vielleicht achtsamer auch durch andere Quartiere laufen – und die Grenzen zwischen uns und den vermeintlich anderen feiner werden. «Kreis 5» – ein Live-Audio-Walk ums sogar theater, mit Mona Petri, Do, 4. April bis So, 14. April, Treffpunkt Photobastei, Sihlquai 125, Zürich sogar.ch 23


FOTOS: CINEWORX

Gefangen im versteinerten Europa Kino In Nicola Belluccis Spielfilm «Il mangiatore di pietre» versucht ein

aus dem Gefängnis entlassener Schlepper, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen. TEXT  MONIKA BETTSCHEN

Erdrückende Perspektivenlosigkeit liegt auf dem winter­ lichen Bergtal im Piemont und lastet schwerer als die di­ cke Schneedecke auf den Bewohnern. Man hält sich mehr schlecht als recht mit Landwirtschaft oder dem Handel mit Granitplatten über Wasser. Daher ist die Versuchung gross, ins Geschäft der Schlepper, Schleuser und Drogen­ schmuggler mit einzusteigen, und die örtliche Polizei drückt gegen Bezahlung beide Augen zu. Der sensible Sergio (Vincenzo Crea), der mit seinem verhärmten Vater einen Bauernhof bewirtschaftet, leidet besonders unter den rauen Gepflogenheiten im Dorf und sehnt sich nach einem Leben weit weg. Als er auf der Su­ che nach einer entlaufenen Kuh eine Gruppe Migranten mit einem Baby entdeckt, die in einer Alphütte zurückge­ lassen wurden, beschliesst er, ihnen zu helfen. Und er weiss genau, an wen er sich dafür wenden muss: Cesare, ein wortkarger verwitweter Schlepper, zu dem er auf­ schaut und der gerade eine Gefängnisstrafe abgesessen hat. Eigentlich möchte Cesare nichts mehr mit diesem Geschäft zu tun haben, das immer stärker mit der Drogen­ 24

mafia verknüpft ist und deshalb nicht mehr mit seinem persönlichen moralischen Kompass übereinstimmt. Aber kurz nach seiner Haftentlassung wird sein Neffe Fausto erschossen, dem er einst das Schleuserhandwerk beige­ bracht hat. Und Sergio erzählt ihm von den auf der Alp festsitzenden Flüchtlingen. Seine von Verlust und Schuld überschattete Vergangenheit holt Cesare ein. Das Gefühl des eigenen Identitätsverlustes Der italienische Regisseur Nicola Bellucci verknüpft die Schicksale des jungen, aufbegehrenden Sergio, des resi­ gnierten Cesare und der gestrandeten Migranten zu einer untrennbaren Einheit. Der Film basiert auf dem Roman «Der Steingänger» des italienischen Autors Davide Longo. Er ist sowohl Thriller als auch Drama und weist einige Western-Elemente auf. Luigi Lo Cascio spielt die Rolle des einsamen Wolfs Cesare mit Ruhe und Würde. Er ist zum Aussenseiter in einem gesetzesfeindlichen Umfeld geworden, dem er einst angehörte und dessen härter ge­ wordene Regeln er nicht mehr versteht. «Ich war müde, Surprise 447/19


