Surprise Nr. 438

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Strassenmagazin Nr. 438 16. bis 29. November 2018

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Was bedeuten die Menschenrechte in unserem Alltag? Eine literarische Erörterung Seite 12


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TITELBILD: BODARA GMBH

Editorial

Verfassung der Zivilisation Du wirst geboren, ein Bündel aus Fleisch und Blut, in dem alles schlummert: Liebe, Güte, Freude und Träume. Aber auch Hass, Gier, Wut und Angst. Und kaum bist du auf der Welt, schon hast du Rechte. Unver­ äusserlich, du wirst sie nicht mehr los. Sie schützen dich, egal wer du bist. Am 25. November wird sich zeigen, was uns die Menschenrechte wert sind. Doch was bedeuten sie für uns überhaupt? Das soeben erschienene Buch «Menschen­ rechte. Weiterschreiben» versucht dies aufzuzeigen: 30 Autorinnen und Autoren wurde je einer der 30 Artikel der Allge­ meinen Erklärung der Menschenrechte zugelost, zu dem sie einen Text verfassten. Diese literarische Herangehensweise schreibt das Abstrakte ein in unseren All­ tag, in unser Leben. Drei der Texte durften wir abdrucken (Seite 12). «Schweizer Recht», «fremde Richter»: Die SVP­Initiative zielt vor allem gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschen­ rechte. Die Befürworter betonen, die Men­

4 Aufgelesen 5 Vor Gericht

Reuiger Räuber

6 Moumouni …

... dreht Däumchen

7 Die Sozialzahl

Wie viel ist gut?

8 Obdachlosigkeit

Schläge, Tritte, Mord und Totschlag

12 Menschenrechte

Was geht uns das an?

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22 Porny Days

Filme hinterfragen die Sexualmoral

schenrechte stünden ja auch in der Schweizer Bundesverfassung. Das stimmt für die Freiheits­ und die politischen Rech­ te. Die meisten Sozialrechte hingegen – auf angemessenen Wohnraum etwa oder auf angemessene Pflege – sind in der Schweiz nicht einklagbar. Und dann ist die Bundes­ verfassung ja auch kein Monolith, sondern kann durch Parlament und Stimmbevöl­ kerung verändert werden. Wir tendieren dazu, die Menschenrechte als selbstverständlich zu betrachten. Nur schon die Texte in diesem Heft zeigen: Das ist eine Illusion. Die Menschenrechte gibt es, weil man sich darauf geeinigt hat, dass die Zivilisation eine Verfassung braucht. Sie wurden erkämpft und müssen laufend verteidigt werden. Gegen den Hass, die Gier, die Wut, die Angst – gegen all das Unschöne, das der Mensch halt auch in sich hat. Das ist die Tragik dieses Kampfes, in dem der 25. November AMIR ALI Redaktor eine Episode ist.

24 Ausstellung

29 Wir alle sind Surprise Impressum Surprise abonnieren

25 Theater

30 Surprise­Porträt

Kanonenfutter im Mittelpunkt Blind Date im Pflegehotel

«Ich will das nicht erleben»

25 Buch

Tagebuch eines ganzen Lebens

26 Veranstaltungen 27 Agglo­Blues 28 SurPlus Positive Firmen 3


FOTO(1): JACK DONAGHY; FOTO(2): CELESTE NOCHE

Aufgelesen

News aus den 100 Strassenzeitungen und -magazinen in 34 Ländern, die zum internationalen Netzwerk der Strassenzeitungen INSP gehören.

Kann es jeden treffen? «Armut oder Obdachlosigkeit kann jeden treffen», betonen Hilfsorganisationen, wohlmeinende Politiker und Sozialforscher gern. Obdachlosigkeit habe viele Ursachen und sei ein äusserst komplexes Phänomen. Suzanne Fitzpatrick, Professorin für Wohnungs- und Sozialpolitik in Edinburgh, sieht in solchen Glaubenssätzen eine Gefahr, weil sie «den Eindruck erzeugen, dass Obdachlosigkeit ein zufälliges Ereignis ist, dessen Gründe schwer zu erklären sind, und überhaupt unmöglich vorherzusagen», sagte sie in einer Rede am Internationalen Kongress der Strassenzeitungen im August in Glasgow. Dies lenke von strukturellen Gründen ab. Zudem kritisiert Fitzpatrick die Haltung, dass nur als bedeutsam betrachtet wird, was einen auch selbst treffen könnte. Obdachlosigkeit «sollte einem nicht egal sein. Weil sie eine steigende Zahl von Mitbürgern betrifft. Und weil Obdachlosigkeit elend und ungerecht ist und ausserdem vermeidbar.»

Zukunft in Malheur 25,5 Prozent der Menschen in Malheur County, Oregon, lebten zwischen 2011 und 2015 in Armut, verglichen mit 15,5 Prozent im US-Schnitt. Das liegt vor allem am Immobilienmarkt: Die Mieten im ländlichen Oregon sind 16 Prozent höher, die Kaufpreise gar 30 Prozent höher als in vergleichbaren Gegenden. Mit dem örtlichen Mindestlohn von 10.50 Dollar muss man eine 52-Stunden-Woche hinlegen, um die durchschnittliche Miete von knapp 700 Dollar für eine Zweizimmerwohnung plus übrige Lebenskosten bezahlen zu können. Die Zukunft? «Die Kinder wachsen so auf, und so leben sie später auch», sagt die Mitarbeiterin einer NGO.

STREET ROOTS, PORTLAND

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ILLUSTRATION: PRISKA WENGER

69 Millionen zu wenig

Weltweit fehlen Lehrerinnen und Lehrer, um allen Kindern eine Schulausbildung zu ermöglichen. Laut einer Berechnung der Unesco werden bis zum Jahr 2030 rund 69 Millionen zusätzliche Lehrkräfte benötigt. Besonders schlimm ist die Situation in afrikanischen Krisenländern südlich der Sahara. Dort könne jedes dritte Kind zwischen fünf und 17 Jahren keine Schule besuchen. Auch in Deutschland sind wegen gestiegener Schülerzahlen und Pensionierungen 10 000 Stellen gar nicht und 30 000 mit Nicht-Lehrern besetzt. HEMPELS, KIEL

Bauboom gewünscht

Bis 2021 will die deutsche Regierung mindestens fünf Milliarden Euro für mehr als 100 000 neue Sozialwohnungen bereitstellen. Viel zu wenig, sagt ein Bündnis aus Mieterbund, Gewerkschaften und Hilfsorganisationen: Nicht einmalig, sondern jedes Jahr seien 80 000 bis 100 000 neue günstige Wohnungen nötig. Dafür wären Investitionen von Bund und Ländern von jährlich 6 Milliarden Euro nötig. Immerhin soll laut Bundesregierung steuerlich begünstigt werden, wer bezahlbaren Wohnraum baut. HINZ & KUNZT, HAMBURG

Von der Strasse ins Gefängnis

In Ungarn gilt ein neues Gesetz, das Obdachlosigkeit unter Strafe stellt. Wer dreimal im öffentlichen Raum ohne Wohnsitz angetroffen wird, kommt vor Gericht und kann zu Haft oder gemeinnütziger Arbeit verurteilt werden. Der persönliche Besitz von Obdachlosen soll, sofern nicht lagerbar, verbrannt werden. Kritiker bezeichnen das neue Gesetz als unmenschlich.

BODO, BOCHUM/DORTMUND

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Vor Gericht

Reuiger Räuber In seiner bald vierzigjährigen Karriere habe er es noch nie mit einem solchen Dilettanten zu tun gehabt, sagt der Strafverteidiger in beinahe vorwurfsvollem Ton. «Kriminelle Energie: Null, Zero, Nada», taxiert er seinen Mandanten. Gleichwohl steht der bisher unbescholtene João P.* nun wegen Raubes vor Gericht. Ein 56-jähriger Mann von gedrungener Statur, kaum grösser als das Stehpult vor ihm. Als die Anklage verlesen ist, wirft er die Arme hoch und richtet den Blick gen Himmel: «Ich gebe alles zu.» Sein Anwalt fasst im Plädoyer kurz das Leben des Portugiesen zusammen: Als Fliessbandarbeiter in einer Lebensmittelfabrik verfüge er über ein regelmässiges Einkommen, das einem Alleinstehenden im Grunde ein Leben in Würde ermögliche. Aber man erträumt sich ja mehr, und seit dem Tod seiner Frau vor neun Jahren sei er völlig vereinsamt. Freund und Tröster sei die Flasche gewesen. Oft auch in Gesellschaft von Animierdamen in Bars, die sein Budget überstiegen. Betreibungen häuften sich. Er steckte bis zum Hals in Schulden. Eines Nachts übermannte ihn die Verzweiflung. Er hatte keinen Alkohol – und auch kein Geld mehr. Wie sollte er die nächsten sechs, sieben Tage bis zum Eingang des Lohns durchstehen? Er lief durch die Wohnung, hin und her, wie der Panther im Käfig. Da sei ihm spontan die Idee eingefallen, das Quartierlädeli auszurauben. Beruhigt, die Lösung für sein vordringlichstes Problem gefunden zu haben, schlief er ein, und als er um fünf Uhr früh wieder aufwachte, nahm er es als Fingerzeig des Schicksals. «Das ist deine Chance!», ermunterte er sich und legte sich vor dem Laden auf die Lauer.

Eben hatte die Verkäuferin die Türe aufgeschlossen, da betrat João das Geschäft, mit aufgeklapptem Anglermesser in der Hand, das er stets in der Hosentasche mit sich trug. «Kasse offen», sagte er zur Frau. Diese verstand und tat, wie ihr geheissen. João stopfte sich die Noten ins Jackett, packte noch ein paar Schoggitafeln dazu und machte sich davon. Keine Stunde später schlug es wie ein Blitz in ihm ein: «Was hast Du getan?!». Er rief seinen Seelsorger an. Zusammen gingen sie zum Laden und brachten das Geld zurück. Aber da waren der Besitzer und die Polizei schon informiert. Ihm tue das alles sehr leid, sagt João dem Gericht, er schäme sich fürchterlich. Seit jenem Morgen habe er keinen Schluck Schnaps mehr getrunken. In der Suchtklinik unterzog er sich einer Therapie, die er nun ambulant weiterführe. «Ich habe viel gelernt.» Der Arbeitgeber halte zu ihm, unter der Bedingung, dass er das durchziehe. Mit der Schuldenberatungsstelle habe er einen Plan ausgearbeitet. Die Verkäuferin, unterstreicht der Verteidiger, habe vom Überfall weder seelische, noch physische Blessuren erlitten. João habe eher Mitleid als Angst in ihr ausgelöst, zumal sie ihn ja kenne. Schliesslich gehe João seit Jahren bei ihr posten. Angesichts der positiven Prognosen kommt er mit einer Geldstrafe von 220 Tagessätzen zu 80 Franken davon, bedingt bei einer Probezeit von zwei Jahren. João nimmt das Urteil erleichtert hin. «Ich möchte mich bedanken», sagt er. * persönliche Angaben geändert

ISABELL A SEEMANN ist Gerichtsreporterin in Zürich.

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ILLUSTRATION: RAHEL NICOLE EISENRING

che – ich – al – le!» Es ist komisch, wenn jemand das so unbedarft zu jemandem sagt, für dessen Leben rechte Politik eine Gefahr bedeutet. Ich stimme zu, dass die Kategorien manchmal verschwimmen. Ich habe zum Beispiel mal eine ziemlich verwirrende Podiumsdiskussion erlebt, in der ein JungSVPler nichts gegen Lehrerinnen mit Kopftuch hatte und ständig das Publikum enttäuschte, das sich auf einen waschechten SVPler gefreut hatte, während die Tante von den Juso in Diversitätsfragen die weniger Progressive von beiden war. Auch Thilo Sarrazin, einer der bekanntesten rechten Hetzer Deutschlands, war ja bekanntlich in der SPD. In Deutschland gab es kürzlich Furore, weil Sawsan Chebli, die ehemalige stellvertretende Sprecherin des Auswärtigen Amts und SPD-Parteimitglied, also Sozialistin, eine Rolex trug. Und plötzlich landet man in einem Strudel, in dem der Jung-SVPler als «nicht wirklich rechts» und Chebli als «nicht wirklich links» bezeichnet werden. Und wenn man sich auf diese Art lang genug im Kreis dreht, weiss man irgendwann gar nicht mehr, wo links und rechts überhaupt sein sollen. Ist dann irgendwie auch egal.

Moumouni …

… dreht Däumchen Ich wusste als Kind lange nicht, wo links und rechts ist. Den Spruch von wegen links sei da, wo der Daumen rechts ist, hatte ich nie verstanden. Häh? Ich weiss noch, wie verunsichert ich war, ob das ein ernstgemeinter Ratschlag war, den ich einfach nicht zu entschlüsseln vermochte, oder ob meine Intuition stimmte, dass es wohl eher ein Witz war, den ich nicht lustig fand. Inzwischen verstehe ich den Spruch und kann links und rechts auseinanderhalten. Bis dahin musste ich mir jedoch einen Trick angewöhnen, um herauszufinden, welches nun die rechte Hand ist: Rechts konnte ich besser schnipsen. Kurz den Schnipstest gemacht und dann abgebogen! Ich bilde mir ein, dass es ein bestimmter Typ Mensch ist, der den Spruch mit dem Daumen witzig findet. Lustigerweise habe ich das Gefühl, jetzt wieder häufiger 6

mit genau diesem Typ in Berührung zu kommen. Heutzutage erzählt er mir jedoch nicht mehr nur verwirrende Geschichten von linken Daumen, sondern will mich davon überzeugen, dass man die Kategorien links und rechts eigentlich ganz abschaffen sollte. «Ich bin in keiner Partei, das kann ich mir gar nicht leisten: Ich – brau – che – al – le», sagte das letzte Exemplar, das ich von der Sorte traf. Er arbeitete irgendwas im Kulturbereich. «Wissen Sie, bei mir geht es um die Sache. Das kann man nicht entlang von Parteiprogrammen besprechen …», schob er nach. Ich kam wie damals beim Daumen-Witz nicht umhin, das Gesagte doof zu finden, und wurde prompt bestätigt: «Mir ist egal, was die Leute wählen, wissen Sie.» Dann sagte er wieder eindringlich: «Für die Arbeit in unserer Region brau –

Davon abgesehen, dass andere pauschale Kategorien ähnlich wenig Sinn machen (zum Beispiel progressiv vs. konservativ usw.), benutze ich bis heute manchmal eine Eselsbrücke für die Frage, was denn nun links oder rechts ist. Da, wo es drauf ankommt. Was früher mein Schnipstest war, ist heute die Frage, ob die angestrebte Politik mir oder anderen Leuten aufgrund von Aussehen, Geschlecht, sexueller Orientierung und sozialer Klasse nach dem Leben trachtet. Und dies ist auch der Punkt, an dem ich erwarte, dass all diejenigen, die «al – le – brau – chen» und so gern neutral und unparteiisch sind, Stellung beziehen: mit dem nach unten gerichteten Daumen. Egal, ob mit dem linken oder rechten.

