PUB 49: Maximilian Bach, Dieter Martin (Hg.). Ein Pantheon auf Papier

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Das Signet des Schwabe Verlags ist die Druckermarke der 1488 in Basel gegründeten Offizin Petri, des Ursprungs des heutigen Verlagshauses. Das Signet verweist auf die Anfänge des Buchdrucks und stammt aus dem Umkreis von Hans Holbein. Es illustriert die Bibelstelle Jeremia 23,29: «Ist mein Wort nicht wie Feuer, spricht der Herr, und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeisst?»

Publikationen der Universitätsbibliothek Basel

Band 49 Schwabe Verlag

Ein Pantheon auf Papier

Die Sammlung

Karl Geigy-Hagenbach (1866–1949) und die moderne Autographenfaszination

Herausgegeben von Maximilian Bach und Dieter Martin

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch die Eckenstein-Geigy Stiftung (Basel), die Sulger-Stiftung (Basel), Herrn Prof. Dr. Hartmut Raguse, Frau Nicole Voellmy-Geigy und Familie sowie die Wissenschaftliche Gesellschaft

Freiburg i. Br.

Erschienen 2023 im Schwabe Verlag Basel

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0)

Umschlagabbildung: Friedrich Schiller an Christian Gottfried Körner, 12.6.1794, UB Basel, Slg. Geigy 1066

Umschlaggestaltung: Kathrin Strohschnieder, Zunder & Stroh, Oldenburg

Layout, Satz und Repro: post scriptum, Hüfingen

Druck: Hubert & Co., Göttingen

Printed in Germany

ISBN Printausgabe 978-3-7965-4722-5

ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4723-2

DOI 10.24894/978-3-7965-4723-2

Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt.

rights@schwabe.ch www.schwabe.ch

Inhaltsverzeichnis

9 Vorwort

MA XIMILIAN BACH D I eter M A r t IN

Essays

15 1. Karl Geigy-Hagenbach (1866–1949) und seine Autographensammlung

U e LI DILL

59 2. Autograph: Zur Begriffsgeschichte

MA XIMILIAN BACH

65 3. ‹Vorformen› des Autographensammelns in der Frühen Neuzeit

D I eter M A r t IN

75 4. Zu den Wurzeln der modernen Autographenfaszination

MA XIMILIAN BACH

87 5. Konflikt und Kooperation: Strategien zur Legitimation des Autographensammelns

D I eter MA r t IN

99 6. Fac simile: Autograph und Reproduktion seit 1800

MA XIMILIAN BACH

109 7 Er werbungsstrategien: Autographensammeln zwischen Passion und Profession

D I eter MA r t IN

119 8. Foren des Autographensammelns: Vergesellschaftungsformen seit Mitte des 19. Jahrhunderts

MA XIMILIAN BACH

131 9. Gefährdete Authentizität: Autographenfälschungen und Fehlzuschreibungen

D I eter MA r t IN

139 10. Zur Geschichte der Sammlung Geigy-Hagenbach nach 1949

U e LI DILL

Autographenbeschreibungen

152 1. Philipp Melanchthon an Joachim Camerarius

D I eter M A r t IN

154 2. Pietro Metastasio und Carlo Goldoni: Stammbucheinträge für Christoph Gottlieb von Murr

D I eter M A r t IN

156 3. Johann Wolfgang von Goethe an Heinrich Carl Abraham Eichstaedt

D I eter M A r t IN

158 4. Kaspar Hauser: Stammbucheintrag

D I eter M A r t IN

160 5. Friedrich Nicolai an Christian Friedrich Voss d. J

MA XIMILIAN BACH

162 6. Ludwig van Beethoven: Komponierte Einladung an den Geiger Schuppanzigh, WoO 184

Is AB e L sCH w örer

164 7. Sebastian Brant an Ulrich Zasius

M AXIMILIAN B A CH

166 8. Johann Peter Hebel: Fragment eines alemannischen Gedichts

J

168 9. Thomas A. Edison: Autogrammkarte D

170 10. Franz Xaver Gabelsberger: «Ankündigung» (1834)