Scheiden tut weh Buch Der kleine Advokat Juris erklärt Kindern auf anschauliche Weise, welche Rechte sie haben, wenn sich die Eltern trennen. Gemäss Bundesamt für Statistik wurden 2016 bis 2018 in der Schweiz durchschnittlich 16 000 Ehen pro Jahr geschie­ den. Betroffen waren davon aber nicht nur die jeweiligen Partner, sondern jährlich auch um die 12 000 unmündige Kinder. Dass solche Trennungen gütlich stattfinden, ist dabei allzu oft ein Wunschtraum. Rosenkriege sind auch hierzu­ lande an der Tagesordnung. Die Leidtragenden sind nicht zuletzt die Kinder, um die nicht selten mit harten Bandagen gekämpft wird. Die Verletzungen, die Kinder bei Scheidungen oder auch «nur» Trennungen davontragen, prägen ihr Leben und können es nachhaltig beschädigen. Umso wichtiger ist es, dass sie verstehen können, was da eigentlich abläuft. Das Autorenteam Monika Spring und Patrick Fassbind stellt nun allen betroffenen Kindern mit Juris ein schlaues Kerlchen an die Seite, das sich bestens mit Rechten aus­ kennt. Die Kinder in seiner Schule nennen ihn deshalb «den kleinen Advokaten» und können sich an ihn wenden, wenn sie Rat brauchen. Etwa Leo, dessen Eltern sich scheiden lassen, und Nina, deren Eltern nicht verheiratet sind und die einen Sozialarbeiter als Beistand hat. Juris führt seine Freunde geduldig durch den Gesetzesdschungel. Er erklärt ihnen, was Rechte sind und wer wel­ che Rechte hat, welche Rolle Anwälte und Gerichte spielen oder auch die KESB, die Kindesschutzbehörde. Und zeigt ihnen auf, worum es bei all dem geht: um die beste Lösung für die Kinder, um das Kindeswohl, das gemeinsam mit beiden Eltern erreicht werden soll. Eines steht dabei stets im Vordergrund: Auch wenn Erwachsene entscheiden, weil es Kindern noch an der nötigen Urteilsfähigkeit fehlt, haben Kinder dennoch Rechte. Sie haben das Recht, ihre Meinung zu äussern, gehört zu werden, mitzureden. Sie haben das Recht, zu sagen, was sie wünschen, was ihnen weh tut, und sie dürfen auch laut «Stopp!» sagen. Nicht zuletzt, wenn ihnen Schaden zugefügt wird. Insofern ist es folgerichtig, dass auch Gewalt gegen Kinder angesprochen wird. Kör­ perliche und seelische Gewalt bis hin zum Missbrauch, die alle das Kindeswohl gefährden. «Juris erklärt dir deine Rechte» stellt eine komplexe Ma­ terie anschaulich dar. Das bunt illustrierte Büchlein klärt auf spielerische Weise auf und ist vielseitig einsetzbar: als Ratgeber für Kinder und ihr familiäres Umfeld, als Lehrmit­ tel in Schulen oder als Hilfsmittel für Behörden, Kinder­büros u.a. Es ist zu wünschen, dass möglichst viele Kinder einen so kompetenten kleinen Advokaten haben.

Keine innere Heimat mehr: Luigi lo Cascio als Cesare ist aber nicht der einzige Gestrandete im Bergtal.

Nicola Bellucci: «Il mangiatore di pietre» CH/I 2019, 109 Min., mit Luigi Lo Cascio, Vincenzo Crea, Ursina Lardi, u.a. Läuft ab 4. April im Kino. Surprise 447/19

FOTO: ZVG

die anderen waren jung und hatten bessere Beine», ant­ wortet er einer Frau, die ihn vor seiner Entlassung in der Haft besucht und sagt, sie habe gehört, er habe sich fest­ nehmen lassen, damit die anderen fliehen konnten. Der Schweizer Kameramann Simon Guy Fässler, der bereits beim Dokumentarfilm «Grozny Blues» 2015 er­ folgreich mit Nicola Bellucci zusammengearbeitet hat, schafft eine frostige Atmosphäre, in der die Beschwer­ lichkeit des Alltags in einer abgehängten Bergregion ein­ drucksvoll zur Geltung kommt. Es sind Bilder, die Respekt aufkommen lassen für jene, die noch immer hier aushar­ ren. Aber es sind auch Aufnahmen, die Verständnis wecken für junge Menschen wie Sergio, die sich in diesem Umfeld keine Zukunft vorstellen können. Genau an diesem Punkt beginnt der Film, die Grenze der erzählten Geschichte zu sprengen und den Bogen zur aktuellen Flüchtlingskrise zu spannen, der sich der alte und alt gewordene Kontinent Europa heute gegenüber­ sieht. Auch die Migranten, die auf der Alp festsitzen und darauf hoffen müssen, dass eine gnädige Seele sich ihrer annimmt, haben auf der Suche nach einem besseren Le­ ben ihre Heimat verlassen. Man fragt sich, was sie wohl dazu sagen würden, dass auch viele Europäer mit ihren Lebensumständen hadern. Dass auch Europa im Zuge der Urbanisierung in seinen entlegenen Regionen langsam versteinert. Landflucht und Flucht aus den Krisengebieten dieser Welt können sich aus ähnlichen Quellen nähren und in vergleichbare Erfahrungen münden. Ins Gefühl der Heimatlosigkeit etwa. «Wir überschreiten ständig Grenzen, sowohl physisch als auch metaphorisch. Aber als Gesellschaft sind wir da­ bei, immer neue Grenzen zu schaffen», lässt sich Nicola Bellucci, der seit vielen Jahren in der Schweiz arbeitet, im Pressedossier zum Film zitieren. «Das Gefühl des eigenen Identitätsverlustes schafft zum Beispiel Grenzen. Und genau gegen diese Grenzen müssen wir uns als Gesell­ schaft wehren. Denn eigentlich wissen wir alle, was zu tun wäre, aber wir sind zu gefangen unter einer Glasglo­ cke und gekettet an ein unvermeidliches Schicksal.»

