
5 minute read
Die Selbstständigkeit eröffnet neue Perspektiven
IG KIDSEMPOWERMENT
Selbstständig katheterisieren, das Darmmanagement beherrschen – und sich so den Alltag erleichtern: Am ISK-Weekend in Sumiswald beschäftigten sich 19 Kinder mit diesen bedeutenden Themen. Und hatten daneben viel Spass am Rahmenprogramm.
Von Peter Birrer
Vor dem Schminktisch bildet sich ein Stau, aber niemand drängelt. Die Frage, mit der sich die Kinder im Rollstuhl beschäftigen, ist vielmehr die: Welches Motiv möchte ich mir aufs Gesicht malen lassen? Soll es ein Panther sein? Vielleicht doch lieber ein nett in die Welt blickendes Büsi mit roter Nasenspitze und Glitzer zwischen den Augen?
Die Kinder sind stolz auf ihre temporäre Verwandlung, und natürlich bietet es sich an, diese Kunstwerke zu verewigen. In einem Raum steht eine Fotokamera, die mit einem grossen roten Knopf bedient werden kann. Sekunden später ist das Ergebnis auf Papier ausgedruckt.
Es herrscht eine ausgelassene Stimmung, das Gewusel und Gekicher in den Gängen erinnert an ein Klassenlager. Aber die Kinder treffen sich in Sumiswald nicht, um während drei Tagen miteinander nur Spass zu haben. Sie beschäftigen sich intensiv mit Themen, die für sie in Zukunft wichtig sind: Es geht um das selbstständige Katheterisieren und das Darmmanagement.
Bedenkenlos ins Ferienlager
Der organisatorische Lead des ISK-Weekends liegt bei ParaHelp, einem Tochterunternehmen der Schweizer ParaplegikerStiftung (SPS) in Nottwil. Die Abkürzung «ISK» steht für «intermittierender Selbstkatheterismus»: Wer eine neurologische Blasen- und Darmfunktionsstörung hat, ist in der Lage, einen Katheter einzuführen und die Blase zu entleeren, ohne dabei auf Unterstützung einer angehörigen Person oder Pflegefachkraft angewiesen zu sein.
«Wenn man das in jungen Jahren schon beherrscht, eröffnet das ganz neue Perspektiven», sagt Andrea Violka, Leiterin Beratung bei ParaHelp, «ein Kind kann bedenkenlos
Verwandlung Die Kinder haben Spass am Schminken sein Gspänli besuchen und dort auch übernachten, die Schulreise mitmachen oder in ein Ferienlager verreisen, weil es weiss, dass es ohne fremde Hilfe aufs WC kann.»
Sie trägt an diesem Wochenende im Emmental die Verantwortung eines Kurses, der sich hoher Beliebtheit erfreut. 19 Teilnehmende im Alter von 6 bis 15 Jahren sind dabei, alle haben ein Geburtsgebrechen, die meisten von ihnen Spina bifida. Sie werden für das Thema sensibilisiert, beginnen vor Ort mit praktischem Üben, und Fortgeschrittene vertiefen ihre Kenntnisse. Die Herangehensweise geschieht auf spielerische Weise. Die Kinder und Jugendlichen lernen ihren eigenen Körper besser kennen, sie erfahren, wie Selbstkatheterisierung funktioniert und weshalb dabei die Hygiene eine bedeutende Rolle spielt.
Eine 1:1-Betreuung
Die Theorie ist ein wesentlicher Bestandteil des Kurses, aber genauso wichtig ist auch die praktische Anwendung und Umsetzung des vermittelten Wissens. Selbstredend passiert das nicht in der Gruppe, sondern individuell in privater Sphäre. Pflegefachleute aus verschiedenen grossen Kinderkliniken und Organisationen, die sich zur sogenannten IG Kidsempowerment zusammengeschlossen haben, sind nach Sumiswald gereist und sorgen für eine 1:1-Betreuung. Ein wichtiger und fester Bestandteil besteht darin, dass die Teilnehmenden in ihren Zimmern das selbst-
ständige Katheterisieren oder die Darmentleerung üben. Die Bezugsperson ist stets dabei – für Tipps und Tricks oder für Hilfestellungen.


Zum Stoff, der vermittelt wird, gehört nicht nur die Technik, wie ein Katheter richtig eingeführt wird, sondern auch Verantwortungsbewusstsein. Ist die Kontrolle der Blase gestört, ist auch selbstständig kontrolliertes Harnlassen nicht mehr möglich. Wenn die Blase nicht regelmässig entleert wird, bildet sich ein Rückstau von Urin, was zu Blasenentzündungen oder Harnwegsinfektionen und letztlich auch zu einer Schädigung der Nieren führen kann. Menschen mit einer Blasen- und Darmfunktionsstörung erhalten also nicht automatisch das Signal: «Achtung, Blase ist voll!» Darum muss ihnen die Wichtigkeit aufgezeigt werden, alle drei, vier Stunden zur Toilette zu gehen, um höchst unangenehme Folgen zu vermeiden.