FATIMA MOUMOUNI ist Autorin und Slam Poetin. Beim Velofahren schnipst sie noch heute – jetzt wissen Sie warum.

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Wie viel ist gut? In der Schweiz leben heute rund 8,5 Millionen Menschen. Ist das viel? Ist das wenig? Was ist die angemessene ständige Wohnbevölkerung in unserem Land? Um 1900 hatte die Schweiz etwas mehr als 3 Millionen Einwohner, 100 Jahre später hatte sich die Zahl bereits verdoppelt. Und so wird es auf absehbare Zeit weitergehen. Das Bundesamt für Statistik rechnet in seinem Referenzszenario, das von aktuellen Trends und von jenen Annahmen über die Bevölkerungsentwicklung mit den höchsten Eintrittswahrscheinlichkeiten ausgeht, mit einem Anstieg der ständigen Wohnbevölkerung auf über 10 Millionen bis zum Jahr 2045. Die «richtige» Bevölkerungszahl für ein Land zu bestimmen, ist ein schwieriges Unterfangen. Fragt man die Leute, so ist zumeist die aktuelle Einwohnerzahl gerade noch in Ordnung. Das war vor 50 oder 20 Jahren nicht anders als heute. Vielleicht kommt es auf die Perspektive an, aus der man sich die Frage nach der «richtigen» Bevölkerungszahl stellt. So kann man sich aus einem umweltpolitischen Blickwinkel schon auf den Standpunkt stellen, dass es aufgrund des Konsumverhaltens besser wäre, wenn die Zahl der Menschen in der Schweiz abnehmen würde. Wer sozialpolitisch denkt, wird zu einem ganz anderen Schluss kommen: Eine steigende Bevölkerungszahl ist gut für den Sozialstaat. Die ökonomische Sichtweise schliesslich würde dafür plädieren, dass sich die Bevölkerungszahl nach der wirtschaftlichen Entwicklung zu richten habe. Wächst die Wirtschaft, braucht es mehr Leute, stagniert sie, darf die Einwohnerzahl auch wieder zurückgehen.

zahl überhaupt politisch beeinflussbar ist. Es gibt drei Treiber, welche die Bevölkerungsentwicklung prägen: die Geburtenrate, die Lebenserwartung und die Migration. Alle drei Faktoren können direkt oder indirekt durch politische Massnahmen beeinflusst werden. So geht man davon aus, dass sich eine offensive Familienpolitik mit höheren Kinderzulagen, einem breiten und bezahlbaren Angebot an Kita-Plätzen und ähnlichem mehr positiv auf die Geburtenrate einwirkt. Medizinischer Fortschritt, aber auch eine geringe soziale Ungleichheit fördern die Lebenserwartung. Das alles leuchtet intuitiv ein, ist aber sehr schwierig zu belegen, denn die Wirkungszusammenhänge sind langfristiger Natur. Auf kurze Sicht ist die Entwicklung der Migration der entscheidende Faktor. Und diese kann natürlich politisch beeinflusst werden. Dabei zeigt die Geschichte, dass die Politik am Ende stets den Bedürfnissen der Wirtschaft gefolgt ist. Und diese Wirtschaft ist aus bevölkerungspolitischer Perspektive längst zu gross für die Schweiz geworden. Denn ohne Arbeitsmigration wäre das Bedürfnis der Wirtschaft an Arbeitskräften nicht zu befriedigen. In den nächsten Jahren werden zwei gegenläufige Entwicklungen das Bevölkerungswachstum prägen: Die Zahl der Erwerbstätigen wird sinken, wenn die Babyboomer-Jahrgänge in Rente gehen. Gleichzeitig wird die Digitalisierung dazu führen, dass die Wirtschaft weniger Arbeitskräfte braucht. Die Prognose von der 10-Millionen-Schweiz könnte sich dann als überzogen erweisen.

PROF. DR. CARLO KNÖPFEL ist Dozent am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung der Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Man kann also durchaus unterschiedlicher Ansicht darüber sein, was die «richtige» Bevölkerungszahl für die Schweiz ist. Damit stellt sich sofort auch die Frage, ob die Bevölkerungs-

Die Entwicklung der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz 10 Millionen

8,5 Millionen (2018) 8 Millionen

6 Millionen

4 Millionen

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2045

2040

2030

2020

2010

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1930

1920

1910

1900

1890

1880

2 Millionen 1870

INFOGRAFIK: BODARA ; QUELLE: BUNDESAMT FÜR STATISTIK (2018): BEVÖLKERUNGSSTATISTIK

Die Sozialzahl

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Gewalt, die ansteckt Obdachlosigkeit Brandanschläge, Körperverletzungen, sogar Mord: Gewalt gegen Obdachlose

ist in Deutschland an der Tagesordnung. Jahr für Jahr werden es mehr Übergriffe. TEXT BENJAMIN LAUFER, JONAS FÜLLNER

Der erste Schlag geht direkt ins Gesicht, nach dem zweiten geht der Mann zu Boden. Acht oder neun weitere Male schlägt der Malerlehrling hart und gezielt auf den Kopf seines Opfers ein, der sich die Hände schützend vor das Gesicht hält. Erst Passanten können den 22-Jährigen stoppen, der im April 2017 an der Mönckebergstrasse, einer von Hamburgs Shoppingmeilen, auf einen Obdachlosen losgeht. Dessen Platzwunde 8

am Hinterkopf muss im Krankenhaus genäht werden. Der Schläger wird später zu acht Monaten Haft verurteilt, ausgesetzt zur Bewährung. «Einen nachvollziehbaren Grund für seine Tat gab es nicht», befinden die Richter am Amtsgericht. Es ist einer von zahlreichen Übergriffen auf Obdachlose im vergangenen Jahr auf den Strassen Hamburgs. Verkaufende der Strassenzeitung Hinz&Kunzt berich-

teten, wie sie im Schlaf ins Gesicht getreten oder auf einer Parkbank verprügelt wurden. Mindestens viermal sind Obdachlose in Hamburg 2017 sogar Opfer von Brandanschlägen geworden – zum Glück ohne tödliche Folgen. «Die Hemmschwelle scheint gesunken zu sein», sagt Hinz&Kunzt-Sozialarbeiter Stephan Karrenbauer. Auch bei Obdachlosen selbst, die wegen des zunehmenSurprise 438/18


FOTO: REUTERS/HANNIBAL HANSCHKE

Gewalt gegen Obdachlose in der Schweiz Offizielle Zahlen zu Obdachlosigkeit gibt es in der Schweiz keine. Auch in Schweizer Städten häufen sich die Anzeichen dafür, dass immer mehr Menschen draussen schlafen. Anlaufstellen in Zürich und Lausanne berichten von steigender Nachfrage, auch der Basler Verein für Gassenarbeit zählt immer mehr Menschen ohne feste Wohnadresse. Statistiken dazu, wie oft Obdachlose Opfer von Verbrechen werden, gibt es ebenfalls keine. Kurz vor Weihnachten 2017 wurde in Basel ein Obdachloser ermordet. Solche Gewaltverbrechen sind bisher traurige Einzelfälle. Zwar ist auch unter Schweizer Wohnungslosen ein generelles Bedrohungsgefühl durchaus vorhanden, wie Surprise-Reporter Simon Jäggi in Surprise #419 von Betroffenen erfuhr. Christian Fischer hingegen, Leiter der Stelle Sicherheit Intervention Prävention SIP in Zürich, sagte gegenüber Surprise damals, er habe nicht den Eindruck, dass die Zahl der Gewaltdelikte zunehme. Ähnlich äusserten sich auch die Stadtpolizei Zürich und die Kantonspolizei Basel-Stadt. WIN

Seit EU-Osterweiterung und Finanzkrise steigt die Zahl der Gewalttaten rapide an: Schlafplatz in Berlin.

den Konkurrenzdrucks auf der Strasse oft vor Gewalt untereinander nicht zurückschrecken. Gelegenheit macht Täter Ein Blick in die Kriminalstatistik des Bundeskriminalamts bestätigt den Eindruck, dass die Gewalt auf der Strasse zugenommen hat. Seit 2012 werden deshalb dort Straftaten gegen Obdachlose gesondert ausgewiesen. Damals zählten die Kriminalbeamten noch 258 Gewalttaten gegen Obdachlose, 2017 stieg diese Zahl auf 592 an. Das ist ein Zuwachs von 129 Prozent in nur fünf Jahren. In der Stadt Hamburg schwanken die Zahlen zwischen 56 und 70 im Jahr, trauriger Höhepunkt auch hier das Jahr 2017. Sogar ein Mord und zwei Fälle von Totschlag waren in den vergangenen Surprise 438/18

Jahren darunter. Seit 1990 kamen mehr als 500 Obdachlose gewaltsam ums Leben. Und das sind nur jene Fälle, die bei der Polizei zur Anzeige gebracht wurden. Wie kann das sein? Eine mögliche Erklärung ist, dass immer mehr Menschen auf der Strasse leben und dort zu Opfern werden können. Nach einer Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe hat sich ihre Zahl von 24 000 im Jahr 2012 innerhalb von vier Jahren mehr als verdoppelt: 2016 waren demnach 52 000 Menschen in Deutschland obdachlos. Nachweislich steigt die Gewalt immer dann an, wenn Krisenzeiten besonders viele Menschen auf die Strasse spülen. So stieg die Zahl der Todesopfer durch Fremdeinwirkung unter Obdachlosen etwa mit dem Zusammenbruch des Ostblocks

und den daraus resultierenden Fluchtbewegungen ab 1990 an und erreichte 1993 mit 43 Todesopfern in Deutschland einen traurigen Höhepunkt. Während sich die Lage um die Jahrtausendwende wieder vollkommen entspannt hatte, steigen die Zahlen seit Beginn der EU-Osterweiterung ab 2004 und der Finanzkrise 2008 wieder rapide an. Obdachlose seien oft geschwächt und wehrlos, sagt die Kriminologin Daniela Pollich von der Kölner Fachhochschule für öffentliche Verwaltung, und dadurch für Gewalttäter ein leichtes Opfer. Die Forscherin hat untersucht, aus welchen Gründen Obdachlose Opfer von Gewalt werden. Oft sei es schlicht die Gelegenheit, aus der heraus sie angegriffen würden. «Gerade nachts sind häufig Wohnungslose auf der 9


halten, für faul, für Schmarotzer. Einige haben diese Vorurteile verinnerlicht, andere in ihr geschlossen rechtsextremes Weltbild fest eingebunden. Nach einer Zählung der Rassismus-kritischen AmadeoAntonio-Stiftung sind seit 1990 mindestens 26 Obdachlose von Rechtsextremisten umgebracht worden. Neid auf «Premium-Schlafplatz» Mit Vorurteilen kennt Andreas Zick sich aus. Er leitet das Bielefelder Zentrum für Konflikt- und Gewaltforschung und untersucht regelmässig, welche Vorurteile in der deutschen Gesellschaft verbreitet sind. Es ist mitnichten so, dass nur Neonazis Vorurteile gegenüber Obdachlosen haben. Seit Beginn der Erhebung vor 14 Jahren hat etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung

solche Ressentiments, findet zum Beispiel, dass Bettler «aus den Fussgängerzonen entfernt werden» sollten. Anfangs hegten insbesondere ungebildete Menschen mit geringem Einkommen solche Vorurteile. Inzwischen aber finden die Forscher diese Ressentiments in allen Schichten. Die Menschen geben den Obdachlosen selbst die Schuld für ihre Lage, unterstellen ihnen allgemeine Inkompetenz und emotionale Kälte. «Und aus dem Vorurteil kann Handeln entstehen, wenn sich die Gelegenheit ergibt», sagt Zick. Die Verbreitung von Vorurteilen ist also konstant, die Gewalt aber nimmt zu. Forscher Zick erklärt sich das mit einer generellen Entwicklung: «Die Gewalt gegen gesellschaftliche Randgruppen steigt an – und sie steckt an», sagt Zick. Wer etwa

FOTO: REUTERS/FABIAN BIMMER

Strasse anzutreffen, wenn jemandem gerade danach ist, jemanden zu verprügeln.» Dazu komme das Desinteresse, mit der die Gesellschaft Wohnungslosen begegne. Die Motive der Täter seien schwierig zu erforschen, räumt Pollich ein. Aber oft gehe es ihnen darum, sich selbst besser zu fühlen, indem sie auf Schwächere losgehen. «Wenn es noch jemanden unter einem gibt, ist man selbst nicht der gesellschaftliche Verlierer», sagt die Forscherin. Die Gewalttäter kämen oft selbst aus Milieus, die gar nicht so weit weg von dem der Wohnungslosen seien. So wie der Schläger von der Mönckebergstrasse: Als Malerlehrling verdient er gerade einmal 370 Euro im Monat. Oft schlagen Täter auch zu, weil die Obdachlosen nicht in ihr Weltbild passen, weil sie sie für nutzlos

Bettler, wie hier in Hamburg, sollen aus Fussgängerzonen entfernt werden, findet ein Drittel der deutschen Bevölkerung.

Viele Täter leben selbst auf der Strasse: Zelte von Obdachlosen im Berliner Regierungsviertel. 10

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seine Neigung zu Gewalt bekannt. Immer wieder machte er anderen die Schlafplätze streitig. «Ich wollte, dass er sein Verhalten ändert», begründete Constantin seine Tat. Tatsächlich hatte Costel vor Gericht ausgesagt: «Ich werde in Zukunft zweimal nachdenken, bevor ich jemanden schlage.» Viele der Täter, die Obdachlose angegriffen haben, leben selbst auf der Strasse. Wie viele es genau sind, darüber macht das Bundeskriminalamt keine Aussagen. In der Auswertung der Medienberichte über Gewalttaten der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe trifft es etwa auf die Hälfte der Fälle zu. Die meisten Übergriffe unter Obdachlosen landen jedoch wahrscheinlich weder in der Statistik des BKA noch in der der BAG Wohnungslosenhilfe, weil die Betroffenen sie für sich behalten.

