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Aus der Vereinigung mässig eingesetzt werden kann. Was uns viel mehr beschäf­ ­­tigt, ist die Blasen- und Darmproblematik, die sexuellen Funk­­tionsstörungen, die Schmerzen, die Spastik, alles Dinge, welche die Lebensqualität viel mehr beeinträchtigen, als nicht mehr gehen zu können. Wenn aber die Forschung zum Laufen irgendwann die Türen öffnet zur Verbesserung der Organfunktionen, dann wird es interessant für uns und dann können wir auch die Lebensqualität der Querschnittgelähmten massiv steigern. Mobilität ist sicher wichtig, aber sie ist nicht alles. Welches sind die medizinischen Verbesserungen der letzten Jahre aus Ihrer Sicht? Die Betreuung von Querschnittgelähmten in der Schweiz ist hervorragend und die durchgeführten SwiSCI-Studie bildet deren Alltag nun besser ab. Man weiss, was sie stört, woran sie leiden. Es ist nicht die Lähmung an sich, sondern deren «Unterkapitel». Dreiviertel der Querschnittgelähmten haben Schmerzen, ungefähr ein Viertel starke Schmerzen. Auch die sexuellen Funktionsstörungen sind ein grosses Problem. Wir können zwar die Erektionsstörungen beheben, aber wenn keine Sensibilität und Freude da ist, nützt diese Behandlung auch nicht viel und vielen Patienten reicht das nicht, zu Recht!

Also erkennt man dank der Studie die Probleme der Querschnittgelähmten besser? Es gibt sichtbare und unsichtbare Probleme. Die Studie hat nun gewisse Probleme sichtbar gemacht. Einen Dekubitus sieht und riecht man, Schmerzen hingegen nicht. Und je nach kultureller oder religiöser Prägung werden diese auch nicht kommuniziert. Sie werden teilweise als gegeben angeschaut, man erträgt sie und wenn sie nach der fünften ärztlichen Konsultation nicht besser geworden sind, nimmt man sie als gegeben und sagt nichts mehr. Die heutige Generation ist da zwar vielleicht etwas anders, sie schreit eher nach Lösungen. Aber wie gesagt kommen durch die 9 · Paracontact 4/2016

Studie gewisse Probleme an die Oberfläche. Wir wissen noch sehr wenig über Schmerzen und deren Ursache, oder über einen allfälligen Zusammenhang mit der Art der Querschnitt­ lähmung. Da gibt es noch viel zu tun. Wie sehen Sie die Entwicklung der QuerschnittZentren der Schweiz? In den diversen Zentren sind nun Chefärzte der zweiten und dritten Generation tätig. Wir sind uns bewusst, was die Pio­ niere der 60er-Jahre – und ihre Teams natürlich – geleistet haben. Wir übernehmen eine Medizin und eine Struktur, welche funktioniert. Aber in einer Zeit, wo die Rentabilität Vorrang hat vor der Dienstleistung, müssen wir aufpassen, dass diese hervorragenden Gebilde nicht abgebaut werden. Vor 20 Jahren hatte man ein Jahr Zeit für die Rehabilitation, heute geht das in Tranchen von vier Wochen, es wird dis­kutiert über Medikamente, Leistungen, da müssen wir aufpassen, dass der strukturelle, logistische und finanzielle Bau nicht kaputtgeht. Wir sind alle gefragt, Patienten, Ärzte, Fachleute, Vereinigungen, wir müssen uns wehren gegen diesen steten Abbau. Der hohe Prozentsatz an Quer­ schnittgelähmten, welche wieder arbeiten, geht zurück auf die hervorragende Rehabilitierung, Grund genug, gegen den Leistungsabbau zu kämpfen. Wenn wir uns nicht wehren und engagieren, werden wir unsere Standards nicht beibe­ halten können. Ein letztes Wort Ihrerseits – ein Anliegen an den «grossen Bruder»? Ich möchte dem Redaktionsteam meinen Dank aussprechen, dass wir uns hier vorstellen dürfen. Wir sind sehr froh, dass Nottwil so stark ist, aber wir sind überzeugt, dass wir – und die anderen Zentren – eine Daseinsberechtigung haben mit unserer zentrumsnahen Basisarbeit, mit der Nähe zum Wohn­ort und dem Verständnis für die Kultur mit all ihren Besonderheiten. Die Paraplegiologie nimmt sich ihrer Pa­ tien­ten ganzheitlich an, ist äusserst modern und allumfassend. Aber jeder Patient braucht etwas anderes, da ist kein sturer Standard möglich. Die Patienten wollen ernst genommen werden. Und wenn ich dem gerecht werden will, geht das nur, wenn ich die lokalen Netzwerke kenne. In einem grossen Zentrum mag zwar die Technik breiter und besser sein, aber in Sachen Nähe kommt es nicht an die lokalen Zentren hin. Danke, dass das grosse Nottwil stark ist und bleibt – und wenn du stark und sicher bist, hast du keine Angst vor dem Kleinen neben dir. Wir danken Xavier Jordan herzlich für dieses spannende Gespräch. Gabi Bucher


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