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Flucht im Rollstuhl

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Evelyn Schmid

Evelyn Schmid

UKRAINE-KRIEG

Im polnischen Cyców finden querschnittgelähmte Flüchtende einen sicheren Zufluchtsort. Die ganze Schweizer Paraplegiker-Gruppe engagiert sich im Projekt des europäischen Dachverbands ESCIF.

Von Nadja Venetz

Am 24. Februar 2022 überfiel Russland die Ukraine mit einem grossangelegten Angriff. Seither herrscht Krieg. Millionen von Menschen flüchten, unter ihnen auch Personen, die auf einen Rollstuhl angewiesen sind. Tagelang sind diese Menschen unterwegs, weder Transportmöglichkeiten noch Notunterkünfte sind auf ihre Bedürfnisse ausgerichtet.

«Ich sah in den Nachrichten einen Bericht über Flüchtlingsaufnahmezentren an der Grenze und dachte mir, meine Güte, wenn man im Rollstuhl durch ein solches Zentrum muss. Eigentlich müsste es ein eigenes

ESCIF

Die European Spinal Cord Injury Federation ESCIF ist das europäische Netzwerk der nationalen Organisationen der Querschnittgelähmten. Die insgesamt 32 Mitgliedsverbände aus 28 Ländern tauschen Wissen und Erfahrungen aus. Die SPV betreibt das Sekretariat.

www.escif.org

Zentrum für Menschen im Rollstuhl geben», erläutert Albert Marti, Sekretär der ESCIF die Geburtsstunde des Projekts. Der Vorstand der ESCIF sowie die Gesellschaften der Schweizer Paraplegiker-Gruppe waren schnell überzeugt. Die Schweizer Paraplegiker-Stiftung (SPS) sprach Gelder, um das Projekt zu finanzieren. Es galt rasch zu handeln, ohne dabei planlos zu sein. Ein Steering Committee bestehend aus Mitgliedern von ESCIF und den deutschen Kollegen der Fördergemeinschaft der Querschnittgelähmten (FGQ) managen das Projekt. Die FGQ war bereits kurz nach Kriegsausbruch im polnischen Grenzgebiet aktiv und fuhr Betroffene in Sicherheit. Nun suchten sie an der Grenze eine geeignete Unterkunft und fanden diese nach etlichen Besichtigungen und viel Herumfragen in einem Altersheim. Dieses wurde 2019 neu gebaut und komplett eingerichtet, wegen der Coronapandemie aber nie in Betrieb genommen.

Augenschein vor Ort

Anfang April fanden bereits die ersten Geflüchteten Unterschlupf. SPV-Direktor Laurent Prince fuhr gemeinsam mit Stiftungsratspräsidentin Heidi Hanselmann und Stefan Dürger, Geschäftsführer von Orthotec, den ersten Materialtransport nach Polen. «Die SPG stellt zusammen mit der FGQ den Betrieb des Safe House sicher, finanziell wie personell. Ganz viele Personen helfen hier sehr engagiert mit. Wir wollten uns persönlich und vor Ort überzeugen, dass wir eine gute Sache unterstützen», sagt Laurent Prince.

Das Haus dient als Durchgangsstation. Hier sollen die Menschen kurz durchatmen können. Danach reisen sie weiter. Alle, die hier ankommen, wissen das. In der Regel wird die Person im Rollstuhl von ein bis zwei Personen begleitet. «Es kann aber auch mal vorkommen, dass eine ganze Familie vor der Tür steht», weiss

Albert Marti. Platz hat es für rund 30 bis 35 Personen. Ein kleines Team, bestehend aus Personal der SPG und der FGQ, betreut die Ankömmlinge. Darunter befindet sich jeweils eine Pflegefachkraft. Die Belegschaft wechselt nach mehreren Wochen. Albert Marti koordiniert die Dienstpläne und kümmerte sich in den ersten Wochen vor Ort um den Betrieb der Einrichtung. «Wie sich die Leute nach kurzer Zeit verändern, hat mich am meisten beeindruckt. Viele trafen zermürbt und fahl bei uns ein und nach zwei Wochen hatten sie wieder Farbe im Gesicht. Ruhe, gutes Essen, Erholung und medizinische Grundversorgung; das hat viel bewirkt, auch wenn die Personen mit schwierigen Situationen zu kämpfen haben», berichtet er.

