Zwischen Frau und Mann

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Zwischen Frau und Mann

REFLEXE
Ein Dialog über Geschlechteridentitäten und -differenzen
Schwabe reflexe Band 78

Zwischen Frau und Mann

Ein Dialog über Geschlechteridentitäten und -differenzen Schwabe Verlag

Kristina Schippling /Harald Seubert

Die Publikation wurde ausForschungsmitteln derSTH Basel, des Lehrstuhls fürPhilosophieund Religionswissenschaftengefördert.

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Gestaltungskonzept:icona basel gmbH,Basel

Cover:KathrinStrohschnieder, STROH Design, Oldenburg

Layout:icona basel gmbh, Basel

Satz:3w+p, Rimpar

Druck:CPI books GmbH,Leck

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4751-5

ISBN eBook (PDF)978-3-7965-4752-2

DOI 10.24894/978-3-7965-4752-2

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Vorspruch .. .. .. .. .... .. .. ... ... ... .. .. .. .. .. .. ... 7

Zwischen Feminismus und Gendertheorie : Konstanten und Variationen .. .. ... ... .. .. ... .. .. ... . 9

Das Eine im Anderen:Jenseits der Stereotype oder Diotima und die Pop-Kultur ... .. .. ... .. .. ... .. .. ... . 27 Liebe, Macht und Literatur .. .. .. .. ... .. .. ... .. .. .... 49 Biologie und Konstruktion. ... .. .. ... .. .. .... .. .. ... 55

Oppression, Gewalt und Machtausübung ... ... .. .. .. .. 67 Prüderie und Missbrauch:Opfer und Täter .. .. .. .. .. .. 77

Sprachen der Liebe, Sprache der Geschlechterdifferenz ... 99 In der vernetzten Welt .. .. .. ... ... ... .. .. .... .. .. ... 115 Logos und das weitere Bewusstsein .. ... ... .... .. .. ... 131

Olympia oder die Objektliebe .. .. .. ... .. .. ... .. .. .... 171 Finale con amore. .. ... ... ... .. .. ... .. .. .. .. ... .... 183

Anmerkungen .. ... ... .. .. ... .. .. ... .. .. .. .. ... .... 185

Inhalt
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Frau und Mann:Damit eröffnet sich ein Grundverhältnis, das in die Tiefe des Menschseins geht und Mythen, Literatur und Kunst beeinflusst hat. Ein archetypisches Verhältnis ist dies, dem niemand entgehen kann, weil wir selbst, alle, in dieses Spiel verwickelt sind. Die binäre Unterscheidung wird durch die Vision einer hermaphroditischen übergreifenden Einheit, vielleicht als Erinnerung an den Kugelmenschen in Diotimas Mythos im Symposion konterkariert.

Nicht erst in der Gegenwart, sondern auch in alten Kulturen sind Zwischenformen bekannt, Verwandlungen und Variierungen.

Heute ist die Thematik ideologisch besetzt, durch Cancel Cultures und unterschiedliche Formen der Normierung, aber auch mit einer belastenden Geschichte, die von Missbrauchbis zu Ignoranz reicht, um ihre Unschuld gebracht.

Im vorliegenden Buch versuchen wir, im Gespräch die Fronten aufzubrechen, den verschiedenen Ebenen des komplexen Verhältnisses gerecht zu werden und kulturelle,biologische, gendertheoretische und mythologischeZusammenhänge in ein Gespräch zu bringen. Toleranz und Verstehen unterschiedlicher Blickpunkteleiten uns, aber auch ein philosophischer Blick, der die Provokation nicht scheut und die Tiefen des Frau-Mann-Verhältnisses und der Zwischenformen verstehen möchte. Mithin sind politische, rechtliche Elemente ebenso präsent wie Fragen der Alltagskultur. In verschiedenen Ab-

Vorspruch
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schattungen zeigt sich erst das Grundphänomen, in immer weitergehender Annäherung. Das Selbstempfinden kann im Nachhinein auf den Begriff gebracht werden.

Die letzten Jahrzehnte zeigen ein Aufbrechen der Dualität von Mann und Frau, von den Mustern der Geschlechtsidentitäten. Zugleich eröffnen die sich vermischenden Polaritäten ein ganzes Feld an neuen diversen Geschlechtern.

