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Philosophische Arbeitsweisen

Forschungsobjekte und Editionsfaktoren

JULIAN POLBERG UND MELANIE SEHGAL (HG.)

Theorien – Methoden – Praxisformen

Neue Perspektiven der Philosophiegeschichtsschreibung

Herausgegeben von Gerald Hartung und Melanie Sehgal

Band 2

Philosophische Arbeitsweisen

Forschungsobjekte und Editionsfaktoren

Schwabe Verlag

Publiziert mit Unterstützung des Graduiertenkollegs 2196 « Dokument – Text –Edition. Bedingungen und Formen ihrer Transformation und Modellierung in transdisziplinärer Perspektive » der Deutschen Forschungsgemeinschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.

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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5299-1

ISBN eBook ( PDF ) 978-3-7965-5300-4

DOI 10.24894/978-3-7965-5300-4

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

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Julian Polberg, Melanie Sehgal : Philosophische Arbeitsweisen an der Schnittstelle philologischer, praxeologischer und hermeneutischer Zugänge zur Philosophiegeschichte

I. Programmatische Zugänge

Katrin Wille : Philosophische Praxeologie des Philosophierens. Warum die ‹ Arbeitsweisenfrage › einen Anlass dazu gibt, das Philosophieren erneut selbst zu befragen

Melcher Abramowski, Luz Christopher Seiberth : Wider die Illusion finaler Bestimmbarkeit. Der Hypergraph als Forschungsumgebung und als digitale Edition

II. Fallstudien

35

Dirk Schäfer : Immer besser ? Überlegungen zu Schreibstil und Arbeitsweisen Immanuel Kants am Beispiel von « Über das radikale Böse in der menschlichen Natur » 79

Niklas Sommer : Schillers Aneignung der Transzendentalphilosophie am Beispiel früher Quellen

Carolyn Iselt : Work in progress. Zu Schleiermachers Fortentwicklung seiner Manuskripte der Vorlesungen zur philosophischen Ethik und zur christlichen Sittenlehre

Axel Pichler : Genese – Kontext – These. Nietzsches Nachlass und das Potential textgenetischer Lektüren für die philosophiehistorische Forschung

Konstantin Hokamp : Max Scheler – Eine erratische Arbeitsweise ? .

Julian Polberg : Wilhelm Kamlahs Zettelarbeit oder : Die Frage nach dem Ort der Philosophie

III. Résumé

Tobias Brücker : Wrap-Up des Workshops

« Philosophische Arbeitsweisen »

Die Beiträgerinnen und Beiträger .

Philosophische

Arbeitsweisen an der Schnittstelle philologischer, praxeologischer und hermeneutischer Zugänge zur Philosophiegeschichte

Abstract

The historiography of philosophy has traditionally focused on the content of philosophies and movements. As a result, less attention has been paid to the how of philosophy : to the specific practices through which philosophy operates and to the documents and transmission processes that shape its historical form. While in the historiography of the natural and social sciences there has been a so-called ‹ practice turn › since the 1980s, the study of philosophy’ s practical and material aspects still lacks an established observational basis, as well as heuristic and analytical concepts. To address this gap, we propose using and adapting the concept of Arbeitsweise ( working method or style ), commonly used in the philological context of scholarly editions, for the historiography of philosophy. Our sense is that the concept of Arbeitsweise also holds particular potential for testing the relevance of praxeological theories in relation to philosophical sources. It allows to explore the working methods and styles of philosophers in relation to their entanglement in forms of practice. In this way, our aim is to enhance awareness of the material conditions of philosophical tradition while also reflecting on the practical as well as interpretative conditions of philosophical work.

1. Praxisblindheit und Materialvergessenheit in der Philosophiegeschichtsschreibung

Die Historiographie der Philosophie konzentriert sich gewöhnlich auf Inhalte : Was haben die Denker*innen der Vergangenheit gedacht ? Was waren ihre Grundideen und begrifflichen Neuerungen ? Welche Positionen nahmen sie zu ihrer Tradition und geschichtlichen Situation ein ? In welche wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurse waren sie mit ihren Werken eingeschrieben ? Auf das Wie der Philosophie – ihre Form( en ) – ist in der Philosophiegeschichtsschreibung entsprechend seltener der Blick gefallen. Allenfalls die literarischen Darstellungsformen der Philosophie, d. h. die verschiedenen Textsorten und Rhetoriken, sowie die verschiedenen ‹ Denkmethoden › und Denkstile philosophischer

Strömungen sind in den letzten Jahrzehnten eingehender untersucht worden.1

Gleichzeitig setzt sich die Philosophiegeschichtsschreibung – wie viele andere gesellschaftliche Bereiche – gegenwärtig mit ihren blinden Flecken, Ausschlussund Kanonisierungstendenzen in sozialer, kolonialer, interkontinentaler oder interkultureller Perspektive auseinander.2 Dadurch erweitert und verschiebt sich nicht nur der historische Gesichtskreis. Auch die Diversität der « Ausdrucksmittel » und der « Ergebnisse philosophischer Tätigkeit »3 in verschiedenen sozialen, kulturellen oder geographischen Kontexten und die Heterogenität der Praktiken der Philosophie rücken damit zwangsläufig in den Fokus.4