FOTO: REUTERS/FABRIZIO BENSCH

gewaltbereit gegenüber Flüchtlingen sei, habe oft auch das Potenzial, Obdachlose anzugreifen. Im Januar endete der Prozess gegen einen 32-Jährigen, der im vergangenen April im Hamburger Stadtteil St. Georg den Schlafplatz eines Obdachlosen angezündet hatte. Nur weil binnen kürzester Zeit Passanten das Feuer löschten, war dem Obdachlosen nichts weiter passiert. Ein Verbrechen, das viel über das Leben auf der Strasse in Hamburg erzählt. Denn auch der Brandstifter war obdachlos, und er kannte sein Opfer. «Ich wollte ihm mit Sicherheit nicht sein Leben nehmen», hatte der Angeklagte Constantin in der Verhandlung beteuert. Vielmehr wollte er dem Opfer – dem 49-jährigen Costel – eine Lektion erteilen, denn der war unter Obdachlosen für

Als im vergangenen September der Obdachlose Dorian vom Landgericht wegen versuchten Mordes verurteilt wurde, weil er aus Neid den Schlafplatz zweier anderer Obdachloser angezündet haben soll, hatte es die Urteilsbegründung in sich. Das «plausible Motiv», das der Richter bei Dorian sah, war der angebliche Neid auf den «Premium-Schlafplatz» der beiden. Er sprach wohlbemerkt nicht von einer Penthouse-Wohnung, sondern von einer zwar wenigstens trockenen, aber zugigen Ecke in einem Parkhaus am Hafen. Nerven liegen blank «Konkurrenz auf der Strasse hat es schon immer gegeben, aber sie hat in den letzten Jahren zugenommen», sagt Johan Grasshof, Strassensozialarbeiter bei der Hamburger Diakonie. Aus Sicht von Menschen mit Wohnungen gehe es dabei häufig um Nichtigkeiten, sagt Kriminologin Daniela Pollich. Eine Flasche Bier etwa oder eine ausgeliehene Zigarette können zum Auslöser für eine Schlägerei werden. «Da manifestiert sich die Anhäufung von Ungleichheit, schlechten Chancen, Frustration und Aussichtslosigkeit.» Anders gesagt: Wer wie Obdachlose kaum schläft und auf der Strasse verelendet, bei dem liegen die Nerven oft blank. Trotz der vielen Gewalttaten gegen Obdachlose auf Hamburgs Strassen blieb ein öffentlicher Aufschrei bislang aus. Dabei wäre es laut Kriminologin Pollich wichtig, dass man diese Taten ächtet, weil die Schläger sonst von einer Art «sozialer Rückendeckung» ausgingen. «Die Gesellschaft sollte sich deutlich dazu verhalten», sagt sie. «Das würde sicher einige Täter davon abhalten, zuzuschlagen.» Und Konfliktforscher Zick betont, wie wichtig ausserdem Aufklärung und Begegnung seien. «Menschen, die Kontakt mit Wohnungslosen haben und etwas über ihre Welt erfahren, haben deutlich weniger Vorurteile», sagt er. Deshalb plädiert er für Programme, die Obdachlose und Menschen mit Wohnung zusammenbringen: «Entweder macht unsere Gesellschaft da ein bisschen mehr, oder wir müssen uns nicht wundern, wenn wir Gewalt sehen.» Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Hinz&Kunzt / INSP.ngo Nachbearbeitet und ergänzt von Sara Winter Sayilir mit Informationen aus der Dresdner Strassenzeitung Drobs.

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Artikel 6

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Was uns das angeht Menschenrechte Welche Bedeutung haben die Menschenrechte im Alltag?

Eine soeben erschienene Anthologie erörtert diese Frage literarisch – mit 30 Texten zu den 30 Artikeln der AEMR. Wir drucken drei davon.

Brief an einen Unbekannten TEXT SACHA BATTHYANY

Gábor, wir kennen uns nicht. Wir haben uns noch nie gesehen. Und doch vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht an dich denke – Gábor, diesen Namen mochte ich noch nie. Weisst du, dass ich dich suchen ging? Ich fand dich nicht, und doch fand ich dich in vielen Gesichtern. Wie oft habe ich mir vorgestellt, wie ich dich an einen Stuhl fessle und dich an den Haaren ziehe, bis du schreist. Je nach Laune spucke ich dir in meiner Fantasie ins Gesicht, manchmal verliere ich die Beherrschung und schlage dir auf die Nase, bis sie bricht. Du hast Viktoria auf dem Gewissen, Gábor, auch wenn die Polizei das anders sieht. Meine Schwester. Ich nannte sie Viki, und du? Ich muss zugeben, ich bin auch eifersüchtig auf dich. Du hast die letzten Monate mit Viki verbracht. Hast sie öfter gesehen als wir. Du hast ihr eine Nachricht geschrieben an ihrem letzten Tag. Drei Worte nur: «Warte auf mich». 15 Uhr 23, an einem Mittwoch. Beinahe täglich klicke ich mich durch Vikis Telefon, das man mir aushändigte nach ihrem Tod. Sie hat keine Bilder gemacht, ist das nicht seltsam? Sie hat im Internet nach Welpen gesucht. Ich lese deine Nachrichten, immer wieder, du warst der Einzige, der ihr geschrieben hat. Kurze Sätze. Männersätze. Businesssprache. Denn das war sie doch für dich – ein Geschäft. Hast du sie sterben sehen, Gábor? Warst du dabei? Wir hatten zuletzt wenig Kontakt, Viki und ich. Ich war immer der ältere Bruder, der zur Verantwortung gezogen wurde, heute habe ich eine eigene Familie. Viki war die kleine, verrückte Schwester, die oft nächtelang nicht nach Hause kam. Einmal fand ich sie an der Tankstelle, es war schon spät, es war kalt, sie versteckte eine Flasche Schnaps in der Jackentasche. «Du verstehst es nicht!», schrie sie mich an, ich zerrte sie ins Auto und fuhr sie heim. Sie ist schon früh an die falschen Männer geraten, das weiss ich heute. Wir hätten besser hinsehen müssen. Wir waren arm, so wie ihr. Wir hatten doch dasselbe beschissene Leben in diesem beschissenen Ungarn. An einem kalten Februartag vor zwei Jahren hiess es, Viki sei weg, verschwunden mit einem Typen aus der Gegend, abgehauen in den Westen. Ich hinterliess ihr mehSurprise 438/18

rere Nachrichten auf Facebook, erst nach Wochen schrieb sie zurück. Sie sei in Zürich. In der Schweiz. Sie träume von einem Häuschen, von einem guten Leben, ich solle sie in Ruhe lassen. «Zürich», schrieb ich, «ist das nicht teuer? Wann kommst du zurück?» Sie hat nie mehr geantwortet. Lag es an meinen Fragen? Sie war einundzwanzig Jahre alt. Wie alt bist du, du Scheissgesicht? Ich kann nicht begreifen, wieso sich Viki auf einen solchen Versager einliess. Du hast ihr ein schönes Leben versprochen und sie in die Schweiz gelockt. Der Traum vom Häuschen, warst du das, Gábor? Du hast gerochen, wie ein Bluthund, dass du sie ausbeuten konntest – das ist das Einzige, was du wirklich kannst. Ich will es mir nicht vorstellen, und trotzdem sehe ich dieses Zimmer vor mir, in das du sie gesperrt hast und wo sie wartete. Auf Kunden. Auf Schweizer Männer. Und auf dich. Ich sehe krause Haare auf weisser Männerhaut. Ich sehe Männerbäuche, ich will das nicht sehen, aber es gelingt mir nicht, die Bilder aus dem Gehirn zu wischen. Es wird mir nie gelingen, dafür hasse ich dich, Gábor, hör mir zu! Ich sehe meine Schwester, wie sie auf dem Bett liegt. Ich kenne ihren Körper als Vierzehnjährige, es war das letzte Mal, als wir gemeinsam in der Tisza badeten, Zahnstocherbeine, braun von der Sonne. Sie hatte eine Narbe an der Lende von einem Unfall auf einer Baustelle. Hat sie dir erzählt, dass sie damals beinahe gestorben wäre? Viki war immer die Furchtloseste von uns, und sie liebte das Wasser, weisst du das? Nein, natürlich weisst du das nicht, weil du sie nicht kanntest, auch wenn du glaubst, sie gekannt zu haben. Es gibt da eine schöne Stelle außerhalb von Záhony am Fluss, gleich bei der Brücke. Da ging sie gerne schwimmen, hielt sich am Pfeiler fest, bis die Kraft in ihren Armen schwand, und liess sich treiben. Viel später erfuhr ich von der Polizei, dass Viki einen Schlüssel hatte. Dass sie das Zimmer hätte verlassen können. Aber sie blieb. Wie geht das? Erklär es mir, Gábor. Wie hast du sie gefügig gemacht? Wie wird man so wie du? 13


Einen ganzen Sommer lang haben wir auf ein Zeichen von Viki gewartet. Dann noch einen Winter. In der ersten Märzwoche fuhr ich mit dem Zug nach Zürich. Es war kalt und grau, was für eine hässliche Stadt. Ich habe Viki gesucht, obwohl ich wusste, dass ich sie nicht finden würde. Doch ich sah die Ungarinnen in den Strassen hinter dem Bahnhof, sie froren in ihren Netzstrümpfen. Viki kannten sie nicht, sie kicherten nur, als ich ihnen ein Foto zeigte. Also ging ich weiter und hielt Ausschau nach dir, Gábor. Warst du der Mann unter dem Heizpilz vor der Bar, der alleine sein Bier trank? Warst du der Typ, der den Verschluss seines goldenen Feuerzeugs auf- und zuklappte und dauernd auf sein Handy blickte? Du wirktest nervös, Gábor. Mir wurde gesagt, dass Viki Hilfe suchte. Ich sprach mit der Sozialarbeiterin, die sie betreute und die ihr mitteilte, sie könne dich anzeigen, sie habe Rechte. Aber Viki verstand das nicht. Rechte, was sind das? Sie hat sich nicht als Mensch gefühlt, weil ihr schon die Männer in Ungarn einen Grossteil ihres Menschseins genommen hatten. «Du verstehst es nicht!», schrie sie mich damals an, in jener Nacht an der Tankstelle, jetzt verstehe ich es. Du aber, Gábor, du nahmst ihr den kümmerlichen Rest ihrer Würde. Nahmst ihre Existenzberechtigung. Und wer glaubt, nicht sein zu dürfen, weil ihm alle Würde genommen wurde, der hat kein Rechtsempfinden. Viele Mädchen fühlen sich schlecht, nachdem sie sich Hilfe holen, habe ich erfahren. Weil ihnen dämmert, was

geschehen ist. Weil sie zu verstehen beginnen, was das alles bedeutet. Ihr Ich richte sich allmählich auf, sagte die Sozialarbeiterin, noch aber seien sie fragil, wie Seidenpapier. Viki sei ganz schüchtern gewesen, so verloren, sagte sie. Sie riet ihr, nicht mehr zurückzugehen in diese Wohnung, und Viki habe versprochen, den Kontakt mit dir abzubrechen. Nie mehr Gábor, log sie, denn sie hat sich anders entschieden. Vielleicht aus Scham. Vielleicht fehlte ihr der Mut. «Warte auf mich», schriebst du, 15 Uhr 23. Ein Mittwoch. Du hast ihre Fragilität gerochen, du Bluthund, darin bist du gut. Da hatte sie die Tabletten schon geschluckt. Erst war ich wütend auf sie, weil sie nicht auf dich gewartet hatte. Sonst wäre sie vielleicht noch am Leben. Aber jetzt habe ich mich damit abgefunden. Sie hat sich dir widersetzt mit ihrem Tod. «Warte auf mich», schriebst du. Aber dein Einfluss schwand, Gábor, und Viki richtete sich auf. Meine ganze Wut gilt nun dir. Und ich weiss, dass ich dich dabei benutze. Solange ich dir die ganze Schuld gebe, muss ich mich nicht fragen, was ich hätte tun können. Was wir alle hätten tun können, als Viki noch bei uns war. Aber weisst du was? Ist mir egal. Mir ist alles egal. Ob du ins Gefängnis kommst oder verreckst. Du bist auch mein Zuhälter, weil ich nicht darüber hinwegkomme. Wir sind aneinander gekettet, für immer. Wie machst du das bloss? Man hat mir in Zürich gesagt, dass viele Frauen wie Viki den See nie sehen. Sie wissen nicht einmal, dass es ihn gibt, dabei würde es keine zehn Minuten dauern, bis sie an den Ufern stünden. Du lachst bei diesem Gedanken, Gábor? Mich macht er verdammt traurig. Viki liebte das Wasser. Ich versuche mir vorzustellen, sie hätte dich nie kennengelernt, sie sei nur unten am Fluss in Záhony und würde bald wiederkommen, sie halte sich noch ein wenig am Pfeiler fest, bis die Kraft in den Armen schwindet und sie sich treiben lässt. FOTO: D. ZUCHOWICZ

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SACHA BATTHYANY, 1973, war USA-Korrespondent für den Tages-Anzeiger sowie die Süddeutsche Zeitung und ist heute Redaktor bei der NZZ am Sonntag. Sein Buch «Und was hat das mit mir zu tun?» war für den Schweizer Buchpreis und den RyszardKapuściński-Preis nominiert.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Artikel 1: Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.

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Artikel 2: Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder

sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebiets, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist. Artikel 3: Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person.

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Nur er nicht TEXT MONIQUE SCHWITTER

Es ist Freitagmorgen. Ausser ihm ist keiner gekommen. Die anderen Kinder wurden schon am Mittwoch zum letzten Mal für diese Woche abgeholt. Ihre Mütter, und vereinzelt auch die Väter, umarmten sich, drückten Wange gegen Wange und wünschten sich ein schönes Wochenende, einige sogar schöne Ferien, obwohl die richtigen Ferien, die grossen, langen, die Sommerferien, doch erst in zwei Wochen begannen. Viele der Mütter und Väter umarmten sich zum ersten Mal in dieser Weise, leicht ungelenk. Sie waren lauter und auf jeden Fall freundlicher als sonst und wirkten dabei seltsam feierlich. Als passiere gleich etwas Grossartiges. Oder etwas Schreckliches. Als stünden Weihnachten oder der Weltuntergang bevor. Mitten im Sommer. Einige sahen aus, als weinten sie gleich. Warum, hatte er nicht verstanden. Und auch nicht, wieso alle, alle, alle wegfuhren, nur er nicht. Einige zur Oma ins Umland, andere zu Freunden in der näheren oder weiteren Umgebung (all diese Leute hatten überall Freunde), viele aber richtig, wenn auch nur für vier Tage, mit Sack

Artikel 4: Niemand darf in Sklaverei oder Leibeigenschaft gehalten werden; Sklaverei und Sklavenhandel sind in allen ihren Formen verboten. Artikel 5: Niemand darf der Folter oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Artikel 6: Jeder hat das Recht, überall als rechtsfähig anerkannt zu werden. Artikel 7: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und haben ohne Unterschied Anspruch auf gleichen Schutz durch das Gesetz. Alle haben Anspruch auf gleichen Schutz gegen jede Diskriminierung,

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die gegen diese Erklärung verstösst, und gegen jede Aufhetzung zu einer derartigen Diskriminierung. Artikel 8: Jeder hat Anspruch auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei den zuständigen innerstaatlichen Gerichten gegen Handlungen, durch die seine ihm nach der Verfassung oder nach dem Gesetz zustehenden Grundrechte verletzt werden.

und Pack und weit weg. Er hatte Dutzende von Campingbussen im Viertel gezählt, solide, treudeutsche VW-Bullis, er hatte gar nicht gewusst, dass so viele Menschen in der Nachbarschaft ein derartiges Gefährt besitzen, und jedes von ihnen sah nagelneu aus. Sie hatten ihre Busse mit Taschen und Koffern, mit Kuscheltieren und Wasserspielzeug und etlichen Proviantkisten vollgepackt, eine ungewöhnliche Mischung aus Urlaubsvorbereitung und Evakuation, hatten zum Schluss ihre Kinder hineingesetzt und waren mit offenen Fenstern und nicht zu laut gedrehter, nicht zu wilder Musik weggefahren – nicht, bevor sie noch schnell, als Zeichen des Protests, ein «No G20»Schild in jedes ihrer (strassenseitigen) Wohnungsfenster gehängt hatten. Die Strassen und Gehsteige sind menschenleer. Wie letzten Sonntag, als er sich frühmorgens auf den Weg zum Sommerturnier seines Fussballvereins machte. Es zog ihn bei jedem Schritt rückwärts, Richtung Bett, wo alle anderen noch lagen; er hatte das Gefühl, überhaupt nicht

strafrechtlichen Beschuldigung in voller Gleichheit Anspruch auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht.