KS und HS im August 2022

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Zwischen Feminismus und Gendertheorie: Konstantenund Variationen

KS Die Polarität der Geschlechter hat sich in einer Pluralität von Diversitäten aufgelöst. Und dennoch halten sich die beiden Pole des Weiblichen und Männlichen hartnäckig in Gesellschaft und Kultur. Immer noch stellt sich die Frage, wie viel von den natürlichen Gegebenheitendes Körpers unsere geschlechtlicheIdentität wirklich beeinflussen, welchen Anteil die Natur, welchenAnteil die Kultur hat. Die Frage von Mannund Frau (hier sei das LGBTIQ+-Spektrum miteinbegriffen )ist also vor allem eine philosophische Frage von Natur und Kultur. Schon in den Anfängen des Feminismus unterschied Simone de Beauvoir die Frau von ihrem Körper:«Ihr Körper ist etwas anderes als sie»1.Zwar machen die Geschlechter aufgrund ihrer körperlichen Voraussetzungen unterschiedliche Erfahrungen, jedoch lässtsich daraus keine Asymmetrie der Geschlechter schlussfolgern. Judith Butler treibt schließlich die Loslösung des Weiblichen von der Natur auf die Spitze. Sie verabschiedet sich von der Vorstellung der Existenz eines natürlichenKörpers, der nicht schon zivilisatorisch geformt ist, und löst sich damit auch von einer der Grundannahmen des Feminismus,der Unterscheidung von Gender und Sex,von einem kulturellen und einem natürlichen Geschlecht. Auch das natürliche bzw. anatomische Geschlecht ist für Butler im AnschlussanMichel Foucault eine kulturelle Erscheinung. In Hinblick auf Foucault

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ist auch festzuhalten, dass die Machtpraktiken sich bis in die Körper einzeichnen,die körperlichen Praktiken durch Macht geformt sind, ja die Körper selbst durch Macht beeinflusstwerden. So lässt die Zuschreibung der geschlechtlichen Merkmale und Charakterzüge in Hinblick auf das Kulturelle und historisch Entstandene eine gewisse Freiheit von diesen erahnen –ein Utopia – die Idee, dass es auch anders sein könnte, entwerfen. Doch wie würde das Utopia aussehen?Selbst in Spiegelbestsellern wie beispielsweisevon Stefanie Stahl Jeder ist beziehungsfähig wird zwar eingeräumt zu Beginn des Kapitels «Typisch Mann, typisch Frau», dass die geschlechtlichen Merkmale nach derzeitigem Forschungsstandwohl gesellschaftlich bedingt seien, dennoch handelt das gesamte Kapitel eben gerade von diesen.2 Wieschnellwerden MerkmalezuVorurteilen, lässt sich hier fragen?Tradieren wir nicht somit diese Stereotypen immer weiter an die nächsten Generationen?Erschaffen wir hierbei nicht gerade etwas, dass wir eigentlich vermeiden wollen?

HS Dass in den letzten zwei, drei Jahrzehnten die Flexibilität und Variabilität des Geschlechterspektrums vermehrt in die Aufmerksamkeit auch einer breiteren Öffentlichkeit kam, ist im besten Sinn ein Paradigmenwechselvon einem statisch biologischen Paradigma zu einer Phänomenologie der Geschlechtlichkeit in ihren vielfachen individuellen Spielarten.Dies ist umso aufschlussreicher, wenn dabei auch die unreduzierte Subjektivitätsperspektive von Männern, Frauen und allenZwischenformen eine Rolle spielt. Mit Adorno könnte man von der «Unreduzierbarkeit der Erfahrung»sprechen.3 Allerdings habe ich Vorbehalte, Butler in eine Linie mit de Beauvoir oder Foucault zu bringen.Simone de Beauvoir,die mit Jean-Paul Sartre eine neue Form der Paarbeziehung vor der Weltöffentlichkeit lebte und inszenierte, weist meines Erachtens viel weiter als Butlers

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«Linguistizismus»und Konstruktivismus. Sie hatdie körperliche Disposition niemals in Frage gestellt, hat aber auch Mannund Frau-Sein niemals darauf reduziert. Dass Frauen einen potenziell gebärfähigen Körper haben, mit einem Uterus ausgestattet sind, macht sehr wohl einen Unterschied – und ist nicht nur eine«petitedifférence», von der das französische Bonmot spricht.