In dieser erst im Entstehen begriffenen Diskussion um das ‹ Wie › der Philosophie, ihre historisch situierten und medial verankerten Formen, sind zwei Aspekte unseres Erachtens bisher noch nicht ausreichend reflektiert worden. Das sind einerseits die spezifischen Praxisformen, die « konkreten Vollzüge » und « Vollzugsordnungen »5 , durch die Philosophie als eine Wissenskultur im Bereich menschlichen Handelns geschichtlich wirkt und sich entfaltet.6 Dies mag durchaus verwundern, begleitet doch das Zusammenspiel von Wissen und Können – von Episteme und Techne oder ‹ knowing that › und ‹ knowing how ›7 – die westliche Philosophiegeschichte in gewisser Weise seit den sokratischen Aporien.8 Zum ‹ Wie › der Philosophie gehören andererseits die materiellen Formen, die Dokumente und Überlieferungstatsachen, durch die Philosophie selbst dann, wenn man darunter rein geistige Arbeit versteht, notwendig in Erscheinung tritt, bevor sie zum Gegenstand von Historie werden kann. Mindestens die uns bekannte europäische Philosophietradition wäre ohne die Resultate von Kultur- und Medientechniken des ( Ab‐)Schreibens, Lesens, Druckens, Verbreitens usw. undenkbar. Dass sogar das Denken selbst ohne Mediengebrauch und « materielle Artefakte »9 undenkbar wäre, ist die Grundthese einer Reihe von erkenntnistheoretischen Positionen, die sich vermehrt seit

1 Siehe Stegmaier 2021, Schürmann/Spanknebel/Wittwer 2017, Gabriel/Schildknecht 1990, ferner zu den ‹ Denkmethoden › bereits Bocheński 1954.

2 Vgl. etwa Esser 2023, 201– 204 sowie Elberfeld 2017.

3 Graneß 2024, 205.

4 So nimmt etwa Anke Graneß anhand der Philosophietraditionen in afrikanischen Ländern in Abgrenzung zum ‹ Textprimat › moderner europäischer Philosophie die Praktiken und Ausdrucksformen des Philosophierens in mündlich geprägten Kulturen in den Blick ( siehe Graneß 2024 ).

5 Martus/Spoerhase 2022, 23.

6 Siehe auch hier Graneß 2024.

7 Zum zweitgenannten Begriffspaar siehe insb. Ryle 1963, 27– 32.

8 So hat bereits Herman Nohl für die Frühdialoge Platons gezeigt, dass der aporetische Ausgang der Tugenddialoge immer wieder seine Ursache in den Begriffen des ‹ Wissens › und der ‹ Technik › hat ( vgl. z. B. Nohl 1901, 78 –80 ).

9 Sandbothe 2020, 51.

den 1990er Jahren aus der Philosophie heraus in kulturtechnischer Perspektivierung ausgebildet haben.10 Obwohl auch aus geschichtswissenschaftlicher Sicht von der « Einbeziehung der gegenständlichen Dimension der Vergangenheit [ ] ein besseres Verständnis sozialer Praktiken und historischer Prozesse »11 zu erwarten ist, scheinen sich für die Philosophiegeschichtsschreibung bislang kaum Konsequenzen ergeben zu haben.

Ein Grund dafür, warum das für Philosophie konstitutive praktische Können und die materiellen ‹ Träger des Denkens › bis heute in der Philosophiegeschichtsschreibung weitestgehend außer Acht gelassen wurden, ist sicher die sich hartnäckig haltende Vorstellung von den « großen Individuen »12 der Philosophiegeschichte : Meist werden sie als einsame Genies betrachtet, die in der Privatheit des Kaminzimmers meditierend zu ihren Einsichten gelangen und diese unvermittelt zwischen zwei Buchdeckel pressen. Die Hintergründe und Implikationen dieses intellektualistischen Vorurteils wurden innerphilosophisch spätestens seit Mitte des letzten Jahrhunderts in theoretischer wie historischbiographischer Hinsicht problematisiert.13 Außerhalb der Philosophie ist seit den 1980er Jahren in unterschiedlichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wie der Soziologie und der Anthropologie, in Auseinandersetzung mit den modernen Naturwissenschaften in den Science and Technology Studies sowie in den Gender Studies eine Reflexion über die praktischen Bedingungen und materiellen Kulturen unserer Wissensproduktion vorangetrieben worden.14 Ein entsprechendes Umdenken in Bezug auf die Philosophie, das zur Überwindung des intellektualistischen Mythos beitragen und ein diverseres Bild philosophischer Praxis ermöglichen könnte, ist bis heute weitgehend ausgeblieben.15 Das liegt, so unsere Vermutung, nicht nur an einer spezifisch philosophischen ‹ Praxisblindheit › und « Materialvergessenheit »16 , sondern auch an manifesten

10 Vgl. Sandbothe 2020, 50 – 55 ; ferner z. B. Vogel 2003, Koch/Krämer 1997.

11 Derix/Gammerl/Reinecke/Verheyen 2016, 338.

12 Esser 2023, 202.

13 Diese Kritik hat sich insbesondere an den Grundprämissen Descartes’ und seiner paradigmatischen Stellung in der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft abgearbeitet ( vgl. Ryle 1963, 11– 24 ; sowie Kamlah 1969 ; siehe ferner Zittel 2017, 16 ).

14 Für einen knappen Überblick siehe etwa Derix/Gammerl/Reinecke/Verheyen 2016, 391– 395.

15 Ausnahmen bilden etwa die kontextualisierenden Überlegungen Gerald Hartungs zu den institutionellen Bedingungen der Philosophie im Grundriss zur Geschichte der Philosophie ( Hartung 2020 ) sowie Ulrich Johannes Schneiders Studie Philosophie und Universität ( Schneider 1998 ); vgl. zudem Sehgal 2024.

16 Strässle 2013, 10. Das Schlagwort « Materialvergessenheit » signalisiert nach Strässle als kritischer Topos die Akzentverschiebung von einer hermeneutischen, semiotischen, ( post‐) strukturalistischen oder konstruktivistischen Ausrichtung der Kultur- und Geisteswissenschaft zur « materialen Verfasstheit » ihrer Gegenstände.