Artikel 9: Niemand darf willkürlich festgenommen, in Haft gehalten oder des Landes verwiesen werden.

Artikel 11: 1. Jeder, der wegen einer strafbaren Handlung beschuldigt wird, hat das Recht, als unschuldig zu gelten, solange seine Schuld nicht in einem öffentlichen Verfahren, in dem er alle für seine Verteidigung notwendigen Garantien gehabt hat, gemäss dem Gesetz nachgewiesen ist.

Artikel 10: Jeder hat bei der Feststellung seiner Rechte und Pflichten sowie bei einer gegen ihn erhobenen

2. Niemand darf wegen einer Handlung oder Unterlassung verurteilt werden, die zur Zeit ihrer Begehung

nach innerstaatlichem oder internationalem Recht nicht strafbar war. Ebenso darf keine schwerere Strafe als die zum Zeitpunkt der Begehung der strafbaren Handlung angedrohte Strafe verhängt werden. Artikel 12: Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden. Jeder hat Anspruch auf rechtlichen Schutz gegen solche Eingriffe oder Beeinträchtigungen.

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Artikel 20 16

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voranzukommen. Ein Gefühl, das sofort weg war, als er in Fussballschuhen den Kunstrasen betrat und loslief. Heute Morgen ist es genauso: Nichts bewegt sich, kein Auto, kein Mensch, ja, sind denn selbst die Vögel weggeflogen? Zur Oma, zu Freunden, in den Urlaub?, er kommt schlecht voran, die Kraft in seinem Rücken zieht und zerrt, alles ganz genauso, nur erfährt er, in der Schule angekommen, keine Erleichterung. Im Gegenteil. Er betritt das Klassenzimmer und keiner ist da. Er fühlt sich zum ersten Mal in seinem neunjährigen Leben gefangen, eingesperrt in einen tonnenschweren Körper, unfähig zur kleinsten Bewegung. Da steht er, bis die Lehrerin kommt. Sie zieht Gummihandschuhe über. Er soll, er versteht es erst nicht, putzen helfen. Er sieht sie entgeistert an. Sie spricht überdeutlich. «Vorgezogener Schuljahresendputz». Er hat eine Idee. Vom gläsernen Erker im Treppenhaus im vierten Stock kann man auf die grosse Strasse sehen, die zum Messegelände führt, auf dem der Gipfel stattfindet, und die heute, um den Karossen der teilnehmenden Staatschefs freie und sichere Fahrt zu ermöglichen, gesperrt ist. Ein Klassenkamerad erzählte ihm, jedes Staatsgefährt sei stets mit seinem Zwilling unterwegs, fege mit ungeheurer Geschwindigkeit dahin und halte unter keinen

Artikel 13: 1. Jeder hat das Recht, sich innerhalb eines Staates frei zu bewegen und seinen Aufenthaltsort frei zu wählen. 2. Jeder hat das Recht, jedes Land, einschliesslich seines eigenen, zu verlassen und in sein Land zurückzukehren. Artikel 14: 1. Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu geniessen. 2. Dieses Recht kann nicht in Anspruch genommen werden im Falle einer Strafverfolgung, die tatsächlich auf Grund von Verbrechen nichtpolitischer Art oder auf

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Grund von Handlungen erfolgt, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstossen. Artikel 15: 1. Jeder hat das Recht auf eine Staatsangehörigkeit. 2. Niemandem darf seine Staatsangehörigkeit willkürlich entzogen noch das Recht versagt werden, seine Staatsangehörigkeit zu wechseln. Artikel 16: 1. Heiratsfähige Frauen und Männer haben ohne Beschränkung auf Grund der Rasse, der Staatsangehörigkeit oder der Religion das Recht, zu heiraten und eine Familie zu gründen. Sie haben bei der Eheschliessung,

Umständen an, bevor sein Ziel erreicht sei. Am spektakulärsten sei die Bestie des amerikanischen Präsidenten, unaufhaltsam und unzerstörbar, ganz und gar gepanzert, bombensicher und so schwer, dass sie den Strassenbelag ruiniere. Eine Spur aus Schutt und Staub ziehe sie hinter sich her. Das will er sehen. Er sagt, er müsse mal. Die Lehrerin fragt ihn, wieso er eigentlich nicht auch weggefahren sei. Er zuckt mit den Schultern. «Hätten Sie dann heute frei?», fragt er. «Natürlich», denkt sie und hätte Lust, es herauszuschreien. Sie taucht ihre Arme so weit in den Putzeimer, dass Wasser oben in ihre gelben Gummihandschuhe läuft. Er sieht es. «Glotz nicht, geh», sagt die Lehrerin. Es wirkt wie ein Zauberspruch. Plötzlich kann er sich wieder bewegen. Und wie! Er dreht sich um und rennt in den Flur, erreicht die Treppe und nimmt abwechselnd zwei und sogar drei Stufen auf einmal, bis in den vierten Stock. Sein Herz schlägt schnell. Er drückt die Stirn gegen das Glas und sucht mit den Augen die leere Strasse ab. Sie ist gesäumt von silbernen Absperrgittern, die in der Sonne glitzern, und schwarzen Polizeiketten aus behelmten Beamten in schwarzen Einsatzoveralls, Männer und Frauen, ununterscheidbar. «Die Polizisten wären auch viel lieber zu Hause bei ihren Familien», sagte die Lehrerin vorhin. Aber zu Hause ist doch

während der Ehe und bei deren Auflösung gleiche Rechte. 2. Eine Ehe darf nur bei freier und uneingeschränkter Willenseinigung der künftigen Ehegatten geschlossen werden. 3. Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat. Artikel 17: 1. Jeder hat das Recht, sowohl allein als auch in Gemeinschaft mit anderen Eigentum innezuhaben. 2. Niemand darf willkürlich seines Eigentums beraubt werden.

Artikel 18: Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen. Artikel 19: Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäusserung; dieses Recht schliesst die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf

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gar keiner, dachte er. Die sind doch alle weg. Alle, nur er nicht. Der Himmel ist hellblau und klar. Es ist ganz still. Normalerweise ist das Treppenhaus der lauteste Ort der ganzen Schule, vermutlich sogar der ganzen Welt, Getrampel, Rufen und Schreien hallen heftig wider und vermischen sich zu einem Dröhnen, das er nun, so wenig er es mag, vermisst. Sein Puls hat sich beruhigt. Das Glas an seiner Stirn ist warm geworden. Es fällt ihm schwer, etwas zu finden, an dem sein Blick ankern kann. Plötzlich springen einige Gestalten ins Bild. Sie schieben die Absperrgitter auseinander und schlüpfen hindurch auf die Strasse, jetzt kann er sie zählen, es sind fünf. Es geht sehr schnell. Sie setzen sich mitten auf die Fahrbahn, dicht zusammen, ein Menschenklumpen, und halten

Schilder hoch, die sich gegenseitig verdecken. Jeder hat ein Schild, und auf jedem steht, so scheint es, etwas anderes. «FREI» steht auf einem. «SAMM» auf einem anderen, mehr kann er nicht erkennen. Ein Dutzend Beamte springt ebenfalls auf die Strasse. Kein Laut dringt ins Schulhaus, aber es sieht aus, als würde heftig gerufen, sowohl von einigen Polizisten als auch von den Demonstranten. Sie versuchen, ihre Schilder zu ordnen, sie drehen sie abwechselnd und tauschen sie untereinander. «LUNGS» ist jetzt zu erkennen, und «HEIT». «Sammlungs, Freiheit, hä?», murmelt er und fährt herum, als stehe jemand hinter ihm. Keiner da. Er wendet den Kopf wieder zur Strasse. Die Polizisten haben die sitzenden Demonstranten jetzt umringt. Ein einzelnes Schild ragt in die Höhe. «VER» kann er erkennen. Er kneift die Augen zusammen, als könne er dann besser denken. Da fällt ihm plötzlich die Bestie ein. «Vorsicht!», ruft er, aber keiner hört ihn. Er haut mit den Fäusten gegen das Glas. In seinem Kopf startet ein Film. Er sieht die Bestie heranrasen und die fünfköpfige Gruppe samt Schildern unter sich begraben. Er sieht aufgerissenen Asphalt, zerfetzte Körper, zersplittertes Holz. Er schreit, so laut er kann. Die Lehrerin steht hinter ihm, sie hat ihre gelben Gummihandschuhhände auf seine Schultern gelegt. Sie versucht, ihn zu beruhigen. Er macht sich steif und sieht starr nach unten auf die Strasse. Je zwei Polizisten haben einen Sitzprotestanten ergriffen und sind gerade dabei, sie einzeln von der Strasse zu tragen. Alle fünf wehren sich mit Händen und Füssen, schlagen aus und treten um sich. Die Lehrerin atmet geräuschvoll hinter ihm. Er hält die Luft an, bis die fünf hinter den Absperrgittern angekommen sind. Sie stellen sich in einer Reihe auf und recken die Schilder in die Höhe. «VER SAMM LUNGS FREI HEIT» liest er. Einer schaut zu ihm hoch. Kann er ihn sehen? Er winkt ihm zu. Die Lehrerin lässt ihn los.

Anmerkung: Am 7. und 8. Juli 2017 fand in Hamburg der G20-Gipfel statt. Obwohl offiziell die Schulpflicht aufrechterhalten wurde, zogen es die meisten Eltern in der Nähe zum Austragungsort des Gipfels vor, ihre Kinder nicht zur Schule zu schicken und Hamburg für ein verlängertes Wochenende zu verlassen. Bei dem angekündigten Grossaufgebot an Polizei und Sicherheitskräften stellte sich die Frage, ob die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger, namentlich das Recht auf Versammlungsfreiheit, in diesen Tagen des Ausnahmezustandes ebenso gut geschützt würden wie der Gipfel und seine Teilnehmer.

FOTO: LIEVEN YUL

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MONIQUE SCHWITTER, 1972, ist in Zürich geboren. Ihr Roman «Eins im Andern» wurde 2015 mit dem Schweizer Buchpreis und 2016 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Sie lebt in Hamburg.

Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.

2. Jeder hat das Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern in seinem Lande.

Artikel 20: 1. Alle Menschen haben das Recht, sich friedlich zu versammeln und zu Vereinigungen zusammenzuschliessen.

3. Der Wille des Volkes bildet die Grundlage für die Autorität der öffentlichen Gewalt; dieser Wille muss durch regelmässige, unverfälschte, allgemeine und gleiche Wahlen mit geheimer Stimmabgabe oder in einem gleichwertigen freien Wahlverfahren zum Ausdruck kommen.

2. Niemand darf gezwungen werden, einer Vereinigung anzugehören. Artikel 21: 1. Jeder hat das Recht, an der Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten seines Landes unmittelbar oder durch frei gewählte Vertreter mitzuwirken.

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Artikel 22: Jeder hat als Mitglied der Gesellschaft das Recht auf soziale Sicherheit und Anspruch darauf, durch innerstaatliche Massnahmen und internationale

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Fünf Zusätze in Lektionen. Bloß fünf, geht ja noch. Wird aber morgen abgefragt! TEXT DANIEL MEZGER

Lektion eins: Bilden Sie sich mal bloß nichts ein, alles, was Sie wissen, ist bloß angelernt. Es wurde Ihnen eingeflößt, erst mit der Mutter-, dann vor und nach der Pausenmilch, wurde Ihnen beigebracht, zugetragen, wurde Ihnen vorgesetzt, auf dass Sie es aufnehmen können, mundgerecht oder zumindest anbeißbar. Sie haben zugebissen, haben wiedergekäut, dürfen nun behaupten: Das kann ich ganz allein! Es sei hier gleich erwähnt: Geht mir genauso. Selbstverständlich kann ich eigenständig denken, eigenhändig schreiben, ein Recht auf DIY, und apropos Hände, hier die Fußnote: Es wird an dieser Stelle wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass Sie dies hier auch lesen können. Können Sie es nicht, dann verfassen Sie einen Brief an den Autor, erklären Sie ihm Ihre Lage, das heißt, beauftragen Sie eine Ihnen bekannte Person, die Obiges für Sie übernimmt oder das Vorlesen, warum den Umweg? Können Sie sich das vorstellen? Das meine ich ja, ich ebenso wenig. Aber es sei gesagt: Der Einfachheit halber tut für das vollumfängliche Verständnis dieses Textes die Kenntnis von bloß fünfundzwanzig Buchstaben Not, plus Sz und Umlauten, auf die Verwendung von Q wurde mit Ausnahme dieses Beispiels verzichtet, bei Y kam Pythagoras, bei X der Text in die Quere – ach, vergessen Sie, was ich gerade geschrieben habe, also sechsundzwanzig, dabei kenne ich doch selbst nur gängige Wörter. Lektion zwei, fangen wir mit Früher an: Sie erinnern sich doch noch, wie wir damals zusammen im Alpeninternat waren. Fokus Farbenlehre und Weltherrschaft. Sie

Zusammenarbeit sowie unter Berücksichtigung der Organisation und der Mittel jedes Staates in den Genuss der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen, die für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlich sind. Artikel 23: 1. Jeder hat das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf gerechte und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz vor Arbeitslosigkeit. 2. Jeder, ohne Unterschied, hat das Recht auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit.