Fachvorträge für Erwachsene
In Sumiswald sind die Kinder die Protagonisten, aber sie verbringen die Tage nicht allein. Sie werden begleitet von mindestens einem Elternteil oder einer betreuenden Bezugsperson, denen ein besonderes Rahmenprogramm geboten wird. Während der Nachwuchs lernt, übt oder spielt, haben die Erwachsenen die Möglichkeit, Fachvorträgen beizuwohnen.
Da ist zum Beispiel der von Thomas Rütti, der bei der IV-Stelle des Kantons Bern für Sachleistungen zuständig ist. Er gibt Antworten auf Fragen wie: Wann gilt mein Kind als hilflos? Er sagt, was eine Kostengutsprache beinhaltet, für welche Leistungen eine separate Kostengutsprache benötigt wird, wann Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag besteht und erklärt, wie vorgegangen werden muss, um von der Invalidenversicherung eine Leistung zu bekommen. Da ist das Referat von Thomas Forster über Spina bifida – der Leiter des Wirbelsäulenzentrums im Kantonsspital St.Gallen ist unter anderem auf die kindlichen Wirbelsäulendeformitäten spezialisiert. Maja Horst, Leitende Ärztin Urologie des Kinderspitals Zürich, befasst sich mit der neuropathischen Blase; Carole Hänni, die Leiterin Services von ParaHelp, spricht
Hygiene Wie desinfiziere ich meine Hände?
Starkes Team Leonie mit ihren Eltern Theorie gehört auch dazu
über das Gesamtangebot der ParaWG; und das Referat von Anna Giambonini, Pflegeberaterin Kontinenz des Kispi Zürich, trägt den Titel «Förderung der sexuellen Gesundheit».
Séverine und Marcel Müller aus Steinhausen ZG sitzen im Saal, sie sind die Eltern der elfjährigen Leonie, die mit Spina bifida und einem Wasserkopf, einem sogenannten Hydrocephalus, zur Welt gekommen ist. Für Leonie ist der Kurs nicht Neuland, schon zweimal war sie dabei. Und für das Ehepaar Müller ist es eine Selbstverständlichkeit, dass es der Tochter zur Seite steht. «Wir sind ein starkes Team, die Beeinträchtigung von Leonie hat uns noch stärker zusammengeschweisst», sagt Séverine Müller; «diese drei Tage tun uns allen gut. Der Austausch unter Leuten, die alle mehr oder weniger die gleichen Sorgen, Fragen und Anliegen haben, ist ungemein wertvoll. Man schnappt immer wieder einen Ratschlag auf.»
«Käthle» ist selbstverständlich
Unter Gleichgesinnten sein – das heisst auch: Man muss nicht ständig erklären, welche Einschränkung das Kind hat. Und: Man darf auch emotional sein. «Wenn es mir schlecht geht, kann ich diese Gefühle in dieser Umgebung eher zeigen als im Alltag», sagt Séverine Müller, «ich muss nicht alles erklären, sondern werde verstanden.» Das ist es, was sie sich wünscht: Verständnis, nicht Mitleid. Besonders schmerzvoll sind die Momente, in denen es aus Leonie herausbricht: «Wieso habe ich Spina bifida? Warum kann ich nicht gehen wie die anderen Kinder?» In Sumiswald aber merkt sie, dass sie mit ihrem Schicksal nicht allein ist. In dieser Gesellschaft fühlt sie sich sichtlich wohl.
Sprechen die Eltern vom «Käthle», verzieht sie keine Miene – es ist für sie eine Selbstverständlichkeit, das zu tun. Mit «Käthle» ist das Katheterisieren gemeint, das für die Tochter zur Routine geworden ist. «Und wenn Leonie das ganz ohne fremde Hilfe schafft, ist das eine enorme Entlastung für uns», sagt Marcel Müller.
Das ISK-Weekend ist für Séverine und Marcel Müller so lehrreich wie für Leonie. Aber es ist auch anstrengend. Umso mehr geniessen sie ein paar Momente der Zweisamkeit. Weil sie wissen, dass Leonie bestens aufgehoben ist und mit ihren Gspänli unbeschwerte Stunden beim Schminken oder beim Basteln verbringt.
Auskünfte ParaHelp, info@parahelp.ch