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Die Neuvermessung der Gesundheitswelt

Eine Untersuchung geht der Frage nach, wie unser Gesundheitssystem auch in Zukunft auf hohem Niveau gehalten werden kann. 50 Expert*innen skizzieren dabei zwölf Erfolgsfaktoren für einen zukunftsweisenden nationalen Gesundheitsplan.

Von Karin Lehner

Unser Gesundheitssystem kränkelt. Demographie, Technologisierung und Fachkräftemangel üben zunehmenden Veränderungsdruck aus. Die Diagnose von Dr. Harald Katzmair, Gründer und wissenschaftlicher Leiter von FAS Research, fällt eindeutig aus. „Derzeit steigt der Druck an allen Fronten. Wenn wir so weitermachen, fahren wir an die Wand. Wir führen Symptomdebatten, pokern um die Macht im System und streiten über vergleichsweise unwichtige Dinge. Dabei sitzen wir alle im selben Boot und haben Verantwortung in puncto Veränderung.“

Untersuchung mit „Dr. KI“

Genau hier setzen die Vinzenz Gruppe, Siemens Healthcare Diagnostics, die hospitals Projektentwicklungsgesellschaft und der Betriebsgesundheitsspezialist Mavie Next an. Unter der Leitung von Katzmairs FAS Research skizzierte das Team in einem siebenmonatigen Prozess die Strategie für Österreichs ersten nationalen Gesundheitsplan. Ausgangspunkt ist eine Studie mit dem Know-how von 50 Expert*innen und 9.200 Datenpunkten. Ein innovatives Tool auf Basis Künstlicher Intelligenz (KI) ermittelte Erfolgsfaktoren, Hebel- und Kipppunkte für das Gesundheitssystem. Ergebnis sind zwölf Erfolgsfaktoren, die ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen in Österreich auszeichnen.

Zusätzlich haben die Expert*innen konkrete Vorschläge ausgearbeitet, wie der Fortschritt in diesen Bereichen gemessen werden kann. Dr. Michael Heinisch ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Vinzenz Gruppe und fordert einen grundlegenden Blickwechsel. „Es ist an der Zeit, unsere Haltung grundlegend zu überdenken. Im Moment sind wir sehr damit beschäftigt, die bestehenden Strukturen zu optimieren. Es geht aber darum, die Patient*innen in diesem System zu stärken – und nicht nur die Strukturen.“

Es geht darum, Patient*innen zu stärken.

Michael Heinisch Geschäftsführer Vinzenz Gruppe

Ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem muss sich um Gesundheitsbildung kümmern. Wir brauchen Technologien, die den Patient*innen den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen erleichtern. Und wir brauchen Lotsen, die sie zu den richtigen Gesundheitsanbietern führen. Eine besondere Rolle zur Weiterentwicklung des Gesundheitswesens spielt das Image der Gesundheitsberufe. Um den Bedarf angesichts der steigenden Zahl älterer Menschen decken zu können, brauchen wir in den kommenden Jahren viel mehr Mitarbeiter*innen in Pflegeberufen. Doch schon heute gibt es zu wenige Menschen, die einen Pflegeberuf ausüben.

Imagewandel der Berufe

Die Gesundheitsberufe brauchen ein neues Image. Wurde den Mitarbeiter*innen zu Pandemiebeginn noch öffentlich Applaus gespendet, ernten sie nun Frust über das System oder Aggression. Laut Katzmair hilft nur ein konsequentes Gegensteuern. „Ärzt*innen und Pfleger*innen müssen in Zukunft wieder ein hohes Ansehen genießen und mit Respekt behandelt werden. Nur so erleben sie ihren Beruf als sinnstiftend und üben ihn gerne aus.“

Patient*innen brauchen dringend ein Leitsystem. Aufgrund eines Ärzt*innenmangels im niedergelassenen Bereich checken sie in einer Ambulanz ein und überlasten die Krankenhäuser. Die Expert*innenvorschläge für die Neuvermessung der Gesundheit sehen eine smarte Lenkung vor. „Das System muss allen einen unkomplizierten und raschen Zugang zu hochwertiger Versorgung ermöglichen.“ Wie andere Länder vorzeigen, muss diese nicht immer im Krankenhaus beginnen.

Das wird ein schmerzhafter Prozess mit Grabenkämpfen.
Harald Katzmair, Strategieberater
© FAS Research

Nutzen und Kosten von Therapien müssen laut Katzmair in Balance sein. „Dann führen die Ausgaben tatsächlich zu einer Verbesserung der gesunden Lebensjahre. Leider erleben wir aktuell sogar einen Rückgang der Lebenserwartung.“ Auch bei Prävention und Gesundheitskompetenz gäbe es Luft nach oben. „Hier hinken wir nordischen Ländern zehn Jahre hinterher.“ Schubladendenken sollte laut dem Netzwerkanalytiker passé sein, eine neue Feedbackkultur könnte den Alltag für Mitarbeiter*innen und Patient*innen verbessern.

Datenwüste Österreich

Ein Stolperstein auf dem Erneuerungsweg ist die Datenbasis. Österreich ist noch immer eine Zahlenwüste, große Lücken klaffen in puncto Digitalisierung und Vernetzung, kritisiert Katzmair. Fest steht, dass das Gesundheitssystem immer stärker mit Technologie und KI arbeiten wird. „Probleme auszusitzen und Missstände zu ignorieren, ist nicht länger möglich – sonst stirbt der Patient Gesundheitssystem.“

Dennoch bearbeiten viele Schlüsselfiguren im Gesundheitssystem nur ihre Schrebergärten und verhindern eine dynamische Anpassung von Dienstleistungen in einer wachsenden Bevölkerung. Für die Herausforderungen der Zukunft – mögliche neue Pandemien oder ein verschärfter Fachkräftemangel – ist ein gemeinsames Ziel notwendig, Netzwerkanalytiker Katzmair nennt es den nationalen Gesundheitsplan. „Wir müssen den Gesamtwald im Blick haben und nicht nur das Wohlergehen einzelner Bäume.“

Mutig nach vorne schreiten

Die Probleme sind lösbar, jedoch nur durch Zusammenarbeit aller Interessensvertretungen. In einem nächsten Schritt wird die Vorreiter*innengruppe alle Reformwilligen zur Entwicklung weiterer Indikatoren und Datensanierung einladen. Katzmair dazu: „Wir dürfen nicht länger nur am System herumdoktern, sondern müssen eine Wurzelbehandlung vornehmen.“ Auf dem Weg der Neubewertung des Gesundheitssystems rechnet Katzmair mit Gegenwind. „Das wird ein schmerzhafter Prozess mit massiven Verwerfungen und Grabenkämpfen. Aber er muss gelingen. Respekt erarbeitet man sich mit schwierigen Aufgaben.“ Eine Chance für Akteur*innen mit Innovationsgeist oder einzelne Bundesländer – sie könnten mit Schwerpunktprojekten vorangehen und Lösungen für Österreichs Gesundheitssystem vorleben.

Studie: www.vinzenzgruppe.at

© 123rf, Headerbild

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