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3. Jeder, der arbeitet, hat das Recht auf gerechte und befriedigende Entlohnung, die ihm und seiner Familie eine der menschlichen Würde entsprechende Existenz sichert, gegebenenfalls ergänzt durch andere soziale Schutzmassnahmen. 4. Jeder hat das Recht, zum Schutz seiner Interessen Gewerkschaften zu bilden und solchen beizutreten. Artikel 24: Jeder hat das Recht auf Erholung und Freizeit und insbesondere auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und regelmässigen bezahlten Urlaub.

wissen doch noch, dieser Lehrer, der, der Özlem meinte, wenn er erst von Hühnern sprach und später – um sie nachhaltig vom Tuscheln abzubringen und um bei uns Selbiges auszulösen (der Unterricht Chemie, das Thema also Kettenreaktionen) –, wie er sie später also mit den Worten adressierte, die Araber unter uns sollen doch den Gebetsteppich bitte vor der Tür ausbreiten. Von ihm haben wir einiges gelernt, kaum Chemie versteht sich (oder haben Sie sich die Sache mit den Kohlenstoffverbindungen tatsächlich gemerkt?), aber dass man nicht immer Zivilcourage zeigen kann, weil das Energie kostet und weil man diese ja noch braucht, wenn man ein paar Noten zu schreiben hat und später damit dahin will, wo die Musik spielt. Erinnern Sie sich an Latein, an den Geruch des Lehrers, der so längstverwest erschien wie die Sprache? Erinnern Sie sich, wie wichtig ihm die Verben waren und wie unwichtig Ihnen alle Wortgruppen außer die, die Sameira Ihnen auf Zetteln zusteckte? Erinnern Sie sich an das Turnen, die Hilfestellungen von Herrn Büttiker, Sie können die Stellen benennen, an denen er Sie berührt hat, Sie hatten ja auch Biologie. Erinnern Sie sich an Pythagoras und daran, wann Sie seinen Satz zum letzten Mal ausgesprochen haben? Genau, Technorama, um unbeeindruckt zu wirken, weil das doch Allgemeinbildung ist, das weiß nach Verlassen der Ausstellungsräumlichkeiten ja jedes Kind. In den Schlafräumen lernten wir aufzubleiben, lernten das Klettern aus Fenstern und dass dabei das Wichtigste war, später allgemein zu erzählen, wie man jeweils

Artikel 25: 1. Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschliesslich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige soziale Leistungen, sowie das Recht auf Sicherheit im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität oder Verwitwung, im Alter sowie bei anderweitigem Verlust seiner Unterhaltsmittel durch unverschuldete Umstände. 2. Mütter und Kinder haben Anspruch auf besondere Fürsorge und Unterstützung. Alle Kinder, eheliche wie aussereheliche, geniessen den gleichen sozialen Schutz.

Artikel 26: 1. Jeder hat das Recht auf Bildung. Die Bildung ist unentgeltlich, zum mindesten der Grundschulunterricht und die grundlegende Bildung. Der Grundschulunterricht ist obligatorisch. Fach- und Berufsschulunterricht müssen allgemein verfügbar gemacht werden, und der Hochschulunterricht muss allen gleichermassen entsprechend ihren Fähigkeiten offenstehen. 2. Die Bildung muss auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und auf die Stärkung der Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten gerichtet sein. Sie muss zu Verständnis,

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Toleranz und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen beitragen und der Tätigkeit der Vereinten Nationen für die Wahrung des Friedens förderlich sein. 3. Die Eltern haben ein vorrangiges Recht, die Art der Bildung zu wählen, die ihren Kindern zuteil werden soll. Artikel 27: 1. Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich an den Künsten zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Errungenschaften teilzuhaben.

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2. Jeder hat das Recht auf Schutz der geistigen und materiellen Interessen, die ihm als Urheber von Werken der Wissenschaft, Literatur oder Kunst erwachsen. Artikel 28: Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.

FOTO: JOS SCHMID

uns, aber wir waren ja auch nicht da. Wie hieß nochmals der Chemielehrer? War der nicht später im Großrat, hat der nicht Unhaltbares verkündet, wurde der Idiot nicht dann sogar wiedergewählt, glaubten wir wirklich, nur Ungebildete stimmten solcherlei zu? Wobei, Moment! Die Binnenlektion muss heißen: Man sollte aber doch bitte genau sein, muss die Begrifflichkeit präzise anwenden und fair, muss korrekt bezeichnen, ein Idiot war der nicht, der war ein Arschloch, da gilt es klar zu unterscheiden. Erstere wissen es nicht besser, Zweitere? Hätten alle Möglichkeit zum besser Wissen und handeln doch nicht danach. (Und dann gibt es noch die, die springen gleich in besagte Wissenslücken und füllen sie mit ihren Zwecken, aber wir schweifen ab, wer interessiert sich schon für Chemie?) Lektion fünf, die ist kurz, versprochen, dann aber endlich Pause: Ich radle an einem Graffiti vorbei (beim Schreiben will ich Word die korrekte Schreibweise dieser Schmiererei beibringen – Graffity – und werde eines Besseren belehrt, ah echt, weiterhin kaum Ypsilone im Text und keins im Wort und sie heißen auch nicht Ypsilone), ich radle also vorbei und lese «WARUM IST IHNEN KLIMAWANDEL EGAL?», ich verstehe, was gemeint ist, ich gebe der Sache in der Sache recht und kann mich doch nicht erwärmen, weiter darüber nachzudenken. Schlussaufgabe, Textverständnis: Wer ist nun hier – ach nein, der Gong, na dann lassen wir das für heute.

FOTO: ZVG

aus Fenstern geklettert sei, obwohl man nur einmal aus dem Fenster geklettert ist. Erinnern Sie sich an die Aussicht? Die Bergkämme? An die Eltern, die mit dem Auto vorfuhren am Wochenende und Gipfel benannten und die Tatsache, wie gut wir es hätten hier oben? Erinnern Sie sich an die Luft? Erinnern Sie sich an die Erinnerung an die Luft, als Sie Ihre Kinder auf den Berg gefahren haben? Recht schön war das da doch damals, dachten Sie. Habt euch nicht so, es ist das Beste für euch, glaubt mir, ihr werdet es uns später danken. Hatten Sie gesagt. Erinnern Sie sich, wie oft Sie denken, dass Sie halt mehr wissen als andere, dass es andere halt schwerer haben, dass man ihnen halt etwas beibringen müsste, damit sie etwas verstehen? Ich sage es ehrlich: Ich die ganze Zeit. Erinnern Sie sich, dass Sie sich nicht erinnern, wie Sie all das in Ihren Kopf hineinbekommen haben? Beschäftigt haben Sie sich doch eigentlich bloß mit Zettelchen, Kletterträumen und Pubertieren. Lektion drei: Da hinten am Tisch sitzt mein ehemaliger Deutschlehrer. Er ist täglich hier, liest erst den Tages-Anzeiger, die NZZ liegt bereit, aber bis er die in die Hand nimmt, bin ich meist schon fertig mit meinem Kaffee. Manchmal schaut er rüber, ein Lächeln, ich weiß nicht, ob er mich noch erkennt. Immer hat er die eine Hand an der Stirn, es scheint, er müsse nachdenken, er tut, als sei sein Lesen Arbeit. Noch immer trägt er dieselbe überkämmte Frisur, vergisst immer noch ab und an, die Fahrradklammer vom Hosenbein zu nehmen, manchmal scheint er aufzulachen bei einer Stelle im Text, man sieht nur, wie sich die Schultern zwei-, dreimal heben und senken, vielleicht hat er neuerdings auch Schluckauf, kann ja vorkommen, schließlich ist er bereits vor fünfzehn Jahren gestorben. Lektion vier: Hier soll es um die Bibliothek gehen, gehen wir dahin, zu unserem Lieblingsort, öffnen wir ein Fenster, ein neues, bilden wir uns weiter, weiter und noch weiter und noch eine Seite, ah hier, nein, der war ja gar nicht im Alpeninternat, alles nur gelogen, das merken wir

DANIEL MEZGER, 1978, Schriftsteller und nebenher Sänger bei «A Bang and a Whimper». Mit allerlei Preisen bedacht. Seine Stücke werden im gesamten deutschsprachigen Raum aufgeführt.

Svenja Herrmann, Ulrike Ulrich (Hrsg.): «Menschenrechte. Weiterschreiben. 30 literarische Texte zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.» Salis 2018. CHF 32.00

Artikel 29: 1. Jeder hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist.

3. Diese Rechte und Freiheiten dürfen in keinem Fall im Widerspruch zu den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen ausgeübt werden.

2. Jeder ist bei der Ausübung seiner Rechte und Freiheiten nur den Beschränkungen unterworfen, die das Gesetz ausschliesslich zu dem Zweck vorsieht, die Anerkennung und Achtung der Rechte und Freiheiten anderer zu sichern und den gerechten Anforderungen der Moral, der öffentlichen Ordnung und des allgemeinen Wohles in einer demokratischen Gesellschaft zu genügen.

Artikel 30: Keine Bestimmung dieser Erklärung darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person irgendein Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, welche die Beseitigung der in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten zum Ziel hat.

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«Nur so entsteht eine gleichberechtigte Gesellschaft» Porny Days Mit Filmen, die die Sexualität verhandeln, wird nicht nur die gängige Moral hinterfragt, sondern auch die gesellschaftliche Norm, findet Talaya Schmid. Sie ist Mitbegründerin und Co-Leiterin des Film Kunst Festivals Porny Days in Zürich.

FOTO: TANJA KOHLER

TEXT MONIKA BETTSCHEN

Erotische Adventskalender, «50 Shades of Grey» und eine riesige Porno-Industrie: Im Umgang mit der Lust hat sich eine Selbstverständlichkeit etabliert. Oder doch nicht? Sexualität wird zwar in grossem Stil vermarktet, aber mit einer tatsächlichen Selbstverständlichkeit im Umgang damit hat das wenig zu tun. Es wird uns eine bestimmte Vorstellung von Lust verkauft, die aber beim Erkunden und Ausleben der eigenen Lust kaum hilfreich ist. Was würde denn wirklich dabei helfen? Wir müssen wegkommen von klischierten Bildern, wie Sex sein müsste oder wie der ideale Körper auszusehen hat. Im August dieses Jahres erschien eine Studie des Kantonsspitals Luzern über das Aussehen der Vulva. Das Resultat: Es war den Wissenschaftlern nicht möglich, einen Standard festzulegen. Trotzdem unterziehen sich jedes Jahr Tausende Frauen einer Labioplastik, um einer nicht existierenden Norm ihres Geschlechts zu entsprechen. Viele Menschen haben Mühe, beim Thema Sex die Dinge beim Namen zu nennen. Um eine Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Körperlichkeit zu etablieren, müssen wir dafür eine Sprache entwickeln. Wir brauchen Vorbilder und die Möglichkeit, uns weiterzubilden. Es braucht einen Aufklärungsunterricht, der vor der Lust nicht halt macht und die Klitoris als weibliches Lustorgan anerkennt. Sexualität geht uns alle an, denn wir alle sind das Ergebnis einer sexuellen Begegnung.

Talaya Schmid geht es um eine offene Gesellschaft ohne Stigmatisierungen.

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Warum sind Fragen rund um Sexualität und Gender gerade derart angesagt? Die Gesellschaft löst sich von religiösen Vorschriften und damit auch von einem überholten Geschlechterverständnis. Ich hoffe, dass es mehr ist als nur ein Trend. Die Frage, die sich mir eher aufdrängt, ist: Surprise 438/18


Von grossem Interesse ist derzeit die weibliche Lust, wie man am Beispiel des Schweizer Dokumentarfilms «La Petite Mort» sieht, der an den Porny Days läuft. Was sagt dies über die Offenheit der Gesellschaft aus? Ich finde, es sagt wenig über die Offenheit der Gesellschaft aus. Das Wort Offenheit würde ja suggerieren, dass man besonders offen sein muss, um sich für eine weibliche Sexualität zu interessieren. Dass das Interesse an der weiblichen Lust erst jetzt und nur punktuell plötzlich so gross wird, sagt eher etwas darüber aus, dass die Offenheit in der Gesellschaft bis anhin nicht sehr gross war. Ich finde es essenziell, dass die weibliche Sexualität ihren Platz erhält und endlich benannt wird. Nur so kann überhaupt irgendwann einmal eine gleichberechtigte Gesellschaft entstehen. Wie offen sind wir heute innerhalb einer Beziehung? Das ist sehr individuell. Im Umfeld der Porny Days hat sich aber seit der Gründung des Festivals vor sechs Jahren viel getan, unterschiedliche Beziehungsformen werden viel offener diskutiert. Viele Menschen interessieren sich für alternative Konzepte wie Polyamorie oder die offene Beziehung. Nur weil man etwas Neues ausprobiert, verpflichtet man sich nicht lebenslänglich dazu. Die Menschen wissen, dass sie bei uns neue Beziehungskonzepte kennenlernen können. Davor gab es kaum die Möglichkeit, sich über die verschiedenen Spielarten auszutauschen. Durch die Zusammenarbeit mit anderen bilden sich Netzwerke, sie unterstützen sich gegenseitig. Der Verein Zwischenwelten hinterfragt mit Workshops die gängige Sexualmoral, der Verein Les Belles De Nuit setzt sich für die Förderung von Frauen und Minderheiten in der elektronischen Musik- und Kulturszene ein. Die Community wächst und wird vielfältiger. Die Allgegenwart von Erotik kann Druck erzeugen. Wir wollen genau diesen von den Medien und der Gesellschaft erzeugten Druck abbauen, indem wir zeigen, dass es keine vorgefertigte Sexualität gibt und jeder Mensch seine eigene Lust leben kann, ohne dafür stigmatisiert zu werden. Surprise 438/18

FOTOS: ANNIE GISLER

Wie werden Sexualität und Gender in den Medien diskutiert? Es muss dabei um mehr gehen als um blosse Effekthascherei.

Weiblicher Orgasmus in sinnlichen Bildern: Annie Gislers «La Petite Mort».

Ist die sexuelle Lust denn eine Voraussetzung für ein erfülltes Leben? Nicht die Lust an sich, sondern vielmehr das freie Ausleben der eigenen Sexualität. Und das kann auch bedeuten, auf Sexualität zu verzichten. Die Künstlerin Valérie Reding leistet gerade einen aktiven Beitrag zur Diskussion rund um Asexualität und andere sexuelle Orientierungen.

Fall. Noch immer gibt es viele Vorurteile. Dass es aber eine wachsende Diskussion darüber gibt, hat nicht zuletzt mit Plattformen wie den Festivals Porny Days und Luststreifen, dem queeren Kulturfestival Lila.18 oder dem Verein Zwischenwelten zu tun, die diese Themen aus dem Untergrund in die Öffentlichkeit holen. Durch die Verschmelzung mit Kunst werden diese Inhalte positiv besetzt.