CHRISTOPHER ZIMMER

Monika Spring & Patrick Fassbind: «Juris erklärt dir deine Rechte.» Kinderrechte bei einer Trennung oder Scheidung und Kindesschutz. Baeschlin 2018. CHF 11.90

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Thun «Extraordinaire! Unbekannte Werke aus psychiatrischen Einrichtungen in der Schweiz um 1900», Ausstellung, bis So, 19. Mai, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Mi 10 bis 19 Uhr, Kunstmuseum Thun, Thunerhof, Hofstettenstrasse 14. kunstmuseumthun.ch

Die Ausstellung «Extraordinaire!» ist aus einem Forschungsprojekt der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK entstanden, das einen Überblick über alle erhaltenen künstlerischen Arbeiten schaffen sollte, die um 1900 in psychiatrischen Anstalten entstanden sind. Dazu wurden Krankenakten und historische Sammlungen von 18 kantonalen Anstalten nach Patientenwerken durchsucht. Die Patientinnen und Patienten verstanden ihre Werke als Beitrag zum öffentlichen Leben, als Erkundung oder Ausdruck ihrer Gedanken, als Kritik an der Anstalt oder als Bereicherung in einem monotonen Alltag. DIF

Bern «Sounds of Silence – eine Ausstellung zu Stille», bis So, 7. Juli, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Museum für Kommuni­kation, Helvetiastrasse 16. mfk.ch

«Stille ist nichts für Feiglinge»: Das sagt der Jesuit und Zen-Meister Niklaus Brantschen, als Experte für die Stille hat er an einer CD mitgewirkt, die als Begleitpublikation zur Ausstellung erschienen ist. Die

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Stille ist eine Herausforderung. Interessant eigentlich, wo doch die Grundenergie eines heutigen Alltags ein Blinken, Aufpoppen und Um-Aufmerksamkeit-Schreien ist. Aber es ist so, wer sich der Stille aussetzt, wird eben nicht mehr abgelenkt durch so allerlei, sondern muss sich mit sich selbst beschäftigen. Das Museum für Kommunikation setzt uns dem aufmerk­ samen Hinhören aus – und bietet auch Begleitveranstaltungen an. Zum Beispiel einen Ausflug in einen echofreien Raum im Eidgenössischen Institut für Meteoro­ logie in Wabern am Di, 9. April von 18.30 bis 19.30. Gratis, aber eine Anmeldung ist obligatorisch unter communication@mfk.ch. DIF

Liestal «SpielZeit», Spiel- und Gamenachmittage, «Escape Room», Do, 4. April, 15 bis 17.30 Uhr, «Brettspiele», Do, 11. April, 15 bis 17.30 Uhr, «Konsolen», Do, 26. April, 15 bis 17.30 Uhr, Kantons­ bibliothek Baselland, Emma Herwegh-Platz 4 kbl.ch