Schwierigkeiten, die Methoden der Wissenschaftsforschung beispielsweise auf die Philosophiegeschichte zu übertragen.17 So wird in der Philosophie, wie wir sie uns üblicherweise vorstellen, anders als in der Physik oder Chemie, der Ethnologie oder Psychologie nicht experimentiert und gemessen, befragt und erhoben. Es gibt hier in der Regel keine dem Labor oder der Feldforschung oder dem Interview vergleichbaren ‹ Räume des Wissens ›.18 Daher lassen sich z. B. in den Laboratory Studies entwickelte Instrumente der Wissenschaftsforschung nicht ohne weiteres auf die Philosophie übertragen. Auch vom Handeln in anderen Feldern der sogenannten Geisteswissenschaften scheint sich das Tun von Philosoph*innen – wie wir es historisch zur Kenntnis nehmen und in der modernen Fachkultur selber erleben können – zunächst kaum auf prägnante Weise abzuheben. Um Materialvergessenheit und Praxisblindheit in der Philosophiegeschichtsschreibung etwas entgegenzusetzen, scheint es also zunächst einmal an einer einschlägigen Beobachtungsgrundlage zu mangeln sowie an heuristischen und analytischen Begriffswerkzeugen, welche der Spezifik philosophischen Arbeitens im disziplinären Sinn und in konkreten Einzelfällen gerecht werden und eine Einordnung von Praktiken des Philosophierens in größere kulturelle und medientechnische Zusammenhänge erlauben.

2. Editionen als Grundlage der Philosophiegeschichtsschreibung

Unser Bild der Philosophie ist heute – infolge des « seit dem 17. Jahrhundert stärker werdenden Selbstbild[ es ] der europäischen Philosophie [ … ] als Wissenschaft »19 – maßgeblich von Texten bestimmt. Zwischen der Überlieferung alter und der Entstehung neuer Texte spannt sich der Raum auf, in dem sich philosophisches Wissen im Dialog der Gegenwart mit sich selbst und der Vergangenheit ausbildet.20 « Obgleich jede originäre Philosophie keine Textwissen-

17 Vgl. dazu Sehgal 2024.

18 Als eine Ausnahme von der Regel lässt sich hier das im Rahmen der sogenannten sage philosophy maßgeblich vom kenianischen Philosophen Henry Odera Oruka (1944 – 1995 ) entwickelte Konzept einer ‹ philosophischen Feldforschung › anführen, die sich wesentlich auf Interviews von in bestimmten Gemeinschaften als « weise geltenden Personen » stützt, um philosophisches Wissen in nicht-akademischen Kontexten zu untersuchen ( Graneß 2024, 211).

19 Graneß 2024, 206.

20 Diesbezüglich zeichnet Schneider nach, inwiefern die Konstitution der Philosophie als eigenständiges Fach an der modernen Forschungsuniversität auch mit einem gesteigerten Interesse an der Philosophiegeschichte, einer « Historisierung der Vernunft » einherging ( Schneider 1998, 379 ff.). Zu einer Hypothese für die Gründe dieser Verbindung von Historisierung und Institutionalisierung im Anschluss an Schneider siehe Sehgal 2024, 317– 322.

10 Julian Polberg und Melanie Sehgal

schaft sein will, ist jedes Philosophieren auf Texte angewiesen »21 , betont Jörn Bohr. Texte werden aber – zumindest bis vor Kurzem – von Menschen gemacht. Sie sind Ergebnis ihres Handelns, und zwar nicht nur der Schreib- und Kompositionsakte von Autor*innen, sondern auch der Handlungen von Schreiber*innen, Kopist*innen, Setzer*innen, Redakteur*innen, Zensor*innen usw. Oft sind es dabei gar nicht die philosophischen Autoritäten als auctores22 , die das letzte Wort über die Gestalt haben, in der ihre Gedanken von der Nachwelt rezipiert werden. Denn zum einen erfahren besonders alte Texte in der Regel Entstellungen durch Abschreibfehler oder bewusste Eingriffe, zum anderen gelangen manche jüngeren Texte gar nicht zu Lebzeiten ihrer Urheber*innen an ein öffentliches Publikum, sondern werden – wie z. B. die Pensées (1670 ) Blaise Pascals (1623 – 1662 ) oder Friedrich Nietzsches (1844 – 1900 ) Der Wille zur Macht (1901) – nach ihrem Tod von Angehörigen, Kolleg*innen und anderen aus ihren Hinterlassenschaften zusammengestellt – nicht immer ohne Kontroversen.23

Die philosophische Editorik ist diejenige Forschungsdisziplin, welche die Konstituierung der Texte, die der Philosophiegeschichtsschreibung als Quellen dienen, wissenschaftlich verantwortet. Ihre Aufgabe ist die kritische Begutachtung der Überlieferungstatsachen, um eine zuverlässige Textgrundlage für philosophiehistorische Forschung bereitzustellen. Durch die seit Ende des 19. Jahrhunderts stark zunehmende Nachlasspflege und Archivierung, als deren erkenntnistheoretischer Wegbereiter von philosophischer Seite besonders Wilhelm Dilthey (1833 – 1911) mit seinen Aufsätzen Archive für Literatur (1889 ) und Archive der Literatur in ihrer Bedeutung für das Studium der Geschichte der Philosophie (1889 ) gilt,24 hat die Fülle des Originalmaterials, das der Philosophiehistorie prinzipiell zur Verfügung steht, im Vergleich zu früheren Jahrhunderten um ein Vielfaches zugenommen. Wie Walter Jaeschke schon 2002 vermutete, bildet heute «[ d ]ie Edition nicht publizierter Texte [ … ] den Hauptteil unserer Arbeit – und dies ist [ … ] derjenige Teil [ … ], der für die Erschließung des geistigen Reichtums weit wichtiger ist als das erneute Bereitstellen des Bekannten ».25 Entsprechend werden in Editionen nicht bloß Druckausgaben, Reinschriften und Satzfahnen abgeglichen, sondern darüber hinaus auch Manuskriptentwürfe, Typoskripte, Notizzettel, Briefe, Tagebücher, Handexemplare,

21 Bohr 2021, Abs. 3.

22 Zu Bedeutungszusammenhang und Geschichte der Wörter « Auctor » ( Urheber*in/ Schöpfer*in ) und « Autor » ( Verfasser*in ) siehe Jaeschke 2003, 14 – 25.