Homosexualität zwischen Männern war im antiken Griechenland gesellschaftlich toleriert. Wovon hängt es ab, wer wann wo mit seiner sexuellen Präferenz akzeptiert wird? Das hat und hatte gesellschaftspolitische, wirtschaftliche oder religiöse Gründe, wie zum Beispiel Unwissenheit, religiöse Überzeugungen oder strikte Geschlechternormen. Man muss aber gar nicht so weit zurückgehen. In den ersten Pornofilmen aus den Zwanzigerjahren liebkosen Frauen Frauen und Männer Männer, obwohl Homosexualität gesellschaftlich nicht toleriert war. Daran sieht man, wie schnell Bilder und Sichtbarkeit ein Umdenken anregen können.

Gerade die Diskussion um sexuelle Ausrichtungen, die an sich Randerscheinungen sind, hat in den letzten Jahren zugenommen. Das finden viele auch unverhältnismässig. Vielleicht liegt es daran, dass vieles in unserer Gesellschaft davon abhängt, ob man es klar zuordnen kann. Viele Feindbilder wären gar nicht möglich, wenn sie nicht klar definierbar wären als bestimmte Religion, Herkunft, Klasse – oder eben als bestimmtes Geschlecht. Solch ein Denken ist in einer so vernetzten Gesellschaft wie der unseren nicht mehr zeitgemäss. Nur weil ein Thema einen nicht direkt betrifft, heisst das nicht, dass es nicht wichtig ist.

Haben Sie den Eindruck, Homosexualität ist heute anerkannt? Auf den ersten Blick scheint es so, aber das ist nur an wenigen Orten tatsächlich der

Porny Days, Film Kunst Festival Zürich, Do, 22. bis So, 25. November, RiffRaff, Walcheturm, Kosmos, 25hours Hotel und andere Spielstätten in Zürich. www.pornydays.ch

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BILD: VARDI, CASTERMAN

Tardi, Elender Krieg, 2013

Tardi zeichnet uns ein Bild des Krieges Ausstellung In Jacques Tardis semidokumentarischen Comics stehen Menschen im Mittelpunkt, die sonst keine Aufmerksamkeit erhalten. Das Cartoonmuseum Basel zeigt eine Retrospektive. TEXT MICHAEL GASSER

Jacques Tardi zählt zu den weltweit einflussreichsten Comiczeichnern. «Er hat einen sehr klaren, eigenen und detaillierten Stil und ist unverändert aktuell», sagt Anette Gehrig, Direktorin des Cartoonmuseums Basel und Co-Kuratorin der Ausstellung «Le Monde de Tardi». Zentrales Thema des Franzosen ist der Krieg. Seine semidokumentarischen Schlüsselwerke beschäftigen sich insbesondere mit den Leiden von einfachen Weltkriegssoldaten – dem sogenannten Kanonenfutter. «Im Mittelpunkt stehen jene Menschen, die sonst keine Aufmerksamkeit erhalten», sagt Gehrig. «Die Auseinandersetzung mit dem Krieg ist in Tardis Werk allgegenwärtig und drückt selbst bei seinen Adaptionen der Krimis von Léo Malet durch, die im Paris der Fünfzigerjahre angesiedelt sind.» Während Tardi in den Bänden «Grabenkrieg» und «Elender Krieg» reale Kriegserfahrungen seines Grossvaters verarbeitet hat, setzt er sich in einer aktuellen Serie, «Ich, René Tardi, Kriegsgefangener im Stalag IIB», mit den traumatisierenden Erlebnissen seines Vaters auseinander. Dieser wurde im heutigen Polen fünf Jahre lang gefangen gehalten und schlug sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und einem erzwungenen Gewaltmarsch durch Deutschland zu Fuss in Richtung Heimat durch. «Das verdeutlicht, dass Tardis ganze Familie vom Krieg geprägt worden ist», so Gehrig. Der mittlerweile 72-jährige Künstler verstehe es, das Grauen des Krieges ebenso historisch akkurat wie aufwendig wiederzugeben und mit einer lakonischen Sprache zu verbinden. Tardi, ein bekennender Linker, beschäftigt sich unermüdlich auch mit dem aktuellen politischen und gesellschaftlichen Leben. Das schlägt sich in ätzenden Illustrationen, Karikaturen und Cartoons für Publikationen wie die Zeitung Libération oder das Magazin Charlie Hebdo nieder. Der Zeichner scheut dabei keineswegs davor zurück, seine Gesinnungsgenossen zu kritisieren und die eigenen Positionen zu hinterfragen. Inzwischen sitzt Tardi seit 24

über 50 Jahren an seinem Œuvre, das er als sein Lebenselixier bezeichnet. Er hat mehr als 50 Bücher publiziert, sein nächstes Werk erscheint im kommenden Februar auf Deutsch. Es ist die Fortsetzung seiner «Stalag»-Serie, von der sich Anette Gehrig ganz besonders berührt zeigt. «Weil Tardi sich darin als imaginiertes Kind zeichnet, das seinen Vater im Leiden und auf seiner Odyssee begleitet.» Die Retrospektive im Cartoonmuseum Basel präsentiert über 200 Originalzeichnungen und zeigt auch weniger bekannte Arbeiten – wie Tardis politische Zeichnungen und Kinoplakate, etwa zu Filmen mit Charlie Chaplin oder John Wayne. Comics als Kunstform etablieren Gerade Jacques Tardis Werk zeigt, dass Comics nicht bloss der Unterhaltung dienen müssen. Ein Verständnis, das sich hierzulande sehr verzögert durchgesetzt hat. «Es ist immer noch so, dass das Angebot im französisch- und englischsprachigen Raum erheblich grösser ist als bei uns, aber gerade in der Schweiz hat sich seit den Neunzigerjahren sehr viel getan. Comics gelten heute als eigenständige Kunstform, und ihr Stellenwert hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verbessert», sagt Anette Gehrig. Man wolle die Comics künftig noch stärker an die Öffentlichkeit tragen. Zu diesem Zweck hat das Cartoonmuseum Basel gemeinsam mit den Comic-Festivals Fumetto in Luzern und dem Festival de bande dessinée BDFIL in Lausanne sowie dem Kanton Genf in diesem Frühjahr das Comic-Netzwerk Schweiz gegründet. Im Zentrum steht dabei eine Online-Plattform, auf der sich Akteure der Schweizer Comicszene austauschen können. «Das Netzwerk will dazu beitragen, dass Comic als eigene Kunstform zwischen Literatur und bildender Kunst breiter bekannt wird », sagt Gehrig. «Le Monde de Tardi», bis So, 24. März 2019, Cartoonmuseum Basel, St. Alban-Vorstadt 28. www.cartoonmuseum.ch

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Rückschau an der Endstation

Reise nach Erfahrungen

Theater «Time of my Life» ist ein Theaterprojekt.

Valerio Vidali schlagen die Seiten das Tagebuch eines ganzen Lebens auf.

Buch In «Hundert» von Heike Faller und

Und eine Art Blinddate mit älteren Menschen.

In dem wunderbaren Kinderbuch «Ein Schaf fürs Leben» von Maritgen Matter überredet der Wolf das Schaf zu einer Reise nach Erfahrungen. Doch obwohl der Wolf Böses im Schilde führt, nimmt die Geschichte ein unerwartet glückliches Ende. Denn so ist das nun mal, wenn man sich nach Erfahrungen aufmacht: Was einen dort erwartet, ist offen. So offen wie das, was das Leben für uns bereithält. Das ging auch der Autorin Heike Faller durch den Kopf, als sie sich über ihre neugeborene Nichte beugte. Und so schreibt sie: «Was für eine merkwürdige Reise dich erwartet, dachte ich. Halb beneidete ich sie um all die grossartigen Dinge, die vor ihr lagen, halb tat sie mir leid, wegen der schmerzlichen Erfahrungen, die sie auch würde machen müssen.» Doch wie nimmt man diese Erfahrungen wahr? Und wie ändern sich die Wahrnehmungen von der Welt und von einem selbst? Und vor allem: Was lernt man dabei? Nun gab es aber viele Erfahrungen, die Heike Faller selber noch nicht gemacht hatte. Und so versuchte sie, diese Lücken zu schliessen, indem sie die unterschiedlichsten Menschen befragte, Alte und Junge, Arme und Reiche. Einen ehemaligen Generaldirektor eines DDR-Kombinats, eine Flüchtlingsfamilie in Istanbul, einen Abiturienten in Nigeria, eine 94-jährige Schriftstellerin in London, und viele mehr. Entstanden ist dabei ein anregendes, berührendes und liebevoll illustriertes Buch, das in schlichten, knappen Sätzen etliche dieser Erfahrungen wie in einer Art Tagebuch des Lebens aneinanderreiht. Wobei jeder dieser Tage einem Jahr entspricht. Ausser in den ersten Lebensjahren: Dass die Zeit rast, diese Erfahrung schleicht sich erst später heran. Es beginnt mit einfachen Eindrücken: vom ersten Lächeln, das erwidert wird, vom Alles-festhalten-Wollen und der Schwerkraft bis hin zu Vertrauen, Neugierde und Langweile. Doch allmählich wird alles differenzierter und komplizierter: Skepsis und Peinlichkeit, die Tiefe des Weltalls oder die erste Liebe und der erste Kuss. Und bald einmal, vielleicht mit 20, blickt man zurück, und das Leben mit 15 kommt einem unendlich weit weg vor. Zweifel und Probleme, Sorgen, Stress und unerfüllte Träume gesellen sich dazu, aber auch das Glück an kleinen und grossen Dingen. Irgendwann wird die Nase grösser und die Ohren auch, du lebst mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart, die Frage drängt sich auf: Was, wenn nicht die Jahre zählen, sondern die genossenen Momente? Und während wir durch all die Jahre blättern, zieht sich wie ein roter Faden Brombeermarmelade durch dieses Buch, das sich wohl für jedes Alter bestens als Geschenk eignet.

FOTO: MANUEL BÜRKLI

Die Regisseurin Antje Schupp hat als Angehörige miterlebt, wie es ist, wenn sich Menschen auf dem letzten Lebensabschnitt befinden. Für die Produktion «Time of my Life» hat sie sich nun in persönlichen Gesprächen eingehend mit Bewohnerinnen und Bewohnern des Basler Pflegehotels St. Johann beschäftigt und ihre Lebensgeschichten niedergeschrieben – quasi als Ghostwriter für jene, die ihre Memoiren nicht mehr selbst verfassen können. So ist ein kleines Buch entstanden, und an einem Abend und zwei Nachmittagen erzählen die Seniorinnen und Senioren ihre Geschichten auch selbst. Vor Ort, im Pflegehotel St. Johann. «Man kann sich das fast wie ein Blind Date vorstellen», sagt Schupp. «Die älteren Menschen sitzen an Tischen, man kann ihnen Fragen zu ihrem Leben stellen und kommt so miteinander ins Gespräch.» Es wird um individuelle Lebensgeschichten gehen, ums Älterwerden im Allgemeinen und ums Leben in einem Pflegeheim im Speziellen. «Mir war es wichtig, mit den Beteiligten auch künstlerisch durch diesen Prozess zu gehen und eine Reflexion über das eigene Leben anzuregen», sagt Schupp. Anhand der Biografien werden auch gesellschaftliche Veränderungen sichtbar: «Früher war es üblich, dass die Frau aufhörte zu arbeiten, sobald Kinder da waren. Eine Frau, die trotz Ehe und Kindern weiterarbeitete, war ungewöhnlich oder begegnete Skepsis. Interessanterweise haben aber die meisten Gesprächspartnerinnen diesen aussergewöhnlicheren Weg gewählt.» Was alle Memoiren gemeinsam haben, ist die Auseinandersetzung mit dem Hier und Jetzt: «Alle mussten ihr gewohntes Umfeld, ihre Wohnungen, in denen sie teilweise fast ihr ganzes Leben verbracht haben, verlassen und leben jetzt im Pflegeheim. Die Leute wissen: Das Pflegeheim ist eine ‹Endstation›, wie sie es selbst bezeichnen», sagt Schupp. «Dieser emotionale und zeitintensive Prozess der Auseinandersetzung mit dem Leben und der neuen Situation kommt in den Memoiren, aber auch in den einzelnen Gesprächen klar zum Ausdruck». Die Publikation mit den Lebensgeschichten kann man vor Ort bei den Aufführungen erwerben. JOSHUA GUELMINO

Alter ist: Übersicht im Hier und Jetzt.

«Time of my Life», ein Projekt des Wildwuchs Festivals Basel, Fr, 23. November, 19 Uhr, Sa, 24 und So, 25. November, jeweils 15 Uhr. Podiumsdiskussion Sa, 24. November, 13.30 Uhr, Pflegehotel St. Johann, St. Johanns-Ring 122, Basel. Reservation unter matthaeus@wildwuchs.ch empfohlen. www.wildwuchs.ch

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BILD: ZVG

CHRISTOPHER ZIMMER Heike Faller/Valerio Vidali: Hundert. Was du im Leben lernen wirst. Kein & Aber 2018. CHF 29.90

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BILD(1): SEBASTIAO SALGADO  /   A MAZONAS IMAGES, BILD(2): BASEL ABBAS UND RUANNE ABOU-RAHME, BILD(3): ZVG BILD (4): SIGI WINTERBERG BILD (5): FORSCHUNGSTEAM TIMES OF WASTE

Veranstaltungen Zürich «Sebastião Salgado: Genesis», Ausstellung, bis So, 23. Juni 2019, Museum für Gestaltung Zürich, Ausstellungsstrasse 60. museum-gestaltung.ch

Das Werk des französisch-brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado ist so beeindruckend, dass Wim Wenders es 2014 im Film «Das Salz der Erde» bildgewaltig in Szene setzte. Nun wird das Pathos der schwarz-weissen Bilder vom Titel der Ausstellung im Museum für Gestaltung noch befeuert: «Genesis» ist ein dramatisches Manifest, ein Aufruf mit Ausrufezeichen, den Blick für die Schönheit unserer Welt zu öffnen. Es ist ein Blick, den man uns Menschen mit gutem Recht abfordern darf. Oder muss. Nicht mit Argumenten, sondern mit dem Gefühl: Hier geht es um etwas Grosses, das es zu schützen, retten – und zu bestaunen gilt. Sebastião Salgado war für seinen fotografischen Essay in über 30 Reisen zu allen Enden der Welt unterwegs und bringt uns genau dieses Gefühl nach Hause, vor unsere Haustür. DIF

Aarau «Digitale Narrationen. The way your blue light lights my face in the dark», Ausstellung, bis So, 6. Januar 2019, Forum Schlossplatz, Schlossplatz 4. forumschlossplatz.ch

Es geht um die poetische Verschmelzung, wenn nachts das kühle Licht des Monitors unser Gesicht berührt. Es geht um die tragische Liebe zwischen User und Device, es geht wieder einmal um das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. In Aarau aber nun unter einem neuen Aspekt: Das Digitale in unserem Leben beeinflusst auch die Art und Weise, wie wir Geschichten erzählen. Das Denken wird vernetzter, Erzählstrukturen brechen auf, werden