Noch im April finden in der Kantonsbibliothek Baselland Spielenachmittage statt, die von analog bis digital reichen. Vielleicht bietet die Veranstaltung «Escape Room» eine bessere Gelegenheit für ratlose Eltern, um herauszufinden, was die Kinder digital so tun, als wenn sich diese mit dem Laptop im ihrem Zimmer verschanzen. «Escape Room» ist ein Adventure Game, das es als Browserspiel gibt, aber auch analog in einer Kartonschachtel oder als Gruppenspiel in einem realen Raum. Wobei bereits die harmlos anmutende Kartonschachtelvariante viel Spürsinn, Ideenreichtum und Ausdauer erfordert. Das Spiel nimmt es mit der Logik erstaunlich genau und führt den Spieler immer möglichst um sieben Ecken herum zur Lösung. Zur Erholung gibt’s in den zwei Wochen drauf Brettspiele und Konsolenspiele. DIF

Aarau «Im Visier», Ausstellung, bis 26. Mai, Mi, Fr, Sa 12–17 Uhr, Do 12–20 Uhr, So 11–17 Uhr, Forum Schlossplatz, Schloss­ platz 4. forumschlossplatz.ch

Kaum ein anderes Objekt vermag derart zu polarisieren wie die Schusswaffe. Sie ist Kriegsinstrument und Sportgerät, sie steht als Symbol für Freiheit, für Macht und für Vernichtung. Im Welthandel und auf dem Schwarzmarkt nimmt sie eine substanzielle Rolle ein. Sie gefällt auch als dekoratives Element, und manch ein Modell erlangt gar Kultstatus. Nicht zuletzt die Verbindung von Ästhetik und Gewalt macht den Revolver, die Pistole, das Gewehr zum gesellschaftlich «heissen Eisen». Unabhängig von unserer Haltung gegenüber diesem polarisierenden Objekt sind Waffen in unserem Alltag omnipräsent, sei es in den Medien, in Filmen oder Games. Es erstaunt daher wenig, dass die Feuerwaffe auch als Motiv in der Kunst prominent in Erscheinung tritt. Die Ausstellung diskutiert

unsere paradoxe Beziehung zu diesem mehrdeutigen Objekt, Werke namhafter Künstlerinnen und Künstler wie Harun Farocki und Sylvie Fleury nehmen das Thema ins Visier. Am Donnerstag, 25. April, 19.15 Uhr, ist der südafrikanische Künstler und Filmemacher Ralph Ziman mit einem Screening und Gespräch zu Gast. Er legt den Finger auf Waffenhandel, Kindersoldaten, Trophäenjagd und die Folgen der Apartheid. EBA

Aarau «Collection de l’Art Brut – Kunst im Verborgenen», Ausstellung, bis So, 19. Mai, Di bis So, 10 bis 17 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, Aargauer Kunsthaus, Aargauerplatz. aargauerkunsthaus.ch Wer die Ausstellung in Thun besucht hat (siehe Hinweis auf dieser Seite), geht nach Aarau. Oder umgekehrt. Das Aargauer Kunsthaus zeigt bekannte Vertreter der Art Brut wie Adolf Wölfli oder Aloïse Corbaz. Geprägt hat den Begriff Art Brut der französische Maler Jean Dubuffet: für Kunst, die intuitiv und autodidaktisch fernab des offiziellen Kunstbetriebs entstanden ist (auch, aber nicht nur in psychiatrischen Betreuungseinrichtungen). Schon seit einigen Jahren gibt’s einen kleinen Hype um die «Outsider Art», wie sie auch genannt wird, und ihr Bezug zur Schweiz ist besonders eng: Dubuffet entdeckte 1945 die Schweiz als Feld seiner Sammler- und Forschungstätigkeit. Das Aargauer Kunsthaus zeigt Schweizer Künstler von Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute, die Werke kommen aus der Collection de l’Art Brut in Lausanne und aus dem eigenen Bestand: Sie erzählen von Natur, Architektur oder Religion. DIF

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BILD(1): SAMMLUNG HERISAU O.INF. NR. KB-018299/S1, BILD(2): MUSEUM FÜR KOMMUNIKATION / DIGITALEMASSARBEIT, BILD(3): KEN KASHIAN/CLAIRE LIEBERMAN, BILD(4): OLIVIER LAFFELY, ATELIER DE NUMÉRISATION – VILLE DE LAUSANNE