23 Zur Editionsgeschichte des vermeintlichen Nietzsche-Hauptwerks vgl. etwa Zittel 2017, 13 – 15. Weitere Beispiele sind Theodor W. Adornos Ästhetische Theorie (1970 ; siehe z. B. Endres/Pichler/Zittel 2013 ) und die posthumen Schriften Ludwig Wittgensteins ( siehe z. B. Erbacher 2017 ).

24 Siehe Kopp-Oberstebrink 2018 und Hurlebusch 2010, 60 – 62.

25 Jaeschke 2003, 23, Anm. 9.

Protokolle, Vorlesungsmitschriften u. v. m. erschlossen, geordnet, dokumentiert, transkribiert, kollationiert, emendiert, kommentiert und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt.

Mit der Untersuchung von Dokumenten aus der Entstehungsgeschichte philosophischer Werke und sonstiger Lebenszeugnisse stellt sich bei den Editor*innen über die Zeit meist auch ein gewisses Verständnis der ‹ Arbeitsweise › der Urheber*innen ein, das für editorische Entscheidungen leitend sein kann. « So ist es », Bodo Plachta zufolge,

nicht nebensächlich, ob ein Autor seinen Text erst nach ausgiebigem Quellenstudium oder detaillierter Materialrecherche unter Anfertigung zahlreicher Notizen, Schemata und Exzerpte produziert, oder ob er Stoff und Thema solange mit sich herumträgt, bis der Text gedanklich soweit vorstrukturiert bzw. vollendet ist, daß der Autor ihn in einem Zuge niederschreiben kann.26

Auch für ein Verständnis der Beziehungen zwischen konkreten Arbeitsprozessen und übergeordneten Praktiken ist eine umfassende Kenntnis der « archivarischen Quellenlage », die « diese Praxiszusammenhänge umfassend überliefert », unentbehrlich, wie Steffen Martus und Carlos Spoerhase betonen.27 Editor*innen ließen sich demnach als besonders qualifiziert ansehen, um im jeweiligen Einzelfall über die praktisch-materielle Dimension philosophischer Arbeit und über « das Schreiben » als « eine bestimmte Praxis des Philosophierens »28 zu informieren. Zu erwägen wäre entsprechend, ob die Arbeitsspuren in nachgelassenen Dokumenten auch als Basis für neue praxisgesättigte Zugänge zu philosophiehistorischen Quellen dienen und so eine entsprechende historiographische Horizonterweiterung befördern könnten. Indes sind Anzeichen eines practice oder material turn auch in der philosophischen Editionspraxis bislang nur bedingt auszumachen, wobei insbesondere digitale bzw. hybride Editionen in jüngster Zeit eine Ausnahme bilden.29

Wie in einem Fach ediert wird, richtet sich nach den in diesem Fach vorherrschenden Interessen. Entsprechend folgen die meisten wissenschaftlichen Editionen philosophischer Quellen in ihrer Gestaltung und Ausstattung weitgehend der Fokussierung auf Inhalte in der philosophischen Forschung. Obwohl sich die Philosophie, wo sie kein rein systematisches Interesse verfolgt, durchaus als Textwissenschaft versteht, bleibt der ihren Editionen zugrunde liegende

26 Plachta 2013, 46.

27 Martus/Spoerhase 2022, 28.

28 Graneß 2024, 207.

29 Siehe exemplarisch das Webportal der kritischen Hannah Arendt-Gesamtausgabe (2023 ff.), welche mit interaktiven diplomatischen Ansichten sämtlicher Textzeugen aufwartet, oder die Archiv-Edition Walter Benjamin Digital (2016 ff.), welche die Transkriptionen von Benjamins Nachlassdokumenten eingebettet in die Digitalisate derselben präsentiert.

12 Julian Polberg und Melanie Sehgal

Textbegriff meist ein ideeller und immaterieller, insofern im Text als Gegenstand der Interpretation vorrangig ein « ideales schriftsprachliches Konstrukt »30 gesehen wird. Claus Zittel sieht diesbezüglich in der Philosophie « ein besonders prekäres Spannungsverhältnis, ja oft gar ein Unverhältnis zu den philologischen Bedingungen des eigenen Arbeitens »31 und unterstellt ihr sogar « radikale Textvergessenheit ».32 Wo die Lektüre « um des Gedankens willen »33 passiert, also von Sachinteressen philosophischer Leser*innen ausgeht, da kann in der Tat die Aufmerksamkeit für den Text sowie die ihm zugrundeliegenden Befunde und Praktiken nur eine sekundäre sein.34 Das hat natürlich nicht nur Konsequenzen für die Vermittlung der Texte in ihrer historischen Gewordenheit, sondern auch für den untergeordneten Status der Editorik im Fach Philosophie.35 In anderen Fachkontexten, wie in der Neugermanistik, hat sich längst ein gesteigertes Bewusstsein für die grundlegende Bedeutung von Editionen für die Forschung und entsprechend in den Editionen schon seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine « fortschreitende Radikalisierung des Anspruchs auf Dokumentation der materialen Ebene »36 bemerkbar gemacht hat – nicht zuletzt der Transparenz editorischer Entscheidungen wegen. Dagegen scheint es im Fachkontext der Philosophie darauf anzukommen, überhaupt erst einmal zu zeigen, welche Relevanz die aus Überlieferungsbefunden rekonstruierbaren praktischen Vollzüge für die vor allem inhaltlich bestimmten Sachinteressen der Forschung haben können. Hier ist der Begriff der Arbeitsweise, so unsere Hypothese, ein geeigneter Ausgangspunkt, bildet er doch so etwas wie ein Scharnier zwischen den Entstehungs- und Verstehensbedingungen philosophischer Werke, zwischen persönlichen Gewohnheiten und Verhaltensformen philosophischen Arbeitens, fachlich-disziplinären Ansprüchen und institutionellen Anforderungen sowie kulturellen Rahmenbedingungen.