KS Die historisch gezogene Linievon de Beauvoir zu Butler ist natürlich nichtüberzubewerten undja, ichstimmedir zu, lieber Harald, nurweil Butler zeitlich gesehen aktueller ist, kann de Beauvoir dennochinhaltlich aktueller alsButlersein, kann weitumfassender dieverschiedenen Ebenen ergründen alsButler, die letztendlich biologische TatsacheninSozialem aufgelöstwissen will.

HS Dies ist eine Differenz, die sich in sozialen Zwängen fortsetzt. Butler löst die Dispositionen von «Sexus»weitgehend in «Gender»auf. Hier sehe ich, so sehr die Butler’sche Konzeption sich verbreitet hat, die Gefahr einer akademischen Verengung, des Gender-Elitendiskurses einer bestimmten akademischen Welt-Community. De Beauvoir ist ungleich realistischer, an Real-Lageninteressiert, die gerade auch für Frauen und Männer verschiedener Kulturkreise und Sozialisationen geöffnet sind. Im Hinblick auf das Verhältnis zu Jean-Paul Sartre finde ich gerade nicht nur die inszenierte Vordergrundansicht von Interesse, sondern das, was man aus beiderBiographien, aus Briefwechseln und anderen Materialien heute wissen kann. Dies ist nicht nur Gossip, es zeigt die Reize, aber auch Aporien der anderenFormen von Liebe, etwa in de Beauvoirs Beziehung mit Nelson Algren oder in den Bizarrerien, dass sie Sartre seine diversen Geliebten zuführteund selbst nicht so von Eifersucht frei war, wie es nach dem Modell hätte der Fall sein müssen.

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Der pure Konstruktivismusklammert solche Realitäten zu sehr aus. Er sieht daher weniger als eine umfassendere Optik sehen lässt.

Es ist ja auch nicht so, dass die sozialen Wirklichkeiten keine essentielle Rolle mehr spielen würden, dass Gender nur noch ein Diskursmusterwäre und die feministischen Kämpfe um soziale Gleichheit gegenstandslos wären.Selbst im Westen ist das nicht der Fall, selbst hier ist das Lohnniveau bei Frauen nach wie vor deutlich niedriger als bei Männern. Man kann das Thema, meine ich, nur inter- und transdisziplinär umkreisen und sich annähern:sozial, im Licht von Selbst- und Fremdbildern, phänomenologisch, religionswissenschaftlich, literarisch und auf vielen weiteren Ebenen. Liebe Kristina, ich denke, dass es wesentlich ist, die Komplexität dieses Grundverhältnisses wahrzunehmen und zu bedenken.Biologie und Phänomenologie, kultureller Selbstentwurf, Inszenierung und Lebens-Experiment sind Hinsichten, in denen sich die Relation auffächert. Aufeinander zurückzuführen sind diese Perspektiven nicht. Und Eindimensionalität wird dem Spielder Kunst-Naturgewalten im Sexus/Genderverhältnis nicht gerecht.

Die Auffächerung geschlechtlicher Identitäten schärft im besten Fall die Wahrnehmung und Aufmerksamkeit für Spielarten des Frau-Mann-Verhältnisses, für den dramatischen Reichtum lebendiger Formen,die eine breite Skala beschreiben. Was wir ideehaft «das Weibliche» und «das Männliche»nennen, bezeichnetlediglich Endpunkte dieses viel weiter gespannten Bogens.

Durchzogen sind die feministischen Diskurse von der Erwartung und Hoffnung, weibliche Führungsstile müssten besser, anschmiegsamer, sanfter sein als männliche. Dies ist kaum zu erwarten wie in einem Automatismus. Ich erspare uns, das weibliche politischeFührungspersonal der letzten Jahrzehnte vor diesem Hintergrund durchzudeklinieren. Man sollteaber

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nicht überrascht sein, wenn auch bei Frauen, wie einer Intendantin im Sommer 2022, Korruption und Machtmissbrauch festgestellt werden. Das Geschlecht ist nicht eo ipso ein moralisches Qualitätsmerkmal.

