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Aus Schrott entstehen Hilfsmittel

WISSENSTRANSFER

Mitarbeitende von Orthotec bringen Know-how ins ländliche Georgien und bieten Hilfe zur Selbsthilfe. Rehatechnikerin Antje Giger flickte kaputte Rollstühle und fertigte aus wenig nützliche Hilfsmittel.

Von Nadja Venetz

Der achtjährige Nicoloz hat eine fortschreitende Rückenmarkserkrankung. Gehen kann er kaum noch. Sein Rollstuhl steht mit platten Reifen auf dem Hof. Die Fussstützen fehlen, verschiedene Teile sind abgebrochen.

Lasha, ein junger Mann mit Cerebralparese und einer Streckspastik, liegt statt zu sitzen in einem viel zu breiten Gefährt, gebettet auf unzähligen Kissen und Decken. Vor seiner Tür ein neuer, unbenutzter Rollstuhl, doch niemand, der ihn anpassen kann.

Wir befinden uns in Georgien. Das osteuropäische Land führt ein staatliches Programm zur Abgabe von Rollstühlen an Kinder bis 18 Jahre. Drei Standardgrössen stehen zur Auswahl, doch kann das Programm insgesamt nur 40 Rollstühle pro Jahr zur Verfügung stellen. Theoretisch haben Kinder wegen des Wachstums alle zwei Jahre Anspruch auf einen neuen Rollstuhl. Wegen der langen Warteliste klappt das fast nie. Die wenigsten können es sich leisten, privat einen zu kaufen. Es fehlt an finanziellen Mitteln, aber auch an Wissen, wie Rollstühle korrekt angepasst werden. Fehlhaltungen, Schmerzen und Druckstellen sind die Folge.

Wissen vermitteln

Orthotec unterstützt mit Fachwissen das Hilfe-zur-Selbsthilfe-Projekt des Vereins MTE Georgien. Gemeinsam mit den Projektleitenden Martin Haug und Fenja Läser reiste Rehatechnikerin Antje Giger im März 2022 in die Hauptstadt Tiflis, mit im Gepäck zahlreiche Ersatzteile, Sitzkissen und Material für Sitzanpassungen sowie 30 Jahre Berufserfahrung. MTE steht für meet (dt. treffen), train (dt. ausbilden) und encourage (dt. ermutigen). Familien, die ein Kind mit einer Behinderung haben, bekommen Besuch von Fachkräften. In Workshops erhalten sie Wissen, wie sie ihr Kind pflegen, es unterstützen und wie sie geeignete Hilfsmittel beschaffen. Acht solcher Hausbesuche standen für die Fachfrau von Orthotec auf dem Programm. Acht Menschen. Acht Geschichten. Acht Rollstühle. Zugleich gab Antje Giger ihr Wissen an lokale Rollstuhltechnikerinnen und -techniker weiter.

Teamwork Fenja Läser näht und Antje Giger repariert mit dem georgischen Fachmann den Rollstuhl von Nicoloz

Totalschaden

Das Projektteam reiste in die ländliche Provinz Kachetien und richtete vor Ort eine provisorische Werkstatt ein. «Zuerst besuchten wir alle acht Familien und nahmen auf, was wir verbessern konnten. Danach liessen wir durch Helferinnen und Helfer und mit Taxis die Rollstühle in unsere Werkstatt bringen. Die Menschen in Georgien sind sehr hilfsbereit. Einfach alle um uns herum packten in irgendeiner Weise mit an. Wir reparierten, optimierten und improvisierten und lieferten später die Hilfsmittel wieder zu Hause ab», fasst Antje Giger ihren Einsatz zusammen. Bei den Familien vor Ort nahm das Team die finalen Anpassungen vor und erklärte, wie der Rollstuhl richtig genutzt wird, wie die Person im Rollstuhl am besten transferiert oder wie Kissen und Tücher an der richtigen Stelle die Sitzposition stützen. «Zum Glück entschied ich mich kurzfristig vor der Abreise, einen Ersatzrollstuhl mitzunehmen. Wir erhielten in Vorfeld Fotos. Die Bilder zeigten teilweise riesige Rollstühle, die so kaputt waren, dass man kaum wusste, wo man anfangen sollte mit Reparieren. Einer war garantiert nicht mehr zu retten, das war schnell zu erkennen.»

Fantasie ist gefragt

Obwohl Antje Giger aus der Schweiz Material mitbrachte, war Improvisation gefordert, wie die Rehatechnikerin erläutert: «Ich lernte, wie man aus Schrott und wenig mitgebrachtem Material nutzbare Hilfsmittel macht. Es gibt zum Beispiel pannensichere Pneus. Doch auch die gehen kaputt, wenn man mit ihnen in einen heissen Ofen fährt. Der alte Pneu hatte sich mit der Kunststofffelge verbunden. Ein neuer Pneu dieser Sorte war in Georgien nicht zu kriegen, unser mitgebrachter war zu breit. So schnitten wir ihn kurzerhand mit dem Skalpell zurecht. Wir schnitzten, klebten, nähten, machten aus alten Sitzkissen welche, die passen. Wir fertigten aus Holz und Schaumstoff Sitzschalen an und massschneiderten Beckengurte für besseren Halt.»

Lokale Fachkräfte

Die Betroffenen und ihre Familien nahmen die getane Arbeit mit viel Freude und Dankbarkeit entgegen. Es gab aber auch Ausnahmen. «Der Grossvater eines Jungen stellte sogar in Frage, ob man Rollstühle überhaupt anpassen muss. Da fehlten mir kurzfristig die Worte. Offenbar ist nicht allen klar, welche Vorteile ein gut angepasster Rollstuhl für die Betroffenen hat», sagt Antje Giger. Ein zentraler Aspekt des Projekts ist auch die Weitergabe von Wissen, nicht nur an die Betroffenen und ihre Familien, sondern auch an die Fachkräfte vor Ort. «Wir drehten während der Arbeit verschiedene Lernvideos. Eine Sitzschale konnte ich nicht mehr selbst fertigstellen. Ich instruierte die Mechanikerin und den Mechaniker, die uns während unseres Aufenthaltes begleiteten, zu den nötigen Schritten. Einen Tag nach meiner Heimreise erhielt ich Fotos: Zufrieden lächelte der junge Mann in seinem neuen Rollstuhl mit Sitzschale. Die erste selbstständige Arbeit der beiden war ein voller Erfolg.» Nach ihrem zehntägigen Aufenthalt in Georgien zieht Antje Giger ein positives Fazit: «Ich lernte sehr aufgeschlossene, nette und engagierte Menschen kennen. Ich erlebte gravierende Unterschiede zwischen Stadt und Land und sah Menschen in totaler Erschöpfung und Armut. Mit der Ausbildung und Schulung von Personen vor Ort wird ein grosser Schritt in die richtige Richtung getan – auch wenn der Weg noch lang ist.» Im Juni reiste mit Philipp Gerrits ein weiterer Techniker von Orthotec nach Georgien und setzte das Engagement von Antje Giger fort. Schliesslich vereinbarten Orthotec und das Hilfsprojekt MTE Georgien eine längerfristige Zusammenarbeit.

HILFSPROJEKT

Seit 2017 unterstützt der Schweizer Verein MTE Georgien in Zusammenarbeit mit lokalen Partnerorganisationen Familien mit behinderten Kindern in ländlichen Regionen, wo kaum medizinische und therapeutische Angebote existieren. Das Projekt finanziert sich durch Spenden.

Weitere Informationen

www.mte-georgia.ch

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