M AXIMILIAN B A CH

172 11. Ludwig Anzengruber: Gedicht für einen Autographensammler

M I r A p r e U sse

174 12. E. Marlitt: Antwort auf eine lexikographische Anfrage

MA XIMILIAN BACH

176 13. Ulrich Zwingli an Landgraf Philipp I. von Hessen

D I eter M A r t IN

178 14. Franz von Sickingen an Landgraf Philipp I. von Hessen

MA XIMILIAN BACH

180 15. Fanny Lewald-Stahr an Luthier

M I r A p r e U sse

182 16. Cäsar von Arx an Karl Geigy-Hagenbach

U e LI D IL L

o HA NNA eLI s AB e t H eC ke s
I eter MA r t IN · M AX s pA r e NB er g

184 17. Wolfgang Amadeus Mozart: Instrumentierung des Trios KV 585/2

186 18. Friedrich Schiller: Fragment aus Wilhelm Tell

191 K arl Geigy-Hagenbachs Beiträge über das Autographensammeln

209

211

Dokumentation

1. L ebenslauf und Nachrufe

2. Texte über Karl Geigy-Hagenbach als Sammler und über die Auktion von 1961

Anhang

233 Siglen

235 Namenregister

241 Register der er wähnten Sammlungsstücke

Is AB e L sCH w örer
D A NI e L D A HL e M

Vorwort

M AXIMILIAN B AC H · D I e ter M A rt IN

Der Jurist, Botaniker und Dichter Friedrich Carl Emil von der Lühe wandte sich am 6. April 1773 an den Berliner Aufklärer Karl Wilhelm Ramler und schloss seinen Brief mit einem bemerkenswerten Postscriptum: Er baue eine «Collection von Handschriften der schon gedruckten Werke der grösten Geister Deutschlands» auf und bitte Ramler hierfür um die «Abschrift einer Ihrer gedruckten Oden».1 Mit diesem Interesse für eigenhändige Zeugnisse zeitgenössischer ‹Geistesgrößen› und dem Impuls, diese – ohne vorherige persönliche Bekanntschaft mit ihren Schreibern –zusammenzutragen, kann von der Lühe als ein Pionier der modernen Autographenfaszination gelten. Sie entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer weitverbreiteten bildungsbürgerlichen Freizeitbeschäftigung und Leidenschaft. Prägendes Moment war die Konstruktion und ‹Materialisierung› eines (durchweg männlich dominierten) Kanons herausragender Persönlichkeiten in Gestalt ihrer handschriftlichen Zeugnisse. Eugen von Mor sprach 1887 prägnant von einer «Walhalla» oder «kleine[n] Unsterblichkeitshalle, die doch die Mappen eines Autographensammlers vorstellen».2

Einen der Höhe- und zugleich Schlusspunkte des modernen Autographensammelns bildet die universale Kollektion des Basler Industriellen Karl Geigy-Hagenbach (1866–1949). Mit ihren rund 3000 Stücken stellt sie ein wahres Pantheon europäischer ‹Berühmtheiten› aus Politik und Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft seit der Renaissance dar. Anfang der 1960er Jahre gelangte die herausragende Sammlung durch Schenkungen und Ankäufe zu großen Teilen in die Universitätsbibliothek Basel. Einzelstücke sind seitdem zwar immer wieder wissenschaftlich genutzt oder in Themenausstellungen gezeigt worden. Als Ganzes aber wurde die Sammlung – abgesehen von einer Basler Ausstellung im Jahr 1961 – nicht mehr gewürdigt. Dieser Umstand scheint insofern symptomatisch, als die grundlegende kulturhistorische Bedeutung des Autographensammelns in der Forschung bisher kaum präsent ist. Wilhelm Dilthey beschloss seinen programmatischen Vortrag Archive für Literatur (1889) mit der Aussicht auf die Gründung nationalkultureller ‹Ruhmeshallen›:

Stätten, an denen die Handschriften unserer großen Schriftsteller erhalten und vereinigt lägen, die erhaltenen Büsten und Bildnisse darüber, wären Pflegestätten der deutschen Gesinnung. Sie wären eine andere Westminsterabtei, in welcher wir nicht die sterblichen Körper, sondern den unsterblichen idealen Gehalt unserer großen Schriftsteller versammeln würden (Dilthey, 375).