KS Nein, natürlich ist die Moral nicht an ein Geschlecht gebunden. Dies zu behaupten, wäre fatal. Wichtig zu erwähnen ist, dass gerade bei FraueninFührungspositionen die Zuschreibungen von Weiblichkeit besonders stark wirken. Zum Beispiel wird Wut als Emotion nicht toleriert. Während einer männlichen Führungskraft, die mit Wut agiert, Durchsetzungskraft und Führungsqualitäten zugesprochen werden, ist es doch häufig der Fall, dass bei gleicher Handlung die Frau schnell als hysterisch oder zänkisch wahrgenommenwird. An solchen Vorurteilen und Bewertungen muss gearbeitet werden. Wie sollen Frauen angemessenleiten,wenn sie dabei nur die Rolle der Angepassten, Verständnisvollen spielen sollen?Aus solchen Rollenklischees gilt es auszubrechen.

HS Dem stimme ich völlig zu. Aber Korruptionist Korruption ist Korruption. Die Sachlage ist noch intrikater, da bei Frau Schlesinger,der betreffenden Intendantin, auch noch andere Umstände ins Spiel kommen. Sie ist Nachkomminvon ShoahÜberlebenden und war früher eine sehr profilierteInvestigativJournalistin, also eine Persönlichkeit, der man zunächst einmal Vertrauen entgegenbringen sollte. Und keineswegs bieten nur Frauen die eklatantesten Beispiele für Fehlverhalten. Selbst wenn die Skandalisierung Motive einer Ablenkung hätte oder einer Kampagne, um den öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu diminuieren, würde es den Casus an sich nicht besser machen. Er muss benannt werden, zumalernicht nur formal rechtliches, sondern auch informationell öffentliches Interesse hat.

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Auch die Deformationeiner Seite, mit der wir sympathisieren, bleibt eine beklagenswerte Deformation.

KS Auf jeden Fall!Korruption muss entschiedenverhindert werden und ist weder bei Frau noch Mannnoch beim diversen Geschlecht zu entschuldigen. Zu der polyamoren Beziehung zwischen Sartre und de Beauvoir bin ich tatsächlichoft zwiegespalten. Ich sehe in de Beauvoir alles andere als eine emanzipierte Frau an der Seite Sartres. Vielmehr empfinde ich de Beauvoirs Verhalten als einen psychologischen Kompromiss und eine Reaktion auf Sartres polygame Lebensweise. Denn ist es nicht ein typischer Männertraum, dass die Partnerin sich mit der Geliebten auch im Bett anfreundet und der Mann sich mit zwei Frauen vergnügen kann?Mir scheint hier eher der Wunsch, die Verletzungen kontrollieren und beherrschen zu können sowie ein masochistisches Verhalten de Beauvoirsals Reaktion auf Sartres unstillbare Gier nach schönen Frauen und seine Rücksichtslosigkeit gegenüber de BeauvoirsGefühlen der Fall zu sein. Eine besondere Form der Überanpassung und Unterwürfigkeit, um doch noch gebraucht zu werden, um nicht verlassen zu werden, um Sartre nicht zu verlieren. Es ist zu lesen, dass de Beauvoir jedes Mal applaudiert, wenn wieder eine Affäre ihren Abschluss findet.4 So beschreibt Sartre ihr detailreich alle Einzelheiten seinerGeliebten. Um seine Schuldgefühle abzubauen?Umsie zu quälen?DaSartre de Beauvoirs erster Mann war, wirkt es auf mich eher wie eine sado-masochistische Beziehung, in der de Beauvoir es ihrem Manngleichtut, sich versucht zu emanzipieren, indem sie sich wie er verhält. Eine junge Frau, die nicht anders auf die Verletzungenzureagieren weiß als mit ähnlichen Handlungen, jedoch ihre erste Liebe nicht loslassen kann. Doch ist das wirklich weibliche Emanzipation?Wie viel Manipulation und Macht stecken in de Beauvoir, wenn sie ein Mädchensexuell für sich öffnet, um es

