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Zum Glück hat Nils die Notbremse gezogen
ÜBERLASTUNG
Er mutete sich viel zu – zu viel: Nils Eisele stiess an die Grenzen der Belastbarkeit, sah aber rechtzeitig ein, dass er Hilfe braucht. Ein halbes Jahr später schloss er seine Lehre als Hochbauzeichner mit beeindruckendem Erfolg ab.
Von Peter Birrer
Es ist der 28. Juni, als Nils Eisele erfreuliche Post erhält. An diesem Dienstagmorgen erfährt er, dass er die Abschlussprüfungen seiner vierjährigen Lehre als Hochbauzeichner erfolgreich bewältigt hat – und das mit einem starken Notenschnitt von 5,1. «Damit hatte ich wirklich nicht gerechnet», sagt Nils, «ich bin mehr als zufrieden.»
Die Freude des 22-Jährigen ist gross, sein Stolz berechtigt. Aber Nils musste viel investieren und oft auch leiden, bis er das Ziel erreichte.
Er beginnt eine Ausbildung zum Zimmermann, aber nach zwei Monaten muss er die Lehre aufgeben – ein tragischer Unfall im Oktober 2015 hat ihn zum Tetraplegiker (C5) gemacht. Während seiner Rehabilitation im Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil befasst er sich mit Optionen, die Berufsberatung unterstützt ihn dabei. Architektur interessiert ihn, und es bietet sich tatsächlich eine Möglichkeit, Kreativität auf diesem Gebiet auszuleben: als Hochbauzeichner.
In Winterthur absolviert er zuerst eine Schnupperwoche, erhält die Lehrstelle und einen Chef, für den Nils ein Lehrling ist wie jeder andere, Rollstuhl hin, Beeinträchtigung her. Markus Bellwald, Inhaber des Unternehmens, erkennt das Potenzial in Nils, darum gibt er ihm die Chance. Beharrlichkeit, Ehrgeiz, Wille – das zeichnet den jungen Mann aus. Und für ihn ist eines klar: Er strebt den Abschluss an, nichts und niemand soll ihn davon abhalten können.
Kein Lift? Kein Problem!
Das Architekturbüro Bellwald Architekten AG in Winterthur befindet sich im zweiten Stock. Als Nils ein paar Wochen vor dem offiziellen Beginn der «Stifti» die Arbeit aufnehmen möchte, ist der Treppenlift im Gebäude aber noch nicht installiert. Nur darf das laut Markus Bellwald kein Grund sein, Nils auf später zu vertrösten, und das hat einen guten Grund. Er erinnert sich nämlich an den eindrücklichen Dokumentarfilm «Sur le chemin de l’école», und vor allem an die Szene, in der indische Kinder einen Kameraden in einem rostigen Rollstuhl durch unwegsames Gebiet schieben.
Diese Hilfsbereitschaft und dieses gemeinsame Überwinden von Hürden imponieren ihm. Darum findet er, dass das Prob-
lem, Nils über ein paar Stufen ins Büro zu tragen, kein Problem sein darf. Solange der Treppenlift nicht installiert ist, packt die gesamte Belegschaft an: Die Mitarbeitenden tragen Nils am Morgen jeweils hoch –und am Abend wieder herunter.
Für Nils ist klar, dass er liefern muss, zu hundert Prozent. Er will keine Ausnahme sein oder bevorzugt behandelt werden. Eine warnende Stimme gibt es nicht, auf die Gefahr einer drohenden Überbelastung weist niemand hin. «Auch für uns war vieles Neuland», sagt Markus Bellwald, «wir wussten nicht, was ihm zuzutrauen ist.» Nils braucht viel Energie, um das happige Pensum zu bewältigen. So anstrengend das auch ist: Irgendwie klappt es immer. Er denkt: Eine Lehre ist einfach anspruchsvoll, da muss ich durch wie andere das auch müssen.
Ihm wächst alles über den Kopf
Anfänglich lebt er noch bei den Eltern, er hat dadurch meistens jemanden an seiner Seite, der helfen kann. Als er nach zwei Jahren aber seine eigene Wohnung bezieht, sieht er sich auf einmal mit Dingen konfrontiert, die Zeit kosten: sich um den Haushalt kümmern, einkaufen, waschen. Das stellt ihn vor ungeahnte Herausforderungen, und schliesslich wächst ihm alles über den Kopf.