Veranstaltungen


ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 30

Coach cool Was bisher geschah: Ihre Ermittlungen im Fall eines ermordeten Joggers führen Vera Brandstetter ins Fitnesscenter. Der heisse Coach kühlt deutlich ab, als er ihren Beruf erfährt. «Was heisst hier ‹oh›?», fragte Brandstetter. «Nichts. Du siehst einfach nicht aus wie eine Polizistin.» Bevor sie fragen konnte, wie Polizistinnen denn aussähen, brachte er sie zu den Geräten hinüber. «Fangen wir mit der Beinpresse an.» Befriedigt stellte sie fest, dass sie noch immer ziemlich Saft hatte. Genug, um Chris ein anerkennendes Raunen zu entlocken. Sein professioneller Charme hatte allerdings einen Dämpfer erlitten, seit er wusste, dass sie bei der Polizei war. «Bist du über meinen Beruf erschrocken, weil du eine Affäre mit der Frau hast, deren Ehemann ermordet wurde?», fragte sie, während sie in einer Maschine sass, in der sie die Beine spreizen und mit Krafteinsatz zusammendrücken musste. Chris schaute sich nervös um. Die meisten Leute, die an Maschinen trainierten, trugen Kopfhörer. «Ich rede von Olena Schwander-Rudenko», half sie ihm auf die Sprünge. «Ist das hier ein Probetraining oder ein Verhör?» «Warum nicht das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden? Oder willst du lieber auf den Posten kommen?» «Ich habe nichts mit seinem Tod zu tun.» «Seit wann läuft die Affäre?» «Drei Monate ungefähr. Es war keine Affäre, es ging nur um Sex. Sie hätte ihren Mann nie verlassen. Nur weil er sie seit einem halben Jahr nicht mehr angefasst hat, hat sie sich einen Liebhaber genommen. Wir gingen meist zu mir. Im Bett war sie …» «Das will ich nicht wissen», unterbrach ihn Brandstetter und beendete die Übung. «Wie alt bist du?» «28, warum?» «Nur so.» Wie hiessen in den Serien die Frauen mit den jüngeren Liebhabern? Cougars oder so etwas. «Hat sie gesagt, warum ihr Mann nicht mehr mit ihr schläft?» «Sie hat ein paar Andeutungen gemacht, Stress bei der Arbeit und so was. Sie hätte die Sache mit mir sofort abgebrochen, wenn er wieder aktiv geworden wäre.» Surprise 447/19

«Wie geht es jetzt weiter mit euch?» «Gar nicht. Ich habe Schluss gemacht.» «Wieso das?» «Sie ist nicht mehr gebunden. Ich möchte nicht, dass sie sich falsche Hoffnungen macht. Es ist ja nicht so, dass wir exklusiv waren, und eine Beziehung stand für mich nie zur Debatte.» «Du hast sie eiskalt abserviert, als es ihr schlecht ging?» «Ja, sorry, ich musste. Letztes Mal als wir uns trafen, hat sie mir die Ohren vollgeheult und wollte bei mir übernachten. Ich meine, hallo? Das war nie Part of the deal.» Er sah auf die Uhr, es war zehn vor elf Uhr. «Wenn du Mitglied werden wirst, stelle ich dir ein Programm zusammen.Wegen der Mitgliedschaft wendest du dich an Bianca.» Er brachte sie zum Tresen und verabschiedete sich kühl. Sie sah ihm nach, wie er sein strahlendes Lächeln wieder einschaltete, als er einer Brünetten zu Hilfe eilte, die auf dem Rücken unter einer Hantel lag. «Na, wie war es?», fragte Bianca und zog, ehe Brandstetter antworten konnte, ein Anmeldeformular hervor. «Wir hätten da ein Superangebot, die ersten zwei Monate kriegst du beim Abschluss eines Jahresabos geschenkt, dazu noch die zehn Prozent, das heisst …» Sie strahlte, als hätte sie eines der grossen Probleme der Menschheit gelöst. «Für rund 100 Franken im Monat bist du dabei! 14 Monate 1450 Franken, das ist doch super.» «Also gut.» Brandstetter gefiel es hier besser als bei der Fitnesskette, in deren Filiale sie zuvor trainiert hatte. Das Elite-Fit war ein unabhängiger Familienbetrieb, davon gab es nicht mehr viele. Wer weiss, dachte sie, vielleicht würde sie ja auch bald zu den Seriösen gehören und ihre Abende hier statt zuhause auf dem Sofa verbringen. «Wenn du mir das Mitglied nennst, das dich auf uns aufmerksam gemacht hat, kriegt es einen Gratismonat.» «Das war Olena Schwander.» Bianca blickte auf den Bildschirm und runzelte die Stirn. «Komisch, die hat ihr Abo gestern per sofort gekündigt, dabei ist es noch vier Monate gültig. Schade. Vielleicht überlegt sie es sich ja anders, wenn sie weiss, dass du jetzt auch herkommst.» Brandstetter lächelte. «Darauf würde ich nicht wetten.» Eine halbe Stunde später stand sie vor Olena Schwanders ­Wohnungstür. STEPHAN PÖRTNER  schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher

erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi 27


IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

02

Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

03

Physiopraxis M. Spring/S. Zeugin, Basel

04

Maya-Recordings, Oberstammheim

05

Cantienica AG, Zürich

06

Madlen Blösch, Geld & so, Basel

07

Schluep & Degen, Rechtsanwälte, Bern

08

Ozean Brokerage & Shipping AG, Muttenz

09

Beat Vogel, Fundraising-Datenbanken, Zürich

10

InhouseControl AG, Ettingen

11

Infopower GmbH, Zürich

12

Büro Dudler, Raum- und Verkehrsplanung, Biel

13

Hedi Hauswirth Psychiatrie-Spitex, Oetwil a. S.

14

SISA Studio Informatica SA, Aesch

15

Stellenwerk AG, Zürich

16

grafikZUMGLUECK.CH, Steinmaur

17

Waldburger Bauführungen, Brugg

18

Volonté Ofenbau, Schwarzbubenland

19

CISIS GmbH, Oberwil

20

RLC Architekten AG, Winterthur

21

Sternenhof, Leben und Wohnen im Alter, Basel

22

Praxis für die Frau, Spiez

23

Fontarocca Brunnen + Naturstein, Liestal

24

OpenTrack Railway Technology GmbH, Zürich

25

Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 | Vermerk: SurPlus Oder Einzahlungsschein bestellen: T +41 61 564 90 90 info@surprise.ngo | surprise.ngo/spenden Herzlichen Dank!


Wir alle sind Surprise Korrigendum

#441: Was sind wir ohne Arbeit?

Im Artikel «Wie man Menschen von der Strasse holt» aus Ausgabe #445 ist uns ein Fehler unterlaufen. Die Wohn- und Arbeitsgemeinschaft Suneboge ist kein Teil des Sozialwerks Pfarrer Sieber, sondern ein unabhängiger, eigenständiger Verein.

«Zum Glück noch fit»

Schade – die Verfasserin des Artikels bringt es nicht fertig festzustellen, dass durch die grosszügige Spende das Leben der jungen Frau gerettet werden kann. Stattdessen nutzt sie die Gelegenheit zum SVP-Bashing. Aus der Sicht von Marie Baumann wäre es offenbar besser gewesen, Nationalrat Thomas Matter hätte das Geld behalten – mit möglicherweise fatalen Folgen für die kranke Frau!