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dann Sartrezuzuführen ?Geht sie hier nicht ebenso einen narzisstischen,Grenzen überschreitendenWeg wie Sartre selbst und gibtihr Trauma weiter?Sartres Entscheidung, die Sexualität nicht in der Partnerschaft, sondern außerhalb dieser auszuleben, wird von de Beauvoir ebenso getragen und unterstützt. Sie bleibtbei ihm, hält zu ihm und unterwirft sich so sehr, dass sie ihm Geliebte zuspielt, da sie für ihn nicht mehr über genügend Reiz verfügt. So bleibt sie dennoch indirekt Teil dieser Beziehung mit ihm. Ich sehe in der Bindung vor allem ein komplexes, schmerzhaftes Geflecht aus Grenzüberschreitungen und Gegenreaktionen aufgrund einer narzisstischen oder anderweitigen Beziehungsstörung Sartres, zu der sich de Beauvoir gezwungenermaßenverhalten muss, will sie an seiner Seite bleiben. Dies heißt jedoch auf keinen Fall, dass ich die polyamore Lebensweisegenerell verurteile. Jede Form von Liebe, wenn die Beteiligten sie wollen und wünschen, darf und soll gelebt werden.

HS Wir sind vom heutigen Zeitgeist her in der glücklichen, ein wenig auch voyeuristischen Lage, dass wir diese und andere exemplarischeikonischen Beziehungen analysieren und extern betrachten können. Es liegeneinfach viele Dokumente vor, auch Selbstreflexionen der Beteiligten, deren Selbstzeugnisse vielfältig dokumentiert sind. Du hast eine Analyse gerade subtil und prägnant angedeutet:inwirklich phänomenologischer Rekonstruktion. Das heißt,ineiner Epoché (Einklammerung) von Wertungen, sei es Verurteilung, sei es Glorifizierung. Die Grenze der Epoché oder der Dekonstruktion sehe ich dort erreicht, wo Beziehungsraster ohne Empathie von einer Seite oktroyiert werden. Auch davon ist die Ideengeschichte erfüllt. Wird die Empathie negiert, also verdrängt, endet die Beziehungsinszenierungund der innere oder äußere Missbrauch ist erreicht.

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Betrachten wir von heute her die Sartre-de-Beauvoir-Konstellation, so ist darin viel Verkrampftheit, und das «épatter le bourgeois», das Aufbrechen der spießbürgerlichen Rollenmuster, das ohne Zweifel seinerzeit einen Sinn hatte, führt in neue Sackgassen. Letztlich ging Castor, die kluge und wirklich mehr als ebenbürtige Simone de Beauvoir,vermutlich sehr bewusst, aber ohne dies ändern zu können oder zu wollen, den Weg der Komplizenschaft mit, auch unter Selbstaufopferung. In der Ikone der gleichberechtigten intellektuellen Bindung, die letztlich auf männlicher Projektion und Dominanz beruhte, zeigt sich dieser Abgrund.

Ich hielt Sartre immer für einen der inspirierendsten und produktivsten Intellektuellen und Literaten des 20. Jahrhunderts, und fühle mich nicht befugtund auch nicht imstande, ihn einer postmortalen Psychoanalysezuunterziehen. Doch wenn man die Schatten wahrnimmt, ist es naheliegend, meine ich, auch in seinem unbedingten, verabsolutierten Freiheitsbegriff eine Verdrängung der eigenen Verdrängungen zu vermuten.

DieBeispiele solcherprekärenBeziehungen wärenvielfach zu vermehren. Heideggerund Brecht warensichinder Zahl ihrerAffären sehr ähnlich, undauchdarin,diese Frauen,teils sehr eindrucksvolle,wie beiHeidegger ElisabethBlochmann oder Hildegard Feick, beiBrecht Ruth Berlau oder KätheReichel,eher zu benutzen alsgleichberechtigen Austauschzusuchenund zu finden.Heidegger bemerkte,erbrauche denErosfür sein Denken. Vonden Personen, ausdenen er dieses Erotischebezog,war kaum dieRede.

Bis weit in die Emanzipation der Achtundsechziger reicht eine machohafte Definitionsmacht der Männer über die Beziehungen. Auch in der RAF, die ihren unbegrenzten vermeintlichen Befreiungskampf führte, ist das Verhalten von Andreas Baader gegenüber Ulrike Meinhof, aber auch die Bonnie-und-

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Clyde-Inszenierung mit Gudrun Ensslin überkommenen Rollenklischees verhaftet. Der Mann dominierte. Zumindest Ulrike Meinhof litt bis zum Zerbrechen unter diesen Mustern. Liebe Kristina, hier zeigt sich wirklich eine sozial und ökonomisch weitgehend sedimentierte Asymmetrie in den Geschlechterverhältnissen bis in die jüngste Vergangenheit. Männern wurde, oft mit einer virilen Mischung Neid und Anerkennung, das Epitheton des «Womanizers»zuerkannt. Dafür gibt es sprachlich von weiblicher oder diverser Seite keine Entsprechungen.