Bevor jedoch staatliche Institutionen (wie das im selben Jahr gegründete Goetheund Schiller-Archiv in Weimar) eigenhändige Schriftzeugnisse und geschlossene Autorennachlässe als Sammelobjekte systematisch erfassten und philologisch aufbereiteten, waren es vor allem passionierte ‹Laien›, die für sich und die Nachwelt ein Universum aus Handschriften zusammentrugen.3 Damit kommt dem Autographensammeln seit Ende des 18. Jahrhunderts eine Schlüsselstellung für die Überlieferung und Formierung des kulturellen Erbes zu.

Ein wissenschaftliches Standardwerk zum Wissens- und Sammelobjekt ‹Autograph› stellt vor diesem Hintergrund ein spürbares Desiderat dar – von einer «umfassende[n] kulturgeschichtliche[n] Untersuchung des Autographensammelns» ganz zu schweigen.4 Dies gilt auch mit Blick auf die jüngst intensivierte Provenienzforschung sowie den Aufschwung der ‹material studies› und der historischen Praxeologie. Orientierung bieten hingegen jene verdienstvollen (älteren) Überblicksdarstellungen,

Vorwort | 9

die aus der Perspektive von Praktikern geschrieben sind und maßgeblich angehende Autographensammler adressieren.5

Die vorliegende Publikation erscheint begleitend zur Ausstellung «Ein Pantheon auf Papier. Die universale Autographensammlung Karl Geigy-Hagenbach (1866–1949)», die vom 24. März bis 21. Juni 2023 in der Universitätsbibliothek Basel gezeigt wird. Im Rahmen von Ausstellung und Katalog möchten wir der systematischen Erforschung des modernen Autographenwesens neue Impulse verleihen und verbinden dazu zwei maßgebliche Ziele: Erstens gilt es, Karl Geigy-Hagenbach erstmals umfassend als herausragenden Repräsentanten des universalen Autographensammelns vorzustellen. Zweitens sollen die ideengeschichtlichen Hintergründe, medialen Bedingungen und organisatorischen Voraussetzungen der modernen Autographenfaszination seit Ende des 18. Jahrhunderts nachgezeichnet werden. Weder die naive Fortschreibung der Auratisierung von ‹Eigenhändigem› noch die Destruktion der spezifischen Faszination, die Autographen auch auf heutige Betrachter:innen ausüben, sind damit unser Anliegen. Vielmehr gilt unser Interesse den diskursiven, materiellen und institutionellen Ausgangspunkten jener Auratisierung, die trotz oder gerade infolge der voranschreitenden Digitalisierung des Alltags und einer (scheinbaren) De-Materialisierung von Schriftpraktiken fortlebt.

Der Katalog gliedert sich in vier Abschnitte: Auf zehn Essays, die die Geschichte der Sammlung von Karl Geigy-Hagenbach sowie historisch-systematische Aspekte des modernen Autographenwesens beleuchten, folgen objektbiographische Kontextualisierungen zu 18 ausgewählten Stücken der Sammlung. Ein dritter Abschnitt versammelt Karl Geigy-Hagenbachs publizistische Beiträge zum Autographensammeln seit 1925. Die abschließende Dokumentation bietet Beiträge aus zeitgenössischen Periodika, die die (postume) Würdigung von Karl Geigy-Hagenbach und die Teilversteigerung der Sammlung im Jahr 1961 betreffen. Herzlich danken wir an dieser Stelle all jenen, die zum Gelingen von Ausstellung und Katalog beigetragen haben: Die Universitätsbibliothek Basel, vertreten durch ihre Direktorin Dr. Alice Keller, hat die Infrastruktur zur Verfügung gestellt und im Vorfeld der Ausstellung die Sammlung Geigy-Hagenbach neu katalogisiert, digitalisiert und online aufbereitet (https://geigy-hagenbach.ub.unibas.ch). Allen Mitarbeiter:innen der UB aus den Bereichen Historische Sammlungen, Öffentlichkeitsarbeit und Facility Management möchten wir herzlich für ihr Engagement danken, hervorgehoben Nathalie Baumann. Ranger Design (Stuttgart) hat die Gestaltung der Ausstellung übernommen; Kurt Ranger und Jürgen Schöller sei für die professionelle Zusammenarbeit gedankt. Unser Dank gilt ferner den externen Leihgebern: der Zentralbibliothek Solothurn, der Zentralbibliothek Zürich, Roland Kupper (Basel), Wolfgang Mecklenburg (Fa. Stargardt, Berlin) sowie den Mitarbeiter:innen der UB Basel, die Autogramme zur Verfügung gestellt haben. Besonders freut uns, dass wir Studierende unseres Masterseminars «Zauber der Handschrift: Dichtermanuskripte seit der Goethezeit» (Sommersemester 2022) an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau für die Erarbeitung von Autographen-Beschreibungen gewinnen konnten. Dr. Ueli Dill danken wir ebenfalls für seine Beiträge zum Katalog sowie für seine Expertise, mit der er alle Phasen des Projekts massgeblich mitgetragen hat. Wir freuen uns, dass der Schwabe Verlag den Katalog in sein Programm aufgenommen hat. Stefan Krauss (post scriptum) danken wir für die umsichtigen und sorgfältigen Satzarbeiten. Für die grosszügige Bereitstellung von Abbildungsvorlagen danken wir der UB Basel, dem Stadtarchiv Marburg und den privaten Leihgebern. Die jeweiligen Rechteinhaber erteilten freundlicherweise die Erlaubnis zur Publikation der Beiträge im dokumentarischen Anhang. Ohne namhafte finanzielle Unterstützung wären Ausstellung und Begleitpublikation nicht zu realisieren gewesen. Wir danken daher sehr herzlich der EckensteinGeigy Stiftung (Basel), der Sulger-Stiftung (Basel), Herrn Prof. Dr. Hartmut Raguse, Frau Nicole Voellmy-Geigy und Familie sowie der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg i. Br.

10 | M axi M i lian Bach · Dieter Martin

Anmerkungen

1 Friedrich Carl Emil von der Lühe an Karl Wilhelm Ramler am 6. April 1773 (Goethe- und Schiller-Archiv [Weimar], 75/136, 1v).

2 Eugen Ritter von Mor: Anleitung zum Sammeln von Autographen, Wien 1887, 9 sowie 6.

3 Zu den zugleich widerstrebenden und verwandten Logiken von Archiv und Autographensammlung vgl. Mario Wimmer: Archivkörper. Eine Geschichte historischer Einbildungskraft, Konstanz 2012, hier besonders 203–210.

4 Bodo Plachta: Schriftdenkmal oder Textträger? Über das Sammeln von Autographen, in: Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft, Berlin u. New York 2010, 79–87, hier 81.

5 Genannt seien Wolbe; Günther Mecklenburg: Vom Autographensammeln. Versuch einer Darstellung seines Wesens und seiner Geschichte im deutschen Sprachgebiet, Marburg 1963; Karl Dachs: Autographen, in: Keysers Kunst- und Antiquitätenbuch. Bd. 3, München 1967, 133–167; Hermann Jung: Ullstein Autographenbuch. Vom Sammeln handschriftlicher Kostbarkeiten, Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1971 sowie Eckart Henning: Eigenhändig. Grundzüge einer Autographenkunde. Mit Bibliographie und einem Verzeichnis handelsüblicher Katalogabkürzungen, Berlin 2006.

Vorwort | 11

Essays

1. Karl Geigy-Hagenbach (1866–1949) und seine Autographensammlung

Für das Verständnis von Karl Geigy-Hagenbachs Persönlichkeit hilft ein Blick in die «Basler Sitten». Johanna Von der Mühll-von Thur, die als Nichtbaslerin in das Basler Patriziat eingeheiratet hatte, publizierte sie 1944, also noch zu Geigys Lebzeiten, im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde:

Durch das Festhalten am Althergebrachten ist man in Basel des Zwangs überhoben, der oft lastend auf dem modernen Grossstadtmenschen ruht, womöglich mehr zu scheinen, als man ist. Im Gegenteil, hier, wo sich die Familien seit vielen Generationen genau kennen, gefällt man sich darin, eher zu wenig als zu viel vorstellen zu wollen. Das ist auch ein ‹Blaguieren›, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, das sich unter puritanischen Einflüssen eingebürgert haben mag.1

Genau diese Geisteshaltung kommt in Geigys Aussage, «Es ist mir immer peinlich gewesen, meine Persönlichkeit in den Vordergrund zu stellen», zum Ausdruck, der sich noch mehrere andere zur Seite stellen liessen. In den Nachrufen wird er als «einer der stillen Männer unserer Stadt, einer, der immer zurückhaltend auftrat, fast unscheinbar», «ein im besten Sinne vornehmer Basler», «hochgebildeter und dabei grundgütiger Mensch von echtem humanistischem Geist», als «alter, liebenswürdiger Herr in den Strassen unserer Stadt» charakterisiert.

Diese Zurückhaltung schuf freilich eine dürftige Quellenlage für eine Skizze von Geigys Persönlichkeit. In der Presse wurde er abgesehen von seinem Tode äusserst

► B 2

► D 1.1–3

Abb. 1.1–2 | Porträt von Karl Geigy-Hagenbach, das er 1939 der Universitätsbibliothek Basel zuhanden der Porträtsammlung über liess, zusammen mit dem Begleitbrief an Karl Schwarber, 6. 1. 1939, UB Basel, UBH Portr BS Geigy K 1866, 2a.

kA r L g e I g y-H A ge N BACH UND se I N e A U t ogr A p H e N s A MMLUN g | 15
Karl Geigy-Hagenbach und seine Autographensammlung Ue LI D IL L
1. Der Sammler

selten er wähnt. Immerhin durfte Stefan Zweig einen Artikel zu seinem 70. Geburtstag publizieren. Am aufschlussreichsten ist der von Geigy selbst verfasste Lebenslauf, der zusammen mit der Bestattungspredigt veröffentlicht wurde. Die grosse Ausnahme bildet sein Hobby, das Autographensammeln. Dazu äusserte er sich in Artikeln, dafür suchte er das Publikum. Ein schriftlicher Nachlass ist nicht überliefert. Dazu trug vielleicht auch Geigys von seinem Vater übernommene Gewohnheit bei, Briefe, sobald sie beantwortet waren, dem Papierkorb zu übergeben.2 Umso bemerkenswerter ist, dass im Umkreis der Autographensammlung ein Grossteil der rund 300 von Stefan Zweig an ihn gerichteten Briefe erhalten blieb. Zweig wiederum scheint Geigys Briefe im Zuge der Emigration vernichtet zu haben.3 Am direktesten spricht Geigy heute noch zu uns in seinen erhaltenen Briefen an den Schweizer Dramatiker Cäsar von Arx. Diese decken aber nur die Jahre 1938 bis 1949 ab, in denen Geigy nach dem Tod seiner Frau zusehends vereinsamt, an zahlreichen Altersbeschwerden leidet und mit der als unerfreulich empfundenen Gegenwart fremdelt. Das folgende Bild Geigys beruht auf diesen nicht allzu reichlichen Zeugnissen; die Hoffnung des Verfassers ist, ihm damit einigermassen gerecht zu werden.

Vorfahren, Jugend, Ausbildung

Karl Alphons Geigy kam am 23. Mai 1866 als jüngstes Kind von Johann Rudolf und Marie Geigy-Merian (1830–1917 bzw. 1837–1912) zur Welt.4 Seine Geschwister waren Maria (1856–1933), Louise (1858–1879) und Johann Rudolf (1862–1943). Im Rückblick schrieb Geigy: «Schon von frühester Jugend an begeisterte ich mich für Literatur, Geschichte und Kunst.» Wir wissen leider nicht, wie er zu Thomas Mann (von dem er zumindest zwei autographe Briefe besass) und dessen Buddenbrooks stand. Ein Vergleich der Familien Geigy und Buddenbrook, Kaufmannsdynastien in protestantischen Städten, fördert verblüffende Übereinstimmungen und bedeutende Abweichungen zutage.

Die fiktive Lübecker Getreidehandelsfirma Buddenbrook wurde 1768 gegründet, fast zeitgleich mit der Basler Handelsfirma Geigy 1758. Beide blieben für die in Frage stehende Periode im Familienbesitz. Die Leitung ging jeweils vom Vater auf den Sohn über, wobei die Generationen der Familien Buddenbrook, Mann und Geigy fast deckungsgleich sind.

Buddenbrooks Geigys Manns

Johann (?) Johann Rudolf (1733–1793)Joachim Siegmund (1728–1799)

Johann d. Ä. (1765–1842)Hieronymus (1771–1830)

Johann Siegmund d. Ä. (1761–1848)

Konsul Johann d. J. (Jean) (ca. 1800–1855) Carl (1798–1861) Johann Siegmund d. J. (1797–1863)

Senator Thomas (1826–1875) Johann Rudolf (1830–1917)Heinrich (1840–1891)

Hanno (1861–1877)Johann Rudolf (1862–1943) und Karl Alphons (1866–1949) Heinrich (1871–1950) und Thomas (1875–1955)

1758 gründete Geigys Ururgrossvater Johann Rudolf Geigy (1733–1793) die Handelsfirma Joh. Rudolf Geigy. Er handelte mit Drogen und Spezereien, also mit Medikamenten sowie Gewürzen, Kaffee und Kakao. Konnte man ihn noch zum Kleinkaufleutestand zählen, so entwickelte sich die Firma unter seinem Sohn Hieronymus (1771–1830), der eine Tochter des reichen Seidenbandfabrikanten und Erbauers des Weissen Hauses Jakob Sarasin heiratete, zu einem der grossen Handelshäuser. Der Haushalt und die Zentrale des Handelsgeschäfts befanden sich, wie damals üblich, im gleichen Gebäude, seit 1796 im (1959 abgerissenen) alten Lichtenfelserhof (Münsterberg 7/9).

Hieronymus’ Sohn Carl Geigy-Preiswerk (1798–1861) entwickelte die Firma weiter, indem er den weniger rentablen Handel mit Pharmazeutika in eine andere Firma auslagerte, und die «J. R . Geigy» auf die Herstellung von und den Handel mit Farben

16 | U e L I D ILL
► D 2.1
► D 1.1 ► D 1.1
► Slg. Geigy 1362

fokussierte, die von der rasch wachsenden industriellen Textilproduktion stark nachgefragt wurden. Am Hinteren St. Albanteich betrieb er 1833 bis 1858 hintereinander zwei Farbholzmühlen. Daneben expandierte er in andere zukunftsträchtige Felder. Er wurde Mitbegründer und Vorstandsmitglied der Giro- und Depositenbank in Basel (ab 1845 Bank in Basel), später Mitbegründer des Kreditvereins. Wie Konsul Buddenbrook sah auch er, dass ein gut ausgebautes Schienennetz für den allgemeinen und seinen Wohlstand zentral sein würde. Deshalb unterstützte er 1843 die Verlängerung der Bahn von Strassburg bis nach Basel, die erste Eisenbahnlinie in der Schweiz. 1850 erstellte er ein Gutachten zum Aufbau eines gesamtschweizerischen Eisenbahnnetzes, in dem er einen Ausbau unter Leitung und auf Kosten von Bund und Kantonen empfahl. Das Parlament entschied 1852 anders und setzte auf Privatbau und freie Konkurrenz. Geigy gründete als Reaktion darauf zusammen mit anderen Baslern 1852 die Schweizerische Centralbahn und wurde deren Verwaltungsratspräsident (1852–1861) und Direktionspräsident (1856–1861). Daneben war er Mitglied des Grossen Rats (1845–1861) und des Kleinen Rats (1847–1858) sowie zahlreicher politischer Kommissionen.

Carls Sohn Johann Rudolf (1830–1917), Karl GeigyHagenbachs Vater, wurde sorgfältig auf seine künftige Aufgabe vorbereitet.5 Auf die Schulzeit, die letzten beiden Jahre am Basler Gymnasium (Pädagogium) u. a. bei Jacob Maehly, folgten 1847–1850 eine Lehre im väterlichen Betrieb, dann fünf Wanderjahre mit den Hauptstationen Marseille, Le Havre und London. 1853 brach Geigy zu einer langen Indienreise auf. 1854 trat er in die väterliche Firma ein und ein Jahr später heiratete er Marie Merian. Das Paar zog 1855 ins Haus des Schwiegervaters Samuel Merian-Merian, den Regisheimerhof (Münsterplatz 10). Da sein Vater gesundheitlich angeschlagen und mit seinen politischen Aufgaben ausgelastet war, übernahm Johann Rudolf bald die Geschäftsleitung. Sie trennten Handel und Fabrikation auf zwei Firmen auf. Die Farbextraktion wurde modernisiert und an einen neuen Standort neben dem 1862 eröffneten Badischen Bahnhof verlegt. Bald begannen Versuche, künstliche Anilinfarbstoffe auf Teerbasis herzustellen. Trotzdem umfasste die Produktpalette

kA r L g e I g y-H A ge N BACH UND se I N e A U t ogr A p H e N s A MMLUN g | 17
Abb. 1.3 | Ecke Münsterberg und Freie Strasse. Rechts hinten halbverdeckt der Lichtenfelserhof (Münsterberg 7/9), Stammsitz der Familie und Firma Geigy, Staatsarchiv Basel-Stadt, AL 45, 2-36-3. Abb. 1.4 | Johann Rudolf GeigyMerian, Fot. Taeschler, UB Basel, UBH Portr BS Geigy JR 1830, 7.

Abb. 1.5 | Der Regisheimerhof (Münsterplatz 10), Haus in der Mitte, Wohnsitz der Familie Geigy-Merian 1855–1870, ca. 1918, Staatsarchiv BaselStadt, NEG 2065 (Fotoarchiv Wolf).

links: Abb. 1.6 | André Lambert/ Eduard Stahl: Moderne Architektur, Stuttgart 1891, Taf. 54: Villa Klein Riehen bei Basel. J. J. Stehlin, Architekt.

rechts: Abb. 1.7 | Aeschenvorstadt 13, Wohnsitz der Familie Geigy-Merian ab 1870, Staatsarchiv Basel-Stadt, NEG 4634 (Fotoarchiv Wolf).

noch lange Naturfarben neben den synthetischen. Ebenso hielt man in den 1860er- und 1870er-Jahren weiterhin am Farbgrosshandel fest; erst danach erfolgte die Fokussierung auf die Produktion. Auch das alte Stammhaus am Münsterberg im Zentrum der Altstadt, wo Haushalt und Betrieb noch unter einem Dach versammelt waren, wurde 1859 aufgelöst. Carl Geigy zog in eine neu erbaute Villa in der Nähe des Cen tralbahnhofs. Das Geschäftsdomizil wurde an die Bahnhofstrasse 3 (heute Riehenring) in die Nähe des 1862 in Betrieb genommenen (alten) Badischen Bahnhofs verlegt. Die Geschäfte liefen gut. 1870 erbaute Geigy-Merian ein eigenes Haus an der Aeschenvorstadt 13, 1876 vor der Stadt die Bäumlihof-Villa in Riehen.

18 | U e L I D ILL

Noch stärker als sein Vater engagierte sich Johann Rudolf ausserhalb der eigenen Firma in Wirtschaft, Politik und Kirche, auch auf nationaler Ebene. Er war Mitglied des Basler Grossen Rats, 1879 bis 1887 Nationalrat und wirkte als Vertreter des Liberalismus bei der Ausarbeitung internationaler Handelsverträge, bei der Notenbankgesetzgebung und der Einrichtung des Alkoholmonopols entscheidend mit. Zudem war er Mitbegründer der Basler Handelskammer und Mitglied der Schweizerischen Handelskammer. Bei der Gotthardbahn und der Centralbahn sass er im Verwaltungsrat. 1863 begründete er die Basler Handelsbank mit. Auch Richterämter bekleidete er und war Mitglied der evangelisch-reformierten Synode. Als publizistisches Sprachrohr erwarb er 1883 zusammen mit Gleichgesinnten die «Schweizer Grenzpost». 1910 verlieh ihm die Universität Basel den Titel eines Dr. h. c. Anders als sein literarisches Pendant, Senator Thomas Buddenbrook, ging Geigy-Merian in seiner Tätigkeit auf und lebte 40 Jahre länger. Durch den frühen Tod seines Vaters und dank guter Gesundheit hatte er die Chance, ein beeindruckendes Lebenswerk zu schaffen, neben dem zu bestehen für die beiden Söhne Johann Rudolf und Karl Alphons nicht leicht gewesen sein muss. Wie Hanno Buddenbrook bzw. die Brüder Heinrich und Thomas Mann hatten sie beide musische Interessen,6 doch anders als diese starben sie weder früh noch gingen sie der Welt der Wirtschaft an die Kunst verloren. Das gestaltende Motiv der Dekadenz, das Thomas Mann seiner Familiengeschichte unterlegt, war bei den Geigys wenig ausgeprägt, und ihr Vater starb nicht frühzeitig, sondern sorgte vor, dass der Familienbetrieb weiter florierte. Im Rückblick erscheint es, als ob Johann Rudolf Geigy seine beiden Söhne durch ihre Ausbildung je auf eine Sparte der Firma vorbereitete, Johann Rudolf auf die Produktion, Karl auf den Handel bzw. Vertrieb.

Johann Rudolf,7 durch Erstgeburt und Namen für die Nachfolge als Firmenleiter bestimmt, lief von den beiden an der längeren Leine. Er absolvierte das Humanistische Gymnasium und danach ein Chemiestudium, das für den künftigen Leiter der chemischen Fabrikation unentbehrlich war. Anschliessend machte er während 14 Monaten eine Weltreise. Am 1. März 1887 trat er als Teilhaber in die Firma ein und im Herbst des Jahres verheiratete er sich. Zunächst leitete er die wissenschaftliche Abteilung, überliess diese aber bald dem genialen Erfinder Traugott Sandmeyer und kümmerte sich danach hauptsächlich um die Fabrikation.

Für Karl sah der als streng, aber gütig beschriebene Vater dieselbe Ausbildung vor, die er selber genossen hatte. 1876 war er in das Humanistische Gymnasium eingetreten, im April 1879 wechselte er in die Realschule.8 «Meine Begeisterung für das Studium

links: Abb. 1.8 | Jugendbild von Johann Rudolf Geigy-Schlumberger, Fot. Camille Hornung-Bleyer, UB Basel, UBH Portr BS Geigy JR 1862, 1.

rechts: Abb. 1.9 | Jugendbild von Karl Geigy-Hagenbach, Fot. Taeschler, UB Basel, UBH Portr BS Geigy K 1866, 1.

► Abb. 1.8

► Abb 1.9

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