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non-linear, und die Möglichkeiten, Bild und Text zusammen zu denken, werden grösser. Das postmoderne Zitieren und Sampeln war da erst ein Anfang. Mit Copy-Paste wurde die Frage nach der Autorschaft neu gestellt, und mit Bots, Algorithmen und künstlicher Intelligenz wird die Urheberschaft ebenso spannend wie ungreifbar. Das Feld ist weit wie www. Mit dabei ist natürlich wieder die !Mediengruppe Bitnik. Aber sie sind längst nicht mehr die Einzigen, die sich intensiv unserer kollektiven digitalen Seele widmen. DIF

Basel «Macht und Verwund­ barkeit: Propagandagesprä­ che mit Boris Nikitin», Gesprächsreihe, Teil 2: Exit, Mo, 26. November, 20 Uhr, Rossstall II, Kaserne Basel, Klybeckstr. 1b, Eintritt frei. kaserne-basel.ch Am Anfang jeder öffentlichen Veränderung steht ein Coming-out, findet der Schweizer Theaterregisseur Boris Nikitin, und damit hat er sicher nicht unrecht. Irgendeiner muss sich zeigen, ausstellen, sicht-

bar machen. Und sich damit erst mal verletzlich machen, würde man meinen. Doch etwas spielt bei einem Coming-out eine wesentliche Rolle: die Umwertung dieser Verletzlichkeit zu einer Fähigkeit. Zur Fähigkeit, hinzustehen – für ganz viele, denen es gleich ergeht. Und dabei zu wissen, dass man damit im besten Fall hier und jetzt eine gesellschaftliche Erschütterung auslöst. Nikitin redet mit einer Sterbebegleiterin über das grösste aller Coming-outs: sterben zu wollen. Im Dezember folgt ein Gespräch über politische Provokation und unberechenbare Reaktion mit dem ehemaligen Neonazi Christian Weissgerber, im Januar redet Nikitin mit Milo Rau über Theater und Propaganda. Weitere Gespräche ab Februar 2019. DIF

Basel «Muda Mathis, Sus Zwick und Hipp Mathis: L’univers de Germaine», Ausstellung, bis So, 6. Januar, Di bis So 11 bis 17 Uhr, Kunsthaus Baselland, St. Jakob-Strasse 170, beim Stadion St. JakobPark, Muttenz/Basel. kunsthausbaselland.ch

des 20. Jahrhunderts wären ein spannendes Thema für sich). Winterberg war selbsternannte Forscherin und Ethnologin, Nonkonformistin, Mutter und Ehefrau, Lehrerin für aussereuropäische Textilkunde, Boutique-Betreiberin und neugierige Menschenfreundin. Die Künstlerinnen Muda Mathis und Susa Zwick und der Filmer Hipp Mathis skizzieren Germaine Winterbergs Leben in einem dreiteiligen Videoprojekt, das ihren Blick auf das Leben spürbar macht. Hier wird historisches Material mit mündlicher Erzählung verwoben, es werden musikalische Kompositionen eingeflochten, und eine grosse Projektion zum Thema Trance setzt Germaine Winterberg als Tänzerin in Szene. Die Rauminstallation als feines Gewebe, das eine vielschichtige Persönlichkeit ausmacht. DIF

Winterthur «Times of Waste – Was übrig bleibt», Ausstellung, bis So, 17. März 2019, Di bis So 10 bis 17 Uhr, Do 10 bis 20 Uhr, Gewerbemuseum, Kirchplatz 14. gewerbemuseum.ch «Times of Waste» verfolgt die Transportwege und Recyclingrouten eines Smartphones und seiner Bestandteile. Sie führen zu Deponien und Schreddern, in Reparaturwerkstätten, Forschungslabors, zu Menschen und Materialien. Die multimediale Ausstellung zeigt: Der Abfall, der anfällt, ist unvermeidlich. Und er stellt Fragen. Nämlich solche nach Handlungsmöglichkeiten in Zeiten des Elektroschrotts. Daran scheiden sich die Geister, und spätestens jetzt wird klar: Abfall ist politisch. Und er ist Ausdruck von sozialen Gegebenheiten. DIF

Die Baslerin Germaine Winterberg, heute 82 Jahre alt, ist eine weit gereiste Frau und schillernde Persönlichkeit. Sie hat Reiseberichte geschrieben ebenso wie die bekanntere Pionierin Annemarie Schwarzenbach oder Ella Maillard und Alice Boner (die reisenden und schreibenden Schweizer Frauen

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ILLUSTRATION: SARAH WEISHAUPT

Agglo-Blues

Folge 21

Zurück zum Start Was bisher geschah: Vera Brandstetter fährt an den Ort zurück, wo der Mordfall Schwander seinen Anfang nahm, um einen Zeugen zu treffen, der das Opfer in einem rechtsradikalen Internetforum kennengelernt hat. Brandstetter war froh, als sie den Computer ausschalten konnte, und ging zum Bahnhof. Es war Stosszeit, die Menschen hatten es eilig. In der S-Bahn eingepfercht fragte sie sich, wer von den Pendlern, die aufs Handy starrten und Stöpsel in den Ohren trugen, die im Forum vertretenen Ansichten teilte. Die streng geschminkte Enddreissigerin mit dem Pferdeschwanz, die Markenkleider trug? Der unscheinbare, alterslose Mann mit dem Monatshaarschnitt, der Fielmannbrille, den Versandhaushosen und der Allzweckjacke? Der glatzköpfige Fünfziger in der gefütterten Lederjacke, den Levis 501 und 250-Franken-Turnschuhen, dessen Augen unruhig durchs Abteil flitzten? Der Jugendliche mit dem schwarzen Kapuzenpulli und den grau gemusterten Tarnhosen? Es war unmöglich herauszufinden, doch immerhin verkürzte ihr das Spiel die Reisezeit. Brandstetter interessierte sich nicht für Politik. Die Linken redeten ihr zu belehrend daher. Ihre Ansicht, dass die Leute sich vernünftig und rücksichtsvoll verhalten würden, wenn man ihnen die Sache nur richtig erklärte, hielt sie für weltfremd. Weil sie nicht zurück an den Herd wollte und sah, dass soziale Einrichtungen eine positive Wirkung hatten, dass Frauenhäuser notwendig waren, konnte sie mit den Rechten, die sich immer in den Dienst der Reichen stellten, auch nicht viel anfangen. Abstimmungsunterlagen wanderten mit einem kurzen Anflug von schlechtem Gewissen ungeöffnet ins Altpapier, so wie bei der Mehrheit der Stimmberechtigten. Als sie zum zweiten Mal innert einer Woche auf den Parkplatz beim Schnabelweiher fuhr, stand dort bereits der Mercedes, den sie vor dem Happy Valley Salon gesehen hatte. Der Mann, der ausstieg, trug einen teuren Anzug, der seine untersetzte Statur gut kaschierte, dazu blank polierte Lederschuhe. Sie fragte sich, was er sich dabei gedacht hatte, hier draussen abzumachen. Eine Volksweisheit besagte, dass der Täter an den Tatort zurückkehrt. Das hatte sich bei ihrer Arbeit nicht bestätigt. Surprise 438/18

«Wir können uns in meinem Wagen unterhalten, da sind wir ungestört», schlug Delbosco vor. Brandstetter zögerte einen Moment. Als kleines Mädchen war ihr eingebläut worden, nicht zu fremden Männern ins Auto zu steigen. Die schlechtesten Erfahrungen hatte sie allerdings gemacht, wenn sie zu Männern ins Auto gestiegen war, die sie kannte. Halsbrecherische Rauschfahrten mit Beinahunfällen, endlose Umwege, Zudringlichkeiten oder, zuletzt, das Stehengelassenwerden auf einem Restaurantparkplatz. Immerhin hatte sie dabei Thorsten kennengelernt. «Sie sitzen vorne auf dem Beifahrersitz, ich steige hinten ein», sagte sie streng. Delbosco wollte etwas entgegnen. «Sicherheitsvorschriften», log sie, und er gehorchte. Die Sitze waren mit cremefarbenem Leder bezogen, der Wagen roch angenehm neu. Das Autoradio war eingeschaltet, klassische Musik drang in angenehmer Lautstärke aus unsichtbaren Lautsprechern. In Gangsterfilmen war das eine Massnahme, mit der Tonaufnahmen verhindert werden sollten. Ob er daran glaubte? «Ich bin kein Nazi, ich bin nicht einmal rechtsextrem, das möchte ich klarstellen», begann Toni Delbosco. Brandstetter musste an den Kollegen denken, der sich mit politischem Extremismus befasste. «Rechtsextreme streiten grundsätzlich ab, rechtsextrem zu sein. Linksextreme hingegen verweisen stolz auf ihren exakten ideologischen Hintergrund, Anarchosyndikalisten wollen auf keinen Fall mit Leninisten-Maoisten verwechselt werden», hatte er ihr erklärt. «Was ich in dem Forum gelesen habe, würde ich schon als extrem bezeichnen.» «Sie haben wahrscheinlich nur die obersten paar Threads gelesen. Da gebe ich Ihnen recht, da tummeln sich allerlei Rechtsradikale. Ich interessiere mich ganz einfach für Geschichte. Für die Geschichte, die in der Schule nicht gelehrt wird, für die verbotenen Auslegungen und verheimlichten Wahrheiten, die in den Medien totgeschwiegen werden. Solche Sachen findet man zwangsläufig an den politischen Rändern. Die Linken haben zum Beispiel eine Menge über die konzentrierte Medienmacht und den militärisch-industriellen Komplex zu sagen, der die öffentliche Meinung manipuliert.» «Haben Sie sich darüber mit Reto Schwander ausgetauscht?» Delbosco schüttelte den Kopf.

STEPHAN PÖRTNER schreibt und lebt in Zürich. Alle bisher erschienenen Folgen des Fortsetzungskrimis gibt es zum Nachlesen und -hören unter www.surprise.ngo/krimi

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IND 0.– S AB 50 ABEI! SIE D

Die 25 positiven Firmen Unsere Vision ist eine solidarische und vielfältige Gesellschaft. Und wir suchen Mitstreiterinnen, um dies gemeinsam zu verwirklichen. Übernehmen Sie als Firma soziale Verantwortung. Unsere positiven Firmen haben dies bereits getan, indem sie Surprise mindestens 500 Franken gespendet haben. Mit diesem Betrag unterstützen Sie Menschen in prekären Lebenssituationen dabei auf ihrem Weg in die Eigenständigkeit. Die Spielregeln: 25 Firmen oder Institutionen werden in jeder Ausgabe des Surprise Strassenmagazins sowie auf unserer Webseite aufgelistet. Kommt ein neuer Spender hinzu, fällt jenes Unternehmen heraus, das am längsten dabei ist. 01

VXL gestaltung und werbung AG, Binningen

02

Steuerexperte Peter von Burg, Zürich

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Burckhardt & Partner AG, Basel

04

freigutpartners IP Law Firm, Zürich

05

Hervorragend AG, Bern

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Praxis Colibri, Murten

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Sublevaris GmbH, Brigitte Sacchi, Birsfelden

08

SBB Angebotsgestaltung Langstrasse, Zürich

09

Stoll Immobilientreuhand AG, Winterthur

10

Anyweb AG, Zürich

11

Leadership LP3 AG, Biel

12

Echtzeit Verlag, Basel

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Maya-Recordings, Oberstammheim

14

Gemeinnütziger Frauenverein, Nidau

15

Scherrer & Partner GmbH, Basel

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Madlen Blösch, GELD & SO, Basel

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Velo-Oase, Erwin Bestgen, Baar

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Lotte’s Fussstube, Winterthur

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Cantienica AG, Zürich

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Arbeitssicherheit Zehnder GmbH, Zürich

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Brother (Schweiz) AG, Dättwil

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Kaiser Software GmbH, Bern

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Coop Genossenschaft, Basel

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Fischer + Partner Immobilien AG, Otelfingen

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Proitera betriebliche Sozialberatung, Basel

Möchten Sie bei den positiven Firmen aufgelistet werden? Mit einer Spende ab 500 Franken sind Sie dabei. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 Surprise, 4051 Basel Zahlungszweck: Positive Firma und Ihr gewünschter Namenseintrag Sie erhalten von uns eine Bestätigung. Kontakt: Nicole Huwyler Team Marketing, Fundraising & Kommunikation T +41 61 564 90 50 I marketing@surprise.ngo

SURPLUS – DAS NOTWENDIGE EXTRA Das Programm

Wie viele Surprise-Hefte müssten Sie verkaufen, um davon in Würde leben zu können? Hätten Sie die Kraft?

Wussten Sie, dass einige unserer Verkaufenden fast ausschliesslich vom Heftverkauf leben und keine Sozialleistungen vom Staat beziehen? Das fordert sehr viel Kraft, Selbstvertrauen sowie konstantes Engagement. Und es verdient besondere Förderung. Mit dem Begleitprogramm SurPlus bieten wir ausgewählten Verkaufenden zusätzliche Unterstützung. Sie sind mit Krankentaggeld und Ferien sozial abgesichert und erhalten ein Nahverkehrsabonnement. Bei Problemen im Alltag begleiten wir sie intensiv.

Eine von vielen Geschichten Der Weg in die Armut führte für Daniel Stutz über die Sucht. Als Jugendlicher rutschte der heute 44-Jährige in die Spielsucht und später in den Konsum harter Drogen. Dank einer Therapie schaffte er vor 7 Jahren den Ausstieg. Geblieben ist dem Zürcher Surprise-Verkäufer und -Stadtführer ein Schuldenberg. «Den Weg aus der Sucht habe ich hinter mir, der Weg aus der Armut liegt noch vor mir», beschreibt Daniel seine Situation. SurPlus gibt ihm dabei Rückenwind: «Es ermöglicht mir hin und wieder Ferien. Ausserdem bedeutet es, auch einmal krank sein zu dürfen – ohne gleich Angst haben zu müssen, die Miete oder Krankenkasse nicht zahlen zu können.»

Die ganze Geschichte lesen Sie unter: surprise.ngo/surplus

Unterstützen Sie das SurPlus-Programm mit einer nachhaltigen Spende Derzeit unterstützt Surprise 14 Verkaufende des Strassenmagazins mit dem SurPlus-Programm. Ihre Geschichten stellen wir Ihnen hier abwechselnd vor. Mit einer Spende von 6000 Franken ermöglichen Sie einer Person, ein Jahr lang am SurPlusProgramm teilzunehmen.

Unterstützungsmöglichkeiten: · 1 Jahr: 6000 Franken · ½ Jahr: 3000 Franken · ¼ Jahr: 1500 Franken · 1 Monat: 500 Franken · oder mit einem Beitrag Ihrer Wahl.