30 Sahle 2013, 246.

31 Zittel 2017, 11.

32 Zittel 2017, 17.

33 Kluxen 1980, 15.

34 Wolfgang Kluxen urteilt : « Es ist daher nicht selbstverständlich, daß der Text auch als Text, als objektiver Bestand der philosophischen Überlieferung und unabhängig vom aktuellen Sachinteresse [ … ] zum Gegenstand besonderer Sorge wird » ( Kluxen 1980, 15 ).

35 So bemerkte Jaeschke anlässlich des XXI. Deutschen Kongresses für Philosophie ironisch : « Alle drei Jahre wieder dürfen sich die Editoren aufgenommen wissen in die illustre Gesellschaft aller philosophierenden Geister deutscher Zunge – bevor man wieder auseinandergeht » ( Jaeschke 2009, 169 ).

36 Rasch/Lukas/Ritter 2013, 100.

3. Zum Begriff der Arbeitsweise

‹ Arbeitsweise › ist zunächst und vor allem ein vielseitiger Ausdruck der deutschen Umgangssprache. Man spricht etwa von der Arbeitsweise konkreter Personen oder von Arbeitsweisen, die bestimmte Personengruppe auszeichnen, ferner auch von Arbeitsweisen im Sinne institutioneller Abläufe oder Funktionsweisen technischer Geräte. Wenn wir mit ‹ Arbeitsweise › das wahrscheinliche oder zu erwartende Handeln und Verhalten von Personen einer Klasse in ihren üblichen Angelegenheiten meinen, was z. B. der Fall ist, wenn wir fragen : « Wie arbeiten eigentlich Philosoph*innen ?», dann zielt die Rede auf das, was Personen dieser Gruppe bei der Ausübung ihrer Arbeit immer wieder und mit einer relativen Sicherheit tun. Neben dem Praktischen besteht hier eine ausgesprochene Konvergenz zum Methodischen oder Handwerklichen im Sinne einer rationalen Ordnung von Tätigkeit in Hinblick auf bestimmte Ziele.37

Als philologischer Terminus, wie er in der neugermanistisch geprägten Editionswissenschaft verwendet wird, zielt ‹ Arbeitsweise › hingegen auf die singulären Arbeitsgewohnheiten einzelner Personen ungeachtet ihrer Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe oder zu sonstigen Personenklassen. Vielmehr geht es beim philologischen Studium von Arbeitsweisen nach Klaus Hurlebusch primär um die « Charakteristik der Autoren »38 , die in erhaltenen Zeugnissen ihrer Arbeit sichtbar wird. Auch Gerhard Seidel definiert ‹ Arbeitsweise › als « die Einheit von Arbeitsziel, Arbeitsmittel und Arbeitsmethode [ ], die für einen Autor mehr oder weniger konstant und charakteristisch ist ».39 Das philologische Interesse an den Arbeitsweisen von Autor*innen steht im Zeichen einer durch die wachsende Zugänglichkeit von Dichter*innen- und Schriftsteller*innen-Nachlässen unterstützten geschichtlicheren Betrachtung literarischer Werke, in denen statt Schöpfungen genialer Intuition zunehmend Ergebnisse von Prozessen gesehen werden, die durch zahlreiche materielle, soziale, wirtschaftliche Faktoren bestimmt sind.40 Als mögliche Aspekte speziell literarischer Arbeitsweisen lassen sich in Anlehnung an Seidel z. B. anführen :

– Arbeitsanlässe ( z. B. Aufträge, Wettbewerbe, gesellschaftliche Ereignisse ), – Quellenbenutzung und -bearbeitung, – Verhältnis zu Mitarbeiter*innen, – Arbeitsphasen ( Konzeption, Ausarbeitung, Überarbeitung, Revision ),

37 Vgl. Bocheński 1954, 16 f.

38 Hurlebusch 1995, 13.

39 Seidel 1970, 44.

40 Vgl. etwa Seidel 1970, 44.

– Arbeitsmittel ( z. B. Schriftträger, Schreibmaterialien ) und ihre Verwendung, – Arbeitsumfeld und Arbeitsbedingungen.41

Dabei ist nicht auszuschließen, dass bestimmte Arbeitsweisen, wie Seidel im Fall von Bertolt Brecht argumentiert, auch als ‹ Spiegel › philosophischer, ästhetischer oder weltanschaulicher Ansichten und Überzeugungen erscheinen.42 Gleichwohl ist das Ziel der – stets indirekten – Bestimmung der Arbeitsweisen aus editionsphilologischer Sicht nicht in erster Linie ein besseres Inhaltsverständnis, sondern die Erklärung der Überlieferungstatsachen zur Festlegung angemessener Wiedergabeformen.43 In dieser Hinsicht unterscheidet Siegfried Scheibe, der « in der Arbeitsweise des Autors jene zentrale Kategorie [ sieht ], von der die Edition auszugehen hat », ausdrücklich zwischen der textologischen Interpretation eines « Werkes mit seinen verschiedenen Entwicklungsstufen » und der « Deutung » der jeweiligen Textfassungen.44

Im Zentrum der Aufmerksamkeit neuphilologischer Untersuchungen von Arbeitsweisen stehen vor allem die dokumentierten Verfahrensweisen der Herstellung von Texten – die « textgebundene Arbeitsweise des Autors »45 als Faktor der sogenannten Textgenese. Eine verbreitete Typologie, die schon das obige Plachta-Zitat andeutet, ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen sogenannten ‹ Kopfarbeiter*innen ›, die bei der ersten Niederschrift einen stark durchgebildeten Text zu Papier bringen, was auf einen großen Anteil an nicht-materialisierter, gedanklicher Vorarbeit verweist ; und sogenannten ‹ Papierarbeiter*innen ›, bei denen sich die Entstehung eines Textes bereits früh, beginnend z. B. mit ersten Skizzen, Notizen und Entwürfen, mehrere Kompositions- und Revisionsphasen durchlaufend auf einem oder mehreren Textträgern materialisiert.46 Besonders die philologische Beschäftigung mit den Hinterlassenschaften der Papierarbeiter*innen hat im Verlauf des 20. Jahrhunderts zu jener oben angesprochenen paradigmatischen Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die ‹ Materialität der Literatur › geführt. Insofern die aus philologischer Sicht « primären Faktoren der Arbeitsweise [ ] durch die Lebensgewohnheiten des Autors beeinflußt »47 werden, fallen die sonstigen Aspekte als « sekundäre Faktoren »48 in den Bereich der ‹ allgemeinen Arbeitsweise ›.49 Da etwa Tagesroutinen

41 Vgl. im Detail Seidel 1970, 46 – 97 ; siehe auch Scheibe 1998a.

42 Vgl. Seidel 1970, 64.

43 Vgl. Seidel 1970, 44 – 45 ; Hurlebusch 1971, 129 ; Scheibe 1998a, 74 – 75.

44 Scheibe 1998b, 18.

45 Hurlebusch 1971, 130.

46 Vgl. Plachta 2013, 46 – 50 ; Scheibe 1998a, 74.

47 Scheibe 1998a, 74.

48 Scheibe 1998a, 74.

49 Vgl. auch Scheibe 1998b, 18 – 19.

und wiederkehrende « Schreibszenen »50 ihre Spuren oft nicht auf den erhaltenen Dokumenten hinterlassen, ist man hier besonders auf Selbstauskünfte der Autor*innen oder Berichte von Zeitgenoss*innen angewiesen.51 In popularisierender Absicht ist mit der Untersuchung von Arbeitsweisen einzelner Personen und der Edition von Originalmaterial, an dem diese erkennbar sind, oft die Suggestion eines Einblicks in die ‹ Werkstatt des Autors › verbunden. Die Analogie, die in diesem « Imaginationsraum »52 der Werkstatt zwischen Schriftstellerei und Handwerk einschließlich derer Erzeugnisse gezogen wird, illustriert treffend das Spannungsverhältnis, das – auch im Kontext der Philosophie – zwischen einem Werk, dem für gewöhnlich das Interesse gilt, dem Nachlassmaterial, das seine Entstehung dokumentiert, und der Arbeitsweise, welche diese Entstehung und damit das Werk prägt, besteht. Denn einerseits wäre es ein deutlicher Kohärenzbruch bezüglich der Werkstatt-Metapher, dasjenige, was vom Arbeitsprozess in der Werkstatt – anhand des Nachlassmaterials – ‹ zu sehen › ist, für das Werk selbst zu nehmen und an seiner Stelle zu interpretieren. Andererseits erscheint es durchaus kohärent zu sagen, dass ein Verständnis für die Qualität eines Werkes und das Können der Werkschaffenden von der Einsicht abhängt, wie das Werk im Einzelnen ‹ gearbeitet › ist. In dem Sinne ließe sich der Begriff der Arbeitsweise auch als zentrale Kategorie einer philologisch-kritischen Philosophiegeschichte in Anschlag bringen, welche die Darstellung und Beurteilung der in der Philosophie geleisteten Arbeit mit einer Reflexion auf die jeweiligen praktischen und materiellen Bedingungen dieser Arbeit verbindet. Denn wenn « bei den philosophischen Systemen », wie Brecht schreibt, ähnlich Kunstwerken meist « verborgen [ wird ], wie sie gemacht werden », so als ob « alles einfach stattfindet, sozusagen von sich selber », dann zeichnet sich das reflektierte Urteil auch hier dadurch aus, dass es in der Philosophie das ‹ Philosophiemachen ›, « das aktive Element des Schaffens », zur Kenntnis nimmt.53

4. Arbeitsweisen

in der Philosophiegeschichtsschreibung

Auch im Bereich der Philosophie verrät die Geläufigkeit des Werkstatt-Topos –vorzugsweise in Titeln, Verlagstexten und Besprechungen zu Monographien und Nachlass-Editionen54 – ein reges Interesse der Öffentlichkeit an den indivi-

50 Zum Konzept der Schreibszene siehe insb. Campe 1991.

51 Vgl. Scheibe 1998b, 20.

52 Kastberger/Maurer 2017, 7.

53 Brecht 1974, 41.

54 Siehe z. B. Waldenfels 2008 (« Werkstatt des Denkens »); Danz 2016, 137 (« Werkstatt des Denkers ») oder Joachim Werren zit. nach Dahm-Brey 2009, Abs. 7 : « Die Jaspers-Bibliothek

duellen Arbeitsweisen einzelner, herausragender Philosoph*innen. Ein besonderer Reiz scheint hier vor allem in der Erwartung ( oder Verheißung ) zu liegen, den Philosoph*innen beim Denken ‹ über die Schulter schauen › zu können.55 So beleuchtet etwa Rüdiger Zill in seiner Blumenberg-Biographie Der absolute Leser (2020 ) unter reichem Rückgriff auf Nachlassquellen dessen Werkschaffen als « eine umfangreiche literarisch-theoretische Denkmaschinerie.»56 Ähnliches Interesse trifft besonders solche Philosoph*innen, die auch außerhalb der philosophischen Forschung rezipiert werden und bei denen eine hohe intellektuelle Reputation mit umfangreichen Nachlässen und einer zum Teil zweifelhaften Editionslage zusammentrifft. So zeichnet etwa Tobias Brücker in Auf dem Weg zur Philosophie (2019 ) anhand von Originalzeugnissen die Entstehung von Nietzsches Der Wanderer und sein Schatten (1880 ) aus der Schreibsituation seines Kuraufenthalts in St. Moritz im Sommer 1879 nach.57 Eine 2021 erschienene Teil-Edition der Typoskripte zu Theodor W. Adornos (1903 – 1969 ) posthum veröffentlichter Ästhetischer Theorie (1970 ) hat das unabgeschlossene Ringen des Philosophen mit Darstellung und Ordnung seines Werkes sowie den Einfluss seiner Frau Gretel Adorno (1902 – 1993 ), « die bis an den Rand der Mitautorschaft in den Arbeitsprozess involviert ist »58 , offengelegt.59 Weitere bekannte Philosophen, deren Arbeitsweisen in den Blick genommen wurden, sind Martin Heidegger (1889 – 1976 ) und Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002 ), denen sich Ulrich von Bülow neben anderen in seiner Studie Papierarbeiter (2018 ) auf Basis der Bestände des Deutschen Literaturarchivs Marbach widmet.60 Ein breiteres Interesse an den Arbeitsweisen der Philosophie, jenseits ihrer öffentlich wirksamen Stars, steht jedoch noch aus.