Früher war es so, dass der Arbeitnehmer oder die Arbeitnehmerin bis zur Pensionierung beim gleichen Arbeitgeber arbeitete und geschätzt wurde. Heute ist dies nicht mehr vorstellbar. Wer 50 und älter ist, bekommt kaum noch eine Stelle. Insgesamt arbeitete ich mehr als 20 Jahre in einem Heim für Mehrfachbehinderte in der Ostschweiz, bis ich 2014 gehen musste. Man stellte mir eine IV-Rente in Aussicht, was jedoch nicht klappte. Zum Glück bin ich noch fit. 2012 begann ich die Ausbildung zum Kunsttherapeuten. Diese schloss ich 2016 ab. Nun arbeite ich als freiwilliger Mitarbeiter in zwei Altersheimen in Teufen, was mir grosse Freude und Befriedigung bereitet. Die Bewohnerinnen und Bewohner freuen sich, wenn ich komme. Beim Malen und Gestalten blühen sie auf. Daneben koche ich für einen Mittagstisch, was mir auch gefällt. Ich koche gerne mit sehr viel Fantasie. Es ist eine spezielle Aufgabe, man weiss nie, wie viele Leute zum Mittagessen kommen. Jeden Dienstag, wenn es geht, begleite ich eine alte Dame gegen Bezahlung in die Stadt. Sie hat grosse Sehschwierigkeiten und ist auf einen Rollator angewiesen. Da gibt es immer wieder neue Hindernisse zu überwinden. Am Abend ist sie froh, wenn ich ihr noch Nudeln mit Spiegelei und viel Käse koche. Danach gehe ich befriedigt nach Hause.

C. ROTHENBÜHLER,  ohne Ort

R. SCHELLENBERG,  St. Gallen

DIE REDAK TION

#445: All Inclusive

«Gelegenheit zum Bashing»

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Surprise 447/19

Ständige Mitarbeit
 Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Christina Fleischmann, Marco Frauchiger, Lucia Hunziker, Emily Piwowar, Conradin Zellweger, Nora Zukker Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise, nur mit Geneh­ migung der Redaktion. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. Gestaltung und Bildredaktion Bodara GmbH, Büro für Gebrauchsgrafik Druck  AVD Goldach Papier  Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage  26 800 Abonnemente  CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto:
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FOTO: LUCIA HUNZIKER

Surprise-Porträt

«Besser als in Barcelona» «Mein Vater arbeitete als Strassenwischer in Barcelona. Als ich sieben Jahre alt war, holte er mich und meinen Bruder aus Gambia, wo wir bei meiner Mutter lebten. In Barcelona besuchte ich die Regelschule nur ein Jahr lang, danach schickte mich mein Vater in eine Koranschule. Mein ­Vater ist sehr religiös, und ich ging ihm zuliebe hin. Interessiert hat mich die Religion nicht. Ich wollte I­ ngenieur werden, nicht Imam. Doch das konnte ich mit meiner Schulbildung vergessen. Also machte ich mit 16 eine Schweisserlehre und arbei­ tete danach jahrelang in einer Fabrik. Als mein Chef vor drei ­Jahren an Krebs starb, wurde der Betrieb geschlossen, und ich stand auf der Strasse. In Barcelona war es damals schwierig, eine Stelle zu finden. Ich habe die spanische Staatsbürgerschaft und beschloss nach einer Weile, mein Glück wie viele meiner Landsleute in der Schweiz zu versuchen. ­Zuerst lebte ich ein halbes Jahr in Lausanne, dann kam ich nach Basel. Das ist jetzt genau ein Jahr her. Es ist schwer, als Schweisser eine Arbeit zu finden, wenn du die Sprache nicht kannst. Du musst genau verstehen, was die Leute von dir wollen, damit du keine Fehler machst. Bis ich genug Deutsch kann, so sagte ich mir, verdiene ich mein Geld auf andere Art. Ein Freund von mir erzählte mir von Surprise, und ich dachte, das könnte zu mir passen. Ich mag es, mit Menschen ins Gespräch zu kommen, zu lachen und ­jeden Tag etwas anderes zu erleben. Deshalb bin ich ein sogenannter Flyer. Das heisst, dass ich keinen ­festen Verkaufsplatz habe, sondern an allen Surprise-­ Standplätzen in Basel und Umgebung arbeiten kann – vorausgesetzt, es ist nicht bereits ein anderer Verkäufer oder eine andere Verkäuferin da. Die Schweizer sind sehr offene Menschen, die Schweizerinnen noch mehr. Mir gefällt es hier besser als in Barcelona, und es geht ständig ein bisschen ­vorwärts. Vor Kurzem habe ich eine Stelle als Tellerwäscher in der Klara bekommen, einem grossen ­Restaurant mit verschiedenen Essensständen in Kleinbasel. Ich ­arbeite zwar nur als Aushilfe, aber es ist ein Fortschritt. Auch mein Deutsch ist dank des Kurses, den ich be­ suche, ein bisschen besser geworden, aber es könnte noch viel besser sein. Mein Ziel ist immer noch, wieder als Schweisser arbeiten zu können. Schwierig für mich sind die hohen Preise in der Schweiz. Ich habe zum Beispiel keine Chance, mir eine Wohnung zu leisten. Deshalb lebe ich in einem Wohn30