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Wir alle sind Surprise Stadtrundgang Bern

#435: Liebe verkaufen

«Die alte Leier»

«Schonungslos»

#435: Liebe verkaufen

#435: Liebe verkaufen

«Bewegend»

«Ungute Verzerrung»

Ein grosses Lob! Ich fand das Heft als Sonntagmorgen-Lektüre vom Anfang bis zum Schluss lesenswert und bewegend. «Neue Wege zu gehen und ein Leben abseits staatlicher Hilfe zu gestalten»: Ich kenne keine andere schweizerische Institution, die dieses Motto so umsetzt wie Surprise. Wobei staatliche Hilfe genauso notwendig ist und bleibt wie private.

Liebe kann man weder kaufen noch verkaufen! Liebe kann nur freiwillig geschenkt oder empfangen werden. Sex kann man kaufen und verkaufen (die Menschen in der Prostitution tun dies allerdings oft keineswegs freiwillig!), aber dies ist eine ungute Verzerrung dessen, was Sex eigentlich sein sollte und auch sein kann: ein Ausdruck gegenseitiger Liebe und Hingabe.

Das Editorial hat mich sehr irritiert. «Geht meinetwegen ins Puff ...»? Nein, sie sollen eben nicht ins Puff. Das bedeutet, dass Menschenrechte bei Frauen verletzt werden. Warum wird dies weiterhin übergangen? Warum haben grosse Länder wie Frankreich und andere den Sexkauf verboten? Weil es Zeit ist, diesen Schritt zu machen und nicht weiterhin die alte Leier zu verbreiten: «Ja, das hat es immer schon gegeben, es ist das älteste Gewerbe der Welt.» Eine Frau kann keine Geborgenheit und Nähe erfahren als Prostituierte, sie wird benutzt. Aber Männer sollen das Recht haben, diese zu kaufen? Ich bin schockiert.

E. STADLER R AHMAN, Winterthur

D. OT T, Basel

A . COURVOISIER, Basel

Bei bestem Wetter haben wir am letzten Samstag den sozialen Stadtrundgang absolviert. André Hebeisen hat uns kompetent an die verschiedenen Stationen geführt und ausführlich über die Angebote und Stationen erzählt. Wir danken ihm sehr herzlich für seine offene und freundliche Art. Wie er schonungslos und ehrlich über sein Leben erzählte, war beeindruckend. C. RIEDER, STIFTUNG CHANCE, Zürich

Impressum Herausgeber Surprise, Münzgasse 16 CH-4051 Basel Geschäftsstelle Basel T +41 61 564 90 90 Mo–Fr 9–12 Uhr info@surprise.ngo, surprise.ngo Regionalstelle Zürich Kanzleistrasse 107, 8004 Zürich T  +41 44 242 72 11 M+41 79 636 46 12 Regionalstelle Bern Scheibenstrasse 41, 3014 Bern T  +41 31 332 53 93 M+41 79 389 78 02 Soziale Stadtrundgänge Basel: T +41 61 564 90 40 rundgangbs@surprise.ngo Bern: T +41 31 558 53 91 rundgangbe@surprise.ngo Zürich: T +41 44 242 72 14 rundgangzh@surprise.ngo Anzeigenverkauf Stefan Hostettler, 1to1 Media T  +41 61 564 90 90 M+41 76 325 10 60 anzeigen@surprise.ngo Redaktion Verantwortlich für diese Ausgabe: Amir Ali (ami) Sara Winter Sayilir (win), Diana Frei (dif) Reporter: Andres Eberhard (eba), Simon Jäggi (sim) T +41 61 564 90 70 F +41 61 564 90 99 redaktion@strassenmagazin.ch leserbriefe@strassenmagazin.ch

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Ständige Mitarbeit Rosmarie Anzenberger (Korrektorat), Marie Baumann, Florian Burkhardt, Rahel Nicole Eisenring, Georg Gindely, Carlo Knöpfel, Yvonne Kunz, Isabel Mosimann, Fatima Moumouni, Stephan Pörtner, Isabella Seemann, Sarah Weishaupt, Priska Wenger, Christopher Zimmer Mitarbeitende dieser Ausgabe Monika Bettschen, Jonas Füllner, Michael Gasser, Joshua Guelmino, Benjamin Laufer

Ich möchte Surprise abonnieren 25 Ausgaben zum Preis von CHF 189.– (Europa: CHF 229.–) Verpackung und Versand bieten StrassenverkäuferInnen ein zusätzliches Einkommen Gönner-Abo für CHF 260.– Geschenkabonnement für: Vorname, Name Strasse

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Druck AVD Goldach Papier Holmen TRND 2.0, 70 g/m2, FSC®, ISO 14001, PEFC, EU Ecolabel, Reach Auflage 28 500 Abonnemente CHF 189, 25 Ex./Jahr Helfen macht Freude, spenden Sie jetzt. Spendenkonto: PC 12-551455-3 IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

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FOTO: BODARA

Surprise-Porträt

«Ich will das nicht erleben» «Als ich acht Jahre alt war, durfte ich mir den Bahnhof Effretikon anschauen. Der Bahnhofsvorstand führte mich herum, und ich durfte im Stellwerk sogar einige Knöpfe drücken. Ich war begeistert und wollte unbedingt Bähnler werden – oder Bahnbetriebsdisponent, wie das bei den SBB heisst. Züge faszinieren mich auch heute noch, aber mein Berufswunsch hat sich leider nicht erfüllt. Ich hatte grosse Mühe in der Schule. Weil ich in der Regelklasse nicht mitkam, besuchte ich eine Wohnschule in Freienstein im Zürcher Unterland. Anschliessend machte ich eine Anlehre in einer Gärtnerei auf Schloss Teufen. Die Arbeit gefiel mir, aber es fiel mir schwer, mich über längere Zeit zu konzentrieren, und nach einem Arbeitstag war ich jeweils total kaputt. Nach der Lehre konnte ich nicht weiterarbeiten. Ich war 19 Jahre alt und hatte keine Ahnung, was ich machen sollte. Da kam mir die Idee mit Surprise. Ich hatte in Winterthur ab und zu mit einem Verkäufer gesprochen und fand, dass der Beruf noch zu mir passen könnte. Ich spreche gerne mit Menschen, mag den Verkauf und schätze es, meine Zeit frei einteilen zu können. 1999 habe ich bei Surprise begonnen, seit einigen Jahren ist mein Standplatz vor dem Neumarkt-Center in Oerlikon. Ich habe mir eine schöne Stammkundschaft aufgebaut und treffe auch ständig neue Menschen, die mir ein Heft abkaufen. Ich habe immer wieder versucht, etwas anderes zu machen. Ich habe zum Beispiel in geschützten Werkstätten gearbeitet, aber da bin ich verblödet. Da machst du nur Tubeli-Arbeit und bekommst fast keinen Lohn. Auch in den richtigen Arbeitsmarkt wollte ich wieder einsteigen, aber leider bin ich jedes Mal gescheitert. Das waren frustrierende Momente. Zum Glück lasse ich mich nicht unterkriegen. Ich habe immer wieder Ideen. Einmal habe ich mir ein grosses Plakat umgehängt und darauf geschrieben: «Hier könnte Ihre Werbung stehen!» Schon bald kam ein Mann auf mich zu, und seither mache ich als wandelnde Plakatsäule Werbung für seine Fahrschule. Mir gefällt’s. Ich kann auch einmal wütend werden, wenn mir etwas nicht passt. Über Ungerechtigkeiten rege ich mich wahnsinnig auf. Deshalb bin ich auch politisch aktiv. Ich war lange Mitglied der Grünen und habe sogar für den Nationalrat kandidiert. Heute bin ich bei der SP Winterthur dabei. Im Moment kämpfe ich gegen das Gesetz über die Versicherungsdetektive, über das Ende Monat abgestimmt wird. 30

Michael Hofer, 38, verkauft das Surprise Strassenmagazin in Zürich Oerlikon. Derzeit engagiert er sich gegen das Gesetz zur Überwachung von Versicherten.

Es ist unglaublich, wie viel Macht das Parlament den Versicherungen und den Detektiven geben will. Wenn das Gesetz durchkommt, dann wird hierzulande überall geschnüffelt. Ich wäre direkt davon betroffen, weil ich eine IV-Rente beziehe. Natürlich finde ich es eine Sauerei, wenn einer die Versicherung betrügt, und natürlich mache ich das nicht. Aber wenn das Gesetz durchkommt, dann wird die Schweiz zum Überwachungsstaat. Und die Detektive finden doch immer etwas, wenn sie etwas finden wollen. Das hat man ja kürzlich in der «Rundschau» sehen können. Da reicht es, dass einer lacht oder den Kopf nach rechts dreht oder einmal Aprikosen pflückt, und schon wird er Betrüger genannt und verliert seine Rente. Im Moment verteile ich so oft es geht Flyer, spreche mit Menschen, versuche aufzurütteln. Betroffen vom Gesetz sind ja nicht nur Menschen wie ich, sondern alle. Denn auch die Krankenversicherer können nach einem Ja Detektive losschicken. Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand will, dass man in seinem Privatleben herumschnüffelt. Das muss ein wahnsinnig unangenehmes Gefühl sein. Ich will das nicht erleben.»

Aufgezeichnet von GEORG GINDELY

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Kultur Kultur

Solidaritätsgeste Solidaritätsgeste

STRASSENCHOR STRASSENCHOR

CAFÉ SURPRISE CAFÉ SURPRISE

Lebensfreude Lebensfreude Entlastung Sozialwerke Entlastung Sozialwerke

BEGLEITUNG UND BEGLEITUNG BERATUNG UND BERATUNG

Unterstützung Unterstützung Job Job

STRASSENMAGAZIN STRASSENMAGAZIN

Zugehörigkeitsgefühl Zugehörigkeitsgefühl Entwicklungsmöglichkeiten Entwicklungsmöglichkeiten

STRASSENFUSSBALL STRASSENFUSSBALL

Erlebnis Erlebnis

Expertenrolle Expertenrolle SOZIALE STADTRUNDSOZIALE GÄNGE STADTRUNDGÄNGE

Information Information

SURPRISE WIRKT SURPRISE WIRKT

Perspektivenwechsel Perspektivenwechsel

Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. Surprise unterstützt seit 1998 sozial benachteiligte Menschen in der Schweiz. Unser Angebot wirkt in doppelter Hinsicht – auf den armutsbetroffenen Menschen surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 und auf die Gesellschaft. Wir arbeiten nicht gewinnorientiert, finanzieren uns ohne staatliche Gelder und sind auf Spenden und Fördergelder angewiesen. Spenden auch Sie. surprise.ngo/spenden | Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3

Helfen tut gut. Zeit, zuzuhören. Zeit, abzuwarten. Zeit für Rückschläge. Zeit, zu helfen. All das gibt es in der Sozialberatung und -begleitung, die Surprise an seinen drei Standorten in Basel, Bern und Zürich anbietet. Die Verkaufenden des Strassenmagazins sowie die Stadtführer, die Strassenfussballer und die Chorsängerinnen erhalten hier nicht nur ihre Hefte, gratis Kaffee oder Internetzugang, sondern wenden sich mit ihren Sorgen und Fragen an die Surprise-Mitarbeitenden.

Ob bei der Wohnungs- und Arbeitssuche, bei Schulden, beim Umgang mit Behörden und administrativer Korrespondenz, bei familiären Krisen oder Suchtproblemen – für rund 400 armutsbetroffene Menschen ist diese umfassende und niederschwellige Begleitung eine unentbehrliche Stütze im Alltag. Surprise hilft individuell und niederschwellig. Spenden Sie heute. Spendenkonto: PC 12-551455-3 | IBAN CH11 0900 0000 1255 1455 3 surprise.ngo/spenden Surprise 438/18

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Café Surprise – eine Tasse Solidarität Zwei bezahlen, eine spendieren. BETEILIGTE CAFÉS IN BASEL Bäckerei KULT, Riehentorstrasse 18 | Bäckerei KULT «Elsi», Elsässerstrasse 43 | BackwarenOutlet, Güterstr. 120 | Café Bohemia, Dornacherstr. 255 Café-Bar Elisabethen, Elisabethenstr. 14 | Flore, Klybeckstr. 5 | Café Restaurant Haltestelle, Gempenstr. 5 | Kiosk Amann, Claragraben 101 | Oetlinger Buvette, Unterer Rheinweg | Quartiertreffpunkt Kleinhüningen, Kleinhüningerstr. 205 | Quartiertreffpunkt Lola, Lothringerstr. 63 | Les Gareçons to go, Badischer Bahnhof | Rest. Manger & Boire, Gerbergasse 81 | Trattoria Bar da Sonny, Vogesenstr. 96 | Didi Offensiv, Erasmusplatz 12 | Radius 39, Wielandplatz 8 | Café Spalentor, Missionstrasse 1 IN LUZERN Jazzkantine zum Graben, Grabenstr. 8 | Meyer Kulturbeiz, Bundesplatz 3 | Blend Teehaus, Furrengasse 7 | Quai4Markt Baselstrasse, Baselstr. 66 | Restaurant Quai4, Alpenquai 4 | Quai4-Markt Alpenquai, Alpenquai 4 | Pastarazzi, Hirschengraben 13 | Netzwerk Neubad, Bireggstr. 36 | Sommerbad Volière, Inseli Park | Restaurant Brünig, Industriestrasse 3 IN RAPPERSWIL Café good, Marktgasse 11 IN SCHAFFHAUSEN Kammgarn-Beiz, Baumgartenstr. 19 IN BERN Café Kairo, Dammweg 43 | Café MARTA, Kramgasse 8 | Café Tscharni, Waldmannstr. 17a | Café-Bar das Lehrerzimmer, Waisenhausplatz 30 | LoLa Lorraineladen, Lorrainestr. 23 | Luna Llena Gelateria Rest. Bar, Scheibenstr. 39 | Rest. Genossenschaft Brasserie Lorraine, Quartiergasse 17 | Rest. Löscher, Viktoriastr. 70 | Rest. Sous le Pont – Reitschule, Neubrückstr. 8 | Rösterei Kaffee und Bar, Güterstr. 6 | Treffpunkt Azzurro, Lindenrain 5 | Zentrum 44, Scheibenstr. 44 | Café Paulus, Freiestrasse 20 IN BIEL Treffpunkt Perron bleu, Bahnhofplatz 2d IN ZÜRICH Café Zähringer, Zähringerplatz 11 | Cevi Zürich, Sihlstr. 33 | Quartiertreff Enge, Gablerstrasse 20 | Flussbad Unterer Letten, Wasserwerkstr. 141 IN STEIN AM RHEIN Raum 18, Kaltenbacherstr. 18 IN WINTERTHUR Bistro Dimensione, Neustadtgasse 25 IN OBERRIEDEN Strandbad Oberrieden, Seestrasse 47 IN ST. GALLEN S’Kafi, Langgasse 11

Weitere Informationen: surprise.ngo/cafesurprise 32

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