Ich würde vermuten, dass auch das sachliche Korrelat fehlt. Ein brauchbarer Leitfaden ist auch der Satz von Edith Stein, der jüdischen Husserl-Schülerin und Konvertitin,die in Auschwitz ermordet wurde, dass menschliche Existenz nicht darin aufgehe, Mann oder Frau, heute müsste man hinzufügen: auch divers, zu sein.5

KS Ja, es gilt, das Geschlecht nicht überzubewerten, vor allem nicht in Bereichenmenschlichen Lebens, in dem es gar keine Rolle spielt und somit auch nicht spielen soll. Allessteht und fällt mit der Empathie für den anderen. Was anfänglich vielleicht ein Experiment, ein Spiel mit den Grenzen der Beziehung sein kann, wird am Grad des Leidens bei der Partnerin, beim Partner überdeutlich. Wennhier trotz des Leidens des anderen Freiheiten weiter ausgelebt werden, halte ich den Begriff ‹Liebe› für vollkommenunangebracht. Liebe wäre es dann, sich wenigstens vom leidenden Partner, der Partnerin zu trennen, ihr keinen Schmerz mehr zu bereiten,wenn die Monogamie schon nicht möglich ist. Und der feine Unterschied, dass der Mann sich Polygamie erlauben kann und noch Aufwertung und Anerkennung erfährt, die Frau jedoch sofortige Abwertung erfährt, sollte sie auch polygam leben wollen,wirkt immer noch tief in unserer Gesellschaft. Frauen werden unterschwellig dazu erzo-

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gen, monogam zu sein. Diese Muster darf man nicht unterschätzen. Ja, und ich halte es für ein Benutzen der Frauen und keinesfallsfür Liebe, eine völlige Selbstüberschätzung und auch kein Verständnis, wie sich die andere dabei fühlt. Ich verurteile die Polygamie nicht, wenn sie auf gegenseitigem Einverständnis beruht und auch die Frau nicht dafür verurteilt wird, abgewertet wird. Doch gesellschaftlich sind wir weit davon entfernt. Eine Beziehung, in der nur ein Partner polygam sich auslebt und die andere aus Liebe nicht gehen kann und monogam weiterlebt, halte ich für keine echte polyamore Beziehung. Das Benutzen findet auf vielen Ebenen statt.

So muss ethisches Handeln sich an der Empathie orientieren. Eine Ethik kann keine Ethik von Gesetzen oder Geboten sein, kann nicht auf Rationalität begründet werden, da diese Festschreibungen meines Erachtens austauschbar sind. Schauen wir uns das sogenannte menschliche Böse an, finden wir es in den psychischen Persönlichkeitsstörungendes Cluster B, der dunklen Triade von Narzisst, Psychopath und Soziopath verkörpert. Diese Störungen zeichnen sich vor allem durch einen Mangel an Empathie aus. Dabei ist das Phänomen der fehlenden Empathie bei diesem Störungsmuster vielschichtig. Denn im Grunde ist es eher eine verkehrte/verdrehte Empathie bzw. eine verstärkte kognitiveEmpathie einhergehend mit einer verringerten emotionalen Empathie, oft wissen Narzissten besser als gesunde Menschen, wo die ‹wunden Punkte› ihrer Opfer sind und können sehr gezielt verletzen.6 Die Empathie ist also meiner Meinung nach der Schlüssel zu einem ethischen Verhalten, kein vorgeschriebenes Gesetz. Nur die Identifikation mit dem Anderen, das Hineinfühlen in den Anderen, das Spüren der Gefühle des Anderenveranlasst zu einem ethischen Verhalten. Es ist der Kompass zum moralischen Handeln.Wenn ich fühle, was der andere fühlt, dann kann ich ihm/ihr nicht wehtun. Denn ihr/sein Schmerz wäredann auch mein Schmerz und