Abdoulie «Abou» Gikineh, 38, verkauft Surprise in Basel. Er hofft, bald genug Deutsch zu können, um wieder als Schweisser arbeiten zu können.

wagen ennet der Grenze in Hüningen. Es ist nicht immer angenehm, vor allem im Winter, aber es ist das, was ich habe. Noch schwieriger für mich ist, dass ich meine Kinder nur sehr selten sehe. Meine Buben sind Zwillinge und leben in Gambia bei ihrer Mutter. Sie heissen Lasano und Useni, sind 14 und besuchen eine englischsprachige Schule. Mir ist es wichtig, dass sie eine gute Bildung bekommen, damit sie später mehr Möglichkeiten haben als ich. Mit dem Einkommen in Barcelona konnte ich es mir fast jedes Jahr leisten, für ein paar Wochen in die Heimat zu fliegen. Das ist im Moment nicht möglich. Drei Jahre war ich jetzt schon nicht mehr bei meinen Söhnen. Aber ich telefoniere täglich mit ihnen und erzähle ihnen von meinen Erlebnissen und sie mir von ihren. So bleiben wir verbunden. Die Hoffnung auf das Wiedersehen spornt mich tagtäglich an bei der Arbeit. So, wie es aussieht, geht diese Hoffnung schon bald in Erfüllung. Bereits in den nächsten Tagen werde ich nach Barcelona fliegen und plane, von dort aus weiter nach Gambia zu reisen. Es ist noch nicht ganz sicher, ob es klappt. Aber ich gebe alles dafür, dass ich Lasano und Useni bald wieder in die Arme schliessen kann.» Aufgezeichnet von GEORG GINDELY Surprise 447/19


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SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

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SOZIALE SOZIALE STADTRUNDSTADTRUNDGÄNGE GÄNGE PerspektivenPerspektivenwechsel wechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, uns ohne staatliche sind aufHinsicht Spenden Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschenfinanzieren in der Schweiz. Unser Angebot Gelder wirkt inund doppelter – und auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC gewinnorientiert, 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1455 3Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht finanzieren uns ohne1255 staatliche surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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SURPRISE-RUCKSACK CHF 99.– (exkl. Versandkosten) Modell Ortlieb-Velocity, 24l, wasserfest. Hergestellt in Deutschland. Erhältlich in ultramarin, silber und rot (schwarz ist ausverkauft).

SURPRISE-GYMBAG CHF 20.– (exkl. Versandkosten) 100% Baumwolle, hergestellt in Handarbeit in Griechenland. Erhältlich in rot und schwarz.

SURPRISE-ETUI CHF 27.– (exkl. Versandkosten) Hergestellt von JLTbag in Altdorf, Uri. JLTbag beschäftigt in der Produktion anerkannte Flüchtlinge und fördert damit deren Ausbildung und Integration. Erhältlich in rot und schwarz.

SURPRISE-MÜTZE CHF 35.– (exkl. Versandkosten) 100% Merinowolle, hergestellt in der Schweiz von Urs Landis Strickwaren in fünf unterschiedlichen Farben und in zwei Modellen. Links: Modell Knitwear / Rechts: Modell Klappkapp

Weitere Informationen und Online-Bestellung T + 41 61 564 90 90 | info@surprise.ngo | surprise.ngo/shop

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SURPRISE-GYMBAG rot

SURPRISE-ETUI

schwarz

rot

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SURPRISE-MÜTZE SURPRISE-RUCKSACK rot

ultramarin

Modell: silber

(schwarz ist ausverkauft)

Knitwear

Klappkapp

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