Immer wieder kämpft Nils mit körperlichen Schwierigkeiten. Lange schaffte er es, Grenzen zu verschieben. Er stellt hohe Ansprüche an sich, er möchte auf beruflicher Ebene den Lehrmeister und sich nicht enttäuschen. Das hinterlässt deutliche mentale und physische Spuren. Immer wieder fällt er aus, weil er sich im SPZ behandeln lassen muss. Das heisst: Er fehlt am Arbeitsplatz und in der Schule. Den Stoff muss er im Selbststudium nachholen. Im Büro hat er das Glück, dass sein Chef ihn nicht unter Druck setzt.
Nils macht sich viele Gedanken und geht enorm selbstkritisch mit sich um. Bis er an den Punkt gelangt, an dem er sich eingestehen muss, dass es so nicht weitergehen kann. Ende 2021 fühlt er sich leer, ausgebrannt. Die einzige Option in seiner Lage: die Notbremse ziehen. Er überwindet sich, in Nottwil einer Psychologin seine Probleme offenzulegen. Dazu wird mit Reto Eith ein Jobcoach von der Parawork beigezogen. Nils Eisele handelt zwar spät, aber glücklicherweise nicht zu spät. Er sagt offen: «Wenn ich nochmals von vorne beginnen könnte, würde ich von Anfang an mit einem Jobcoach zusammenarbeiten und um psychologische Unterstützung bitten.»
Im Winter lernt er Leichtathlet Beat Bösch kennen, der bei der Schweizer ParaplegikerVereinigung in der Lebensberatung arbeitet. Bei ihm erkundigt sich Nils nach Sportangeboten – aber nicht nur. Der PeerBerater trifft Nils regelmässig und gibt ihm zahlreiche Tipps für den Alltag.
«Ein mega Lehrblätz für mich»
Er erhebt auch im Nachhinein keine Vorwürfe, weil niemand die Überlastung erkannt habe und eingeschritten sei. Die Verantwortung sieht er in erster Linie bei sich: «Ich wollte nicht einsehen, dass ich in meiner Verfassung nicht gleich viel leisten kann
Unterstützung von Peer-Berater Beat Bösch und Chef Markus Bellwald (Bild links) wie andere.» Er blendete aus, dass er nicht dieselben Voraussetzungen mitbringt wie ein Fussgänger. Dankbar ist er, dass sich alles zum Guten gewendet und die Psychologin ihm die Augen geöffnet hat. Heute sagt er: «Es war ein mega Lehrblätz für mich. Zum Glück habe ich realisiert, dass ich Lösungen nicht finde, indem ich mit dem Kopf durch die Wand will.» Und: «Ich würde niemandem empfehlen, alles so durchzustieren wie ich es getan habe.»

Seit vergangenem Winter hat Nils sein Pensum kontinuierlich bis auf 60 Prozent reduziert und dadurch auch die Gefahr, übermässigem Stress ausgesetzt zu sein. «Es geht mir gut, psychisch wie physisch», sagt er, «ich habe das Zeitmanagement im Griff und bin weitgehend in der Lage, meinen Alltag mit hoher Selbstständigkeit zu bewältigen.»
Ein halbjähriges Praktikum
In den vier Lehrjahren fehlte er alles in allem nahezu die Hälfte davon am Arbeitsplatz oder in der Schule, weil immer wieder gesundheitliche Probleme einen Spitalaufenthalt erforderten. Aber wo immer er gerade war: Er setzte sich mit seinem Beruf auseinander, in der Endphase der Ausbildung lernte er intensiv für die Prüfungen. Der Ehrgeiz hat nie nachgelassen.
Nun ist er also gelernter Hochbauzeichner. In seinem Lehrbetrieb erhält er eine vorerst bis Ende Januar 2023 befristete Anstellung für ein halbjähriges Praktikum, das Pensum beträgt 50 Prozent. Es ist so etwas wie eine Findungsphase. «Wir müssen ausloten, was möglich ist und was nicht», sagt Geschäftsführer Markus Bellwald.
Nach den Erfahrungen während der Lehre ist er sensibilisiert. Nils ist es auch, und eine Lehre aus der Lehre wird die sein: Er wird sich nicht mehr schweigend durch eine Krise kämpfen, sondern offen melden, wenn ihm alles zu viel wird. Nach den Abschlussprüfungen hat er sich erst einmal ein paar Wochen Ferien gegönnt. Jetzt hat er auch mehr Zeit für den Austausch mit Beat Bösch. Ob Haushaltsführung, Mobilität oder Freizeit – Nils Eisele profitiert von der Erfahrung des Peer-Beraters.