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somit würde ich mir selbst wehtun. Wer einehoheEmpathie hat, handelt also apriori moralisch richtig. Mir erscheint es tendenziell so, dass in unserer Gesellschaft Frauen oft empathischer, Männerstärker auf sich fokussiert sind und ihre Beziehungen sich aufgrund des Nutzens orientieren. Ich denke, dies sind historisch gewachsene Tendenzen. Bei Brechträtselt man bis heute, ob nicht auch seine Frauen unter seinem Namen Gedichte mitgeschrieben haben. Und auch Einstein fällt mir ein. Immerhin hat er seine drei bahnbrechenden Artikel,die die Grundlage für seine weitere Forschung schufen und seinen Durchbruch ermöglichten, in der Zeit geschrieben, als er mit Mileva Marić zusammenwar.Erselbst sagte:«Ich brauchemeine Frau. Sie löst alle mathematischen Probleme für mich.»7 Marić wurde nicht einmal in seinen Dankesworten erwähnt, hat nie selbst publiziert. Vieles deutet daraufhin, dass sie entschieden mitgewirkthat und als Autorin von ihm nicht aufgeführt wurde. Es gibt sicherlich unzählige Beispiele in der Geschichte für ein solches Benutzen und Machtverhalten.Natürlich kann und will ich auch bei Sartre keine Psychoanalyse durchführen. Ich frage mich nur, ob de Beauvoir auch polygam gelebt hätte oder das Bedürfnis verspürt hätte, wenn sie mit ihm in einer glücklichen monogamen Beziehung gewesen wäre.

HS Brecht ist ein drastisches Beispiel, zumal er zum Plagiat, wie man seit der Beggar’sOpera wissen kann, ein freizügiges Verhältnis hatte. Etwas Misstrauen darf man schon haben. Von der Bedeutung von Marič für Einsteins theoretische Arbeit wusste ich nicht, bis Du mir davon erzählt hattest. In Ideenund Wissenschaftsgeschichte liegen vermutlich noch viele Disproportionen, die bis heute verschwiegen werden. Hochbegabte Frauen sind gar nicht zum Zug gekommen, man kennt sie gar nicht. Nur wo ein Werk auch für die Nachwelthochinteressant

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ist und archivalisch dokumentiert, lassen sich diese Zusammenhänge rekonstruieren. Im Sinne dieser zumindest historisch ausgleichenden Gerechtigkeit ist es wichtig, wenn Forschung den Blick auch auf das überblendete «andere Geschlecht»richtet.

Frauen waren wohl in den westlichen Zivilisationen meist mehrheitlich die Verschwiegenen, die Unterdrückten. Den anderen Fall gibt es aber auch, eine weibliche Übermacht:Ich meine zuletzt das Opfer, das, wie in der Hegel’schen HerrKnecht-Dialektik,8 letztlich die Verhältnisse umkehrt, sodass der vermeintlich triumphierendePart wie ein hilfloses Kind von ihm abhängt und die Frau die Fäden zieht. Er kann sich schon deshalb nicht trennen, weil er ohne sie gar nicht lebensfähig wäre oder es doch tief internalisiert hat, nicht lebensfähig zu sein. In dieser Intrigenkunst haben die im Haus nicht-öffentlich lebenden, eingeschlossenen Frauen auch eine jahrhundertealte Virtuosität entwickelt, wohl von der Königin bis zur Magd.

Solche biographischen Blicke ins Innere, liebe Kristina, wie wir sie auf Einstein oder Brecht werfen, sind, denke ich, nicht nur voyeuristisch. Sie zeigen über Statistiken und große Umfragen hinaus die Tragödie und Komödie des Lebens. Man sollte nicht alles auf Biographie reduzieren:Völlig richtig, aber die Biographie spielt doch eine Rolle, gerade wo Interpersonalität mit Geschlechterdifferenz zusammenhängt.

Dein Votum teile ich:Esist so etwas wie ein empathischer Imperativ, der auf lebbare Wechselseitigkeit orientiert ist. Hier stecken, nach dem etwas abgedroschenen Wort, der Teufel und der liebe Gott wieder im Detail. Daher kommt es, um wieder Brecht zu bemühen, auf ein Probehandeln an. Jemand kann vielleicht einer polyamorösen, offenen Beziehung zustimmen, dann aber erkennen, wie sehr ihn oder sie dies schmerzt. Dann kommt es wirklich zu einer Art Aushandeln, schrittweisenAn-

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