Ukrainische Partner

Dass es diesen Zufluchtsort gibt, erfahren die Betroffenen mehrheitlich über Social Media. Wichtige Mittler sind die Rehaklinik AGAPE im westukrainischen Luzk sowie die Selbsthilfeorganisation Active Rehabilitation Ukraine. Letztere sei das ukrainische Pendant zur SPV, aber sehr lose organisiert. Active Rehabilitation sorgt dafür, dass die Flüchtenden vor Ankunft einen Fragebogen ausfüllen. «Damit wir planen können, hilft es uns zu wissen, wer kommt. Wir fragen nach dem Zustand der Personen, der Anzahl Begleitpersonen usw. Aus Angst, zurückgewiesen zu werden, verschweigen uns einige wichtige Informationen, zum Beispiel wenn jemand viele Druckstellen hat», erklärt Albert Marti. So kann es sein, dass das Haus zwar voll belegt ist, aber die Situation dennoch entspannt, da alle Bewohnerinnen und Bewohner in einer guten gesundheitlichen Verfassung und in Begleitung sind. Benötigen zwei, drei Personen jedoch viel Pflege, ist das kleine Team des Safe House stark gefordert. Eine Übersetzungs-App überbrückt die Sprachbarriere.

Aus Eigeninitiative hat sich ergeben, dass die Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam kochen. Feste Hausregeln gibt es keine. «Wir wollen den Leuten den Aufenthalt so angenehm wie möglich machen. Das klappt bisher ganz gut», erklärt Albert Marti. Die Personen sind froh, an einem sicheren Ort zu sein. Die Stimmung sei gemütlich und entspannt, könne aber schnell kippen. Ein Youtube-Video aus der zerstörten Heimat reicht, damit die Verzweiflung wieder überhandnimmt.

«Die Menschen sind froh, an einem sicheren Ort zu sein.»

Quo vadis?

Im Durchschnitt bleiben die Leute zwei Wochen. Gemäss Albert Marti wäre ein Aufenthalt von drei bis zehn Tagen ideal. Insbesondere die Personen in schlechtem Gesundheitszustand müssten rasch weiter in ein Krankenhaus, aber die Transporte gestalten sich als schwierig. Die Distanzen sind gross. Und es braucht Unterkünfte, Transportbusse und Freiwillige, die diese fahren. Viele Landesverbände der ESCIF haben keine Mittel, um Transfers zu organisieren. «Wir würden uns wünschen, dass jedes der 28 Mitgliedsländer Flüchtende aufnehmen kann», sagt Sekretär Marti. Die Mitgliedsländer kommen für die Weiterreise auf. Deshalb gelangt im Moment die Mehrheit nach Deutschland, die übrigen in die Schweiz. Der SPV-Partner Gössi Carreisen zeigt sich unkompliziert und grosszügig. Und so fährt der SPV-Reisecar für einmal Kriegsflüchtlinge nach Nottwil statt Mitglieder an den Strand. Nach Nottwil kommen vor allem Personen, die medizinische Hilfe benötigen. Im Schweizer Paraplegiker-Zentrum sind sie bestens aufgehoben. «Die ganze SPG unterstützt die Geflüchteten; jede Gesellschaft dort, wo ihre Kompetenzen liegen. Das SPZ bietet medizinische Versorgung, die SPS fördert das Projekt finanziell und die SPV hilft ihnen, sich in der Schweiz zurechtzufinden», fasst Laurent Prince zusammen.

Mindestens 200 Menschen mit Querschnittlähmung sollen in europäischen Ländern Zuflucht finden, bis sich die Lage in ihrer ukrainischen Heimat normalisiert. Die Finanzierung des Projekts ist vorerst für ein halbes Jahr sichergestellt. Ziel ist es, das Haus so lange zu betreiben, wie Menschen aus der Ukraine flüchten müssen.

Unterstützen Sie das Projekt www.paraplegie.ch/de/ nothilfe-fuer-die-ukraine

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