Der Transfer des Arbeitsweisebegriffs in den breiteren Kontext philosophischer Forschung bietet sich nicht allein aus historiographischer Perspektive an. Er erscheint zudem besonders schlüssig für eine Beforschung moderner Philosophie, die im institutionellen Rahmen der Forschungsuniversität stattfindet, ist die Werkstatt des Philosophen. Seine authentischen Gebrauchsspuren erklären uns sein Denken.»

55 So heißt es z. B. in einer Pressestimme zu Quellen, Ströme, Eisberge (2012 ), einer aus dem Nachlass Hans Blumenbergs mit zahlreichen Abbildungen herausgegebenen Sammlung metaphorologischer Untersuchungen : « Die Texte sind in ihrer sympathischen Vorläufigkeit belassen, was es ermöglicht, in die Denk- und Arbeitsweise Blumenbergs einen Einblick zu gewinnen. Hier öffnet sich die verborgene Werkstatt des Philosophen und lädt dazu ein, seinem Ordnungsgang und seinen Gedankenspuren zu folgen, auf seine Kommentare einzusteigen und das gesammelte Material auch selber zu reflektieren » ( Erdoğan 2012, Abs. 2 ).

56 Zill 2020, 8.

57 Siehe Brücker 2019.

58 Hartung 2022, 249.

59 Siehe Adorno 2021.

60 Siehe Bülow 2018, 50 – 73, 255 – 281.

d. h. sich als Fachwissenschaft neben anderen konstituiert und so zunehmend selbst als Arbeit und als Profession versteht. Allerdings müsste ein solcher Begriffstransfer dazu unter mehreren Gesichtspunkten zugleich mit Ausweitungen einhergehen, um nicht in der Orientierung am Literaturschaffen einem eingeschränkten Blick auf philosophische Tätigkeit Vorschub zu leisten. So leuchtet die primäre Orientierung des Arbeitsweise-Begriffs an der Textproduktion zwar aufgrund seiner literaturwissenschaftlichen Provenienz ein. Sie scheint aber Quellen, die wie Notizbücher und Notizzettel, Protokolle, Diktate, Kolleghefte, Vorlesungsskripte, Briefe usw. eher alltägliche Gebrauchsformen philosophischer und wissenschaftlicher Praxis darstellen, nicht voll gerecht zu werden, solange diese der Arbeit am Text eines konkreten Werkes nicht präzise zugeordnet werden können, sie nur begleiten oder allenfalls berühren. Sollen solche Zeugnisse nicht gemäß der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Faktoren der Arbeitsweise ihrerseits als sekundäre, allenfalls historisch bedeutsame Ko-Texte, sondern eigens als Dokumente philosophischen Charakters gewürdigt werden, dann muss die scheinbar selbstverständliche Grundannahme, der gedruckte Werk-Text sei so etwas wie der ‹ natürliche Ort › der Philosophie und der philosophischen Forschung, problematisiert werden. Erwägt man, den Begriff der Arbeitsweise in Hinblick auf einen möglicherweise erst zu gewinnenden « Begriff des Werkes im umfassenden Sinn »61 zu erweitern, so wird auch die Unterscheidung von Kopfarbeiter*innen und Papierarbeiter*innen in ihrer Allgemeinheit zunehmend fragwürdig. Während sie als Heuristik literarischer Arbeitsweisen bezüglich der Auswahl editorischer Präsentationsmodelle sinnvoll ist, tritt mit Blick auf philosophische Arbeitsweisen gerade die Frage nach dem Verhältnis von Kopf- und Papierarbeit in den Vordergrund – vor allem wenn mehrere Köpfe zusammenarbeiten. Über Untersuchungen zur Genese philosophischer Texte hinaus scheint damit ferner interessant, den Blick in drei Richtungen auch auf Faktoren der allgemeinen Arbeitsweise auszuweiten, nämlich (1) auf die regelhafte, zum Teil an bestimmte mediale Gattungen, z. B. den Gelehrtenbrief, gebundene Kommunikation zwischen Philosophierenden ; (2 ) auf die Rolle, die Schreibgeräte und sonstige Hilfsmittel wie Schreibmaschinen und Zettelkästen, die selbst keine schrifttragenden Artefakte sind, für philosophische Arbeitsweisen spielen ; (3 ) auf die räumlichen und zeitlichen Relationen, in denen die besonderen Arbeitsweisen einzelner Philosoph*innen mit Aspekten der Lebensführung stehen – man denke neben Nietzsches Kuraufenthalten z. B. an Heideggers Hütte in Todtnauberg oder Kants tägliche Spaziergänge.

Mit seiner Entlehnung aus dem philologischen Zusammenhang und seiner Ausweitung über den Bereich der Textproduktion hinaus öffnet das Konzept der Arbeitsweise einen am Überlieferungsmaterial orientierten Blick auf jene

61 Bohr 2019, 123.

18 Julian Polberg und Melanie Sehgal

praktischen Vollzüge und raumzeitlichen Zusammenhänge, welche Philosoph*innen nicht nur als Autor*innen, sondern als Handelnde in wechselnden Kontexten bestimmen und charakterisieren. Der Blick auf Arbeitsweisen trägt damit ( auch für die europäische akademische Philosophie ) zu einer reicheren Betrachtung verschiedener Tätigkeitsformen und Textgenres der Philosophie bei. Fragt man indes, wodurch sich diese als Spezifika philosophischen Arbeitens ausweisen lassen, sieht man sich mit dem zentralen Problem einer Vermittlung von internen und externen Perspektiven der Historiographie konfrontiert, das auch schon die Wissenschaftsgeschichte umgetrieben hat.62 Aus der internen Perspektive einer maßgeblich am Inhalt von Texten interessierten philosophischen Forschung stellt sich unversehens wieder die Unterscheidung von primären und sekundären Faktoren ein : Als spezifisch philosophisch erscheinen Aspekte der Arbeitsweise vor allem dann, wenn sich im Kontext einer Interpretation argumentativ bedeutsame Strukturmerkmale eines Textes oder eines Quellenkorpus auf sie zurückführen oder aus ihnen erklären lassen ( z. B. bei Ordnungs- und Kompilationsverfahren ) oder wenn durch sie Textvarianten dokumentiert sind, die eine Rekonstruktion des intendierten Sinns unterstützen, z. B. durch « negative Ersatzprobe »63 – kurz gesagt : wenn sich die konkreten Arbeitsoperationen als Korrelat von interpretativ zu erschließenden intellektuellen Vollzügen der betreffenden Philosoph*innen auffassen lassen, womit das praktische Können gerade auf das theoretische zurückgeführt wird.64 Aus einer externen Perspektive, die von der formalen Beschreibung der Arbeitsweisen ausgeht, besteht dagegen umgekehrt die Schwierigkeit zu zeigen, wie praktische Vollzüge und Handlungsroutinen « in die Philosophie einwirken und selber Teil der Philosophie sind ».65

5. Arbeitsweisen als Baustein einer Praxeologie der Philosophie ?

Die Übertragung des terminologisch vorgeprägten Arbeitsweisebegriffs der Editionsphilologie in den philosophiehistorischen Kontext lässt ein Wechsel- und Spannungsverhältnis von inhaltlichen und formalen Verstehens- bzw. Erklärungsansprüchen erkennen. Eine Erforschung von Arbeitsweisen im Grenzbereich von Philologie und Philosophie scheint dementsprechend darauf hinauszulaufen, im Einzelnen zu zeigen, wie formal bestimmtes praktisches Verhalten

62 Zu diesem Problem siehe Sehgal 2024, 313 – 316.

63 Der Ausdruck geht zurück auf den Schiller-Editor Herbert Kraft und meint die Negativbestimmung der spezifischen Semantik einer Textstelle ( das, was nicht gemeint ist ) durch Einsetzung früherer, verworfener Textzustände aus der Genese ( vgl. Nutt-Kofoth 2024, 285 ).

64 Zur Kritik vgl. Ryle 1963, 29.

65 Brücker 2019, 63.

in inhaltlich bestimmtes theoretisches Verhalten übergehen kann und umgekehrt. Ein solches Anliegen lässt sich bis in die Philosophiegeschichte des frühen 20. Jahrhunderts zurückverfolgen, auch wenn es selten systematisch umgesetzt worden ist. So findet sich bereits bei Heidegger in Sein und Zeit (1927 ) jene instruktive Passage :

[ W ]ie der Praxis ihre spezifische Sicht (« Theorie ») eignet, so ist die theoretische Forschung nicht ohne ihre eigene Praxis. [ … ] [ A ]uch die « abstrakteste » Ausarbeitung von Problemen und Fixierung des Gewonnenen hantiert zum Beispiel mit Schreibzeug. [ ] Der ausdrückliche Hinweis darauf, daß wissenschaftliches Verhalten als Weise des Inder-Welt-seins nicht nur « rein geistige Tätigkeit » ist, mag sich umständlich und überflüssig ausnehmen. Wenn nur nicht an dieser Trivialität deutlich würde, daß es keineswegs am Tag liegt, wo denn die Grenze zwischen dem « theoretischen » Verhalten und dem « atheoretischen » verläuft !66

Nimmt man diese Feststellung ernst, so erscheint es erstrebenswert, künstliche Grenzziehungen zwischen Theorie und Praxis zu unterlaufen, ohne Letztere der Ersteren schlechthin unterzuordnen. In diese Sinne plädierten Gilles Deleuze und Félix Guattari am Ende des 20. Jahrhunderts dafür, die Frage ‹ Was ist Philosophie ?› mit dem Verweis auf die Praxis der Philosophie zu beantworten, da die bisherigen Antwortversuche, insofern sie rein theoretischer Natur waren, zu abstrakt blieben : « Man hatte allzugroße Lust daran, Philosophie zu betreiben, man fragte sich nicht, was sie war, es sei denn in Stilübungen ; man war noch nicht an jenen Punkt von Nicht-Stil gelangt.»67 Indem Deleuze und Guattari die Philosophie als Praxis bzw. Kunst, Begriffe zu schaffen, bestimmen,68 legen auch sie jenen grundlegenden Perspektivwechsel vom ‹ Was › auf das ‹ Wie › der Philosophie nahe : Statt der Frage ‹ Was ist Philosophie ?› wiederum mit einer Philosophie der Philosophie zu begegnen, besteht die Alternative darin, das Philosophieren ‹ praxeologisch › in den Blick zu nehmen.

Als Forschungsansatz versucht die Praxeologie oder ‹ Praxistheorie › in Aufnahme verschiedener Impulse aus der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts – insbesondere im Rückgriff auf den klassischen Pragmatismus und die Spätphilosophie Wittgensteins –, Wissenschaftshistorie nicht als eine Geschichte von Ideen und Theorien zu erzählen oder ausschließlich die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zu referieren und in heroische Fortschrittsnarrative einzupflegen. Vielmehr geht es darum, die mannigfaltigen Prozesse, Praktiken und Räume sowie die Vielfalt der Akteure in den Blick zu nehmen, durch die und mit denen wissenschaftliches Wissen konkret hergestellt wird. Folgt man

66 Heidegger 2006, 358.

67 Deleuze/Guattari 2000, 5.

68 « Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen » ( Deleuze/Guattari 2000, 6 ).

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