Körper-Teile(n)
Interdisziplinäre Veranstaltungen der Aeneas-Silvius-Stiftung
Schwabe Verlag
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Abbildung Umschlag:Pinturicchio:Aufbruch zum Basler Konzil. Freskenzyklus (1502–1507)aus dem Leben des Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II., 1458–1464), Biblioteca Piccolomini im Dom zu Siena (©2018. Photo Opera Metropolitana Siena/Scala, Florence)
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ISBN Printausgabe 978-3-7965-5372-1
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58. Aeneas-Silvius-Vorlesung
Monika Bobbert: Aktuelle ethische Fragen zur Organspende und Transplantationsmedizin. Was müssen wir wissen?Wodürfen wir entscheiden?.
59. Aeneas-Silvius-Vorlesung
Bernard Devauchelle: Das Gesicht als Organ. Aspekte der Geschichte der Chirurgie im Kontext der Gesichtstransplantation
Elfte und zwölfte interdisziplinäre
Aeneas-Silvius-Ringvorlesung:«Körper-Teile(n)»
Udo Rauchfleisch: Das Verhältnis von Körper und Identität am Beispiel von Transgendern
Sarah Tschudin Sutter: Antibiotikaresistenz –die andere Pandemie des 21. Jahrhunderts. Eine wissenschaftliche Perspektive auf eine eskalierende Bedrohung
Robert Stelter: Zwischen Förderung und Unterdrückung. Die diskrepante Geburtenpolitik im Dritten Reich
Andreas Liebig: Einheit und Transzendenz der Vielfalt
Anhang
Vorträge der Aeneas-Silvius-Stiftung an der Universität Basel seit 1960 ..
Termine des Vortragszyklus zu «Körper-Teile(n)»(VASS LIV). ..
Aktuelle ethische Fragen zur Organspende
und Transplantationsmedizin
Was müssen wir wissen?Wodürfen wir entscheiden?
Monika Bobbert
1. Einleitung
1.1 Organe im Leib
Organspende und Organtransplantation:ein erfreuliches Thema, denn dadurch können Menschenleben gerettet werden. Die Transplantation einer Leber beispielsweise ist für viele schwerkranke Menschen die einzige Möglichkeit der Lebensrettung. Es handelt sich aber auch um ein sehr sensibles Thema, da eine «Gabe», d. h. das Organ eines anderen Menschen, erforderlich ist. Der Begriff der Gabe deutet schon in der Umgangssprache etwas Besonderes an. In den Rechtsordnungen der Schweiz und Deutschlands findet sich dieser Begriff allerdings nicht. Hier ist ein Organ weder privates Eigentum noch gemeinschaftliches Gut;vielmehr sind Organe Teil unseres Leibes, also nicht nur ein Gegenstand, sondern gehören zum Menschen, zu seinem Körper und seiner Seele.
Da schlägt uns etwas auf den Magen, oder jemand speit Gift und Galle. Unser Herz zeigt uns Gefühle oder drückt Gefühle aus –jenachdem, wie man es betrachtet:Ein schnellerer Herzschlag geht mit Angst oder aber mit Freude einher. Manche Herzmedikamente führen nicht nur zu einer Senkung der Herzfrequenz oder des Blutdrucks, sondern auch zu einer Nivellierung der Gestimmtheit und Emotionalität. Menschen, die das Organ eines anderen erhalten, berichten von der Notwendigkeit, das Organ zu integrieren –körperlich durch Immunsuppressiva, seelisch durch das Akzeptieren:«Ich habe ein zweites Leben»oder «Ich darf mit dem Herzen eines fremden Menschen weiterleben.» Und es schließt sich die Frage an: «Wer war dieser Mensch, und warum musste er sterben?» Auf beiden Sei-
ten, sowohl auf der des Spenders als auch auf der des Empfängers, geht es um Leben und Tod und um Fragen leibbezogener Identität.
Aus ethischer und rechtlicher Sicht sind im Bereich der Organspende und Organtransplantation in Bezug auf Spender:innen die moralischen und juridischen Rechte auf physische Integrität, auf Freiheit und Selbstbestimmung einschlägig. Die Organempfangenden haben das Recht auf Hilfe im Fall von Krankheit und Lebensbedrohung, soweit dies möglich ist. Eine Erhöhung der Spenderaten und damit die Möglichkeit von Organtransplantationen kann Leben retten oder jedenfalls, so in Bezug auf eine Nierenspende, die Lebensqualität des Kranken, der das Transplantat erhält, erhöhen. Mit Blick auf die Organempfänger:innen, aber auch mit Blick auf zukünftige Kranke geht es zudem um Gerechtigkeit bei der Zuteilung knapper Organe nach den Kriterien Bedürftigkeit und Chancengleichheit unter Vermeidung von Diskriminierung.1
Die Interessen und Rechte potentieller Organspender:innen und -empfänger:innen sind gleichermaßen zu berücksichtigen und aus ethischer Sicht zu bewerten. Die implizite Vorannahme, dass einzig die Bereitschaft zur Organspende moralisch vertretbar ist, muss vermieden werden.2
1.2 Organverteilung und Annahme eines Organs
Warum ist das gesellschaftliche Ringen um Regeln der Organspende, aber auch um gerechte Kriterien der Verteilung knapper Organe für eine Gesellschaft so wichtig?Eshandelt sich hier um Fragen des Rechts auf Leben in Verbindung mit der Würde des Menschen, die sich in den Normen des Rechts auf Selbstbestimmung, der Pflicht zur Lebensrettung und Hilfe bei Krankheit sowie der Gerechtigkeit in der Zuteilung konkretisieren. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags kann lediglich auf Fragen der Organspende und -gewinnung eingegangen werden, doch soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Frage der ethischen und rechtlichen Korrektheit des Transplantati-
1 Vgl. z. B. zur Diskriminierung von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen in der Transplantationsmedizin Bobbert, 2024, 20–22und zur Gefahr der Diskriminierung schwerstkranker Menschen bei Behandlungsfragen Bobbert, 2024, 22–24.
2 Vgl. auch für eine entsprechende Kritik aus rechtswissenschaftlicher Perspektive Neuefeind, 2018, 250–255.
onswesens nicht nur (sozialwissenschaftlich betrachtet)das Spendeverhalten beeinflusst, sondern sich auch auf die ethische Frage auswirkt, ob ein Mensch, der dringend ein Transplantat benötigt, eines der knappen Organe annehmen darf. Jede und jeder von uns kann in die Situation eines Organversagens kommen –beispielsweise eines Leberversagens durch einen Unfall, eine Pilz- oder Medikamentenvergiftung oder durch eine Lebererkrankung. Wenn wir gerettet werden wollen, muss uns aus ethischer Sicht auch interessieren, wie es dazu kommt, dass das Organ eines anderen Menschen zur Verfügung steht.
Allerdings sollten wir uns angesichts der Organknappheit auch darauf einstellen, dass für uns ein Organ erst nach längerer Wartezeit und manchmal auch nicht zur Verfügung stehen wird und wir deshalb sterben müssen. Über Organspende und Organtransplantation zu sprechen und diesen Bereich zu regeln, heißt also immer:Sterben und Tod mitzudenken.
1.3 Inhalt:Zuden ethischen Fragen des Beitrags
Die Schweiz und Deutschland sind sich, was die rechtliche und berufsständische Regulierung medizin- und bioethischer Fragen anbelangt, oft sehr nah. Nicht selten folgten die deutschen Regulierungen mit etwas zeitlicher Verzögerung denen der Schweiz, aber auch das umgekehrte Phänomen ließ sich beobachten. Nun wird in der Schweiz anders als in Deutschland schon seit Längerem die DCD-Organentnahme (donation after cardiac death) praktiziert, und erst vor Kurzem wurde eine Widerspruchslösung beschlossen. Im Deutschen Bundestag wurden 2024 zum wiederholten Mal Gesetzesentwürfe zur Einführung der Widerspruchsregelung eingebracht, und einige Abgeordnete schlugen zusätzlich auch die Einführung des HerzKreislauf-Stillstands (DCD-Spende)als Todeskriterium vor. Die Schweiz ist bereits mit der Umsetzung der Widerspruchsregelung befasst und muss dem hohen Anspruch nach Information und geringen Hürden für einen Einzelwiderspruch nachkommen. Die nachfolgenden Ausführungen werden jedoch aufzeigen, dass sich darüber hinaus aus ethischer Sicht noch sehr viel mehr Herausforderungen stellen.
Im Folgenden werden ethische Fragen zur Widerspruchsregelung, zu den Todeskriterien Hirntod und Herz-Kreislauf-Stillstand, zum Interessens-
konflikt zwischen lebensrettender oder palliativer Behandlung und demgegenüber organprotektiven Maßnahmen und schließlich zu den mittlerweile ausdifferenzierten Erkrankungssituationen, in denen eine Organspende medizinisch möglich ist, dargelegt. Es wird deutlich, dass eine Widerspruchsregelung den vielfältigen Entscheidungen, die im Zusammenhang mit faktischen Organentnahmen getroffen werden müssen, nicht angemessen gerecht werden kann. Denn diese Entscheidungen sollten weder den Ärzt: innen noch den Angehörigen überlassen werden. Das Sterben wird sich vermutlich insgesamt und nicht mehr nur in einigen wenigen Fällen ändern, wenn der Herz-Kreislauf-Stillstand als Todeskriterium rechtlich zulässig wird. Dementsprechend wird ein rechtlich noch genauer zu regelnder Entscheidungsbereich sichtbar gemacht.
2. Spendemodelle:«opt-in»oder «opt-out»?
Lange Zeit galten in der Schweiz und in Deutschland –anders als in Österreich oder Spanien –imRecht Entscheidungsmodelle, nach denen entweder die betroffene Person selbst einen Organspendeausweis ausfüllte und damit ihre Zustimmung zur Organspende explizit machte oder die Angehörigen Auskunft über den mutmaßlichen Willen eines Patienten, der als Organspender in Frage kam, geben mussten. Nachdem die Organspendezahlen in der vergangenen Dekade auf einem niedrigen Niveau geblieben sind, wird in der Erwartung, dass sich so die Spendezahlen erhöhen lassen, zunehmend die Einführung einer Widerspruchslösung gefordert oder bereits umgesetzt.
2.1 Erweiterte Widerspruchsregelung in der Schweiz
Die Schweizer:innen waren im Mai 2022 aufgerufen, im Rahmen eines Referendums zur Frage der Organspende abzustimmen.3 Eine Mehrheit von 60 Prozent entschied sich damals für die erweiterte Widerspruchsregelung,
3 Das Referendum bezog sich auf:Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesgesetz über die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen (Transplantationsgesetz), Änderung vom 1. Oktober 2021, in:BBl 2021 2328.
welche die derzeit geltende erweiterte Zustimmung ablösen wird. Die Widerspruchsregelung beinhaltet, dass diejenigen, die nicht mit einer potentiellen Organentnahme nach ihrem Tod einverstanden sind, ihren Widerspruch in ein Register eintragen lassen müssen. Man geht jedoch davon aus, dass die Vorbereitungen zur Umsetzung der neuen Widerspruchsregelung noch bis zum Jahr 2026 dauern werden.
Die schweizerische Einschränkung der erweiterten Widerspruchsregelung ist rechtlich gesehen neu. Zwar gilt die Widerspruchsregelung in anderen mitteleuropäischen Ländern wie z. B. Österreich oder Spanien schon seit mehreren Dekaden und wird dort faktisch so praktiziert, dass keine Organentnahmen gegen den erklärten Willen der Angehörigen stattfinden –diese Praxis ist allerdings rechtlich nicht garantiert. Das Besondere an der neuen Schweizer Regelung wird sein, dass die Angehörigen vor einer Organentnahme zwingend in den Entscheidungsprozess einzubeziehen sind: Sofern kein schriftlicher Widerspruch vorliegt, werden die Angehörigen gefragt werden, ob der/die Betroffene möglicherweise gegen die Entnahme von Organen eingestellt, d. h. nicht zur Organspende bereit war. Sehr speziell im Vergleich zu anderen Ländern, die ebenfalls die Widerspruchsregelung eingeführt haben, besteht die Erweiterung des Widerspruchs darin, dass künftig Angehörige stets vor einer Organentnahme zwingend befragt werden müssen. Dies stellt zum einen eine Absicherung für die Betroffenen dar, dass ihr Wille respektiert wird, obwohl sie ihren Widerspruch vielleicht nicht schriftlich bekundet haben, und zum anderen die Gewähr, dass nahestehende Angehörige den Prozess nachvollziehen und damit vielleicht eher annehmen können. Wenn keine nächsten Angehörigen erreichbar sind, ist eine Organentnahme gemäß der neuen rechtlichen Regelung unzulässig.
Allerdings ist es unter Umständen keine leichte Aufgabe für die Angehörigen, Auskunft zum mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu geben.4 Aus empirischen Untersuchungen zu Behandlungsentscheidungen am Lebensende ist bekannt, dass Angehörige oft wenig über den Willen des Betroffenen wissen und daher mit der Verantwortung des Auskunftgebens überfordert sind. Das Hadern, ob die eigenen Mutmaßungen richtig waren, oder ein diesbezüglicher Streit zwischen den Angehörigen wird sich also
4 Vgl. für Probleme der Auskunft Angehöriger zum mutmaßlichen Willen Bobbert, 2012, bes. 141–161.
nicht immer vermeiden lassen. Außerdem weisen empirische Studien, in denen betroffenen Patient:innen und nahestehenden Angehörigen fiktive Behandlungsszenarien vorgelegt wurden, darauf hin, dass sich die Angehörigen in Bezug auf den mutmaßlichen Willen in ca. einem Drittel der Fälle irren. Beide Effekte –das Nichtwissen wie auch der mögliche Irrtum der Angehörigen –legen nahe, dass es in Bezug auf die künftige Widerspruchsregelung –wie im Übrigen auch bei der bisherigen Zustimmungslösung –vorzugswürdig sein dürfte, sich selbst zu Lebzeiten zur Frage der Organspende zu äußern –sei es schriftlich oder durch eindeutige mündliche Aussagen gegenüber den Angehörigen.
2.2 Gesetzesentwürfe zur Widerspruchsregelung im Deutschen Bundestag
Auch in Deutschland wird immer wieder gefordert, eine Widerspruchsregelung statt der aktuell geltenden sogenannten erweiterten Entscheidungslösung einzuführen. Nach der derzeit geltenden rechtlichen Regelung der Organspende im deutschen Transplantationsgesetz dürfen Organe und Gewebe nach dem Gesamthirntod nur dann entnommen werden, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten zugestimmt hat. Liegt keine Entscheidung vor, werden die Angehörigen nach dem mutmaßlichem Willen gefragt. Regelmäßig zugesandte Informationsschriften der Krankenkassen sollen über die Möglichkeiten der Organ- und Gewebespende und die Tragweite einer solchen Entscheidung aufklären, und Hausärzt:innen können ergebnisoffen zur Frage der Organspende beraten und dazu ermutigen, die Entscheidung in einem Organ- und Gewebespenderregister zu dokumentieren.
Im Jahr 2024 wurden im Deutschen Bundestag erneut Gesetzesentwürfe für eine Widerspruchsregelung vorgelegt,5 weil die Zahl der Organspen-
5 Vgl. Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode, DrS 20/12609, Gesetzentwurf des Bundesrates «Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes und Einführung einer Widerspruchslösung», 21. 08. 2024;Deutscher Bundestag, 20. Wahlperiode, DrS 20/13804, fraktionsübergreifender Gesetzentwurf «Entwurf eines Vierten Gesetzes zur Änderung des Transplantationsgesetzes –Einführung einer Widerspruchsregelung im Transplantationsgesetz», 14. 11. 2024.
der:innen seit über 10 Jahren auf einem sehr niedrigen Niveau stagniere.6 In diesem Zusammenhang wurde auf eine Repräsentativbefragung aus dem Jahr 2022 verwiesen:Rund 84 Prozent der Menschen in Deutschland stünden einer Organ- und Gewebespende eher positiv gegenüber. Gleichzeitig hätten aber nur 44 Prozent ihren Entschluss in einem Organspendeausweis dokumentiert.7 Ähnlich wie die neue Schweizer Regelung sehen beide Gesetzentwürfe vor, dass die nächsten Angehörigen dazu befragt werden, ob ihnen ein der Organentnahme entgegenstehender Wille des möglichen Organspenders bekannt ist. Zudem solle die Bevölkerung umfassend über die Bedeutung der Widerspruchsregelung informiert werden.
2.3 Ethische Perspektiven in Bezug auf die Widerspruchsregelung
Im Rahmen dieses Beitrags lassen sich nicht alle Modelle der Regelung von Organspenden diskutieren.8 Da Widerspruchsregelungen zurzeit favorisiert werden, wird auf sie im Folgenden aus ethischer Perspektive näher eingegangen.
Eine Widerspruchsregelung (opt-out)wird in der Erwartung eingeführt, dem Organmangel entgegenwirken zu können. Allerdings widersprechen zwei große aktuelle Studien der empirischen Annahme, dass dieses rechtliche Modell tatsächlich zu einem Anstieg der Spendeorgane führen wird:Indrei ländervergleichenden Studien, die in den letzten fünf Jahren durchgeführt wurden, konnte kein signifikanter Unterschied zwischen «opt-in»und «opt-out»- Modellen festgestellt werden.9 Viel effektiver für eine Erhöhung des Organspendeaufkommens als eine Widerspruchsrege-
6 Gleichzeitig haben die Gesetzesänderungen in Deutschland, insbesondere die Einführung der Entscheidungslösung, Erfolge zu verzeichnen, da die Zahl der Menschen mit einem Organspendeausweis zwischen 2012 und 2022 von 22 auf 40 Prozent gestiegen ist. Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2023, 29.
7 Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2023.
8 Vgl. für einen guten Überblick über Regelungsmodelle zur Organspende Neuefeind, 2018, 82–96.
9 Vgl. Dallacker et al., 2024;Arshad et al., 2019. Auch eine Studie von Jansen et al., 2022, die Großbritannien mit den Niederlanden vergleicht, kommt vorläufig zu diesem Ergebnis –vgl. S. 9.
lung (opt-out)sind erfahrungsgemäß die Organisation und Infrastruktur der Transplantationsdienste, die Meldebereitschaft der Krankenhäuser bzw. der Ärzteschaft,10 Fragen der Fortbildung des Gesundheitspersonals in Bezug auf Organtransplantation und die Refinanzierung der den Krankenhäusern entstehenden Kosten sowie generell eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Organspende und die allgemeine Annahme, dass es sich um ein gerechtes11 und Individualrechte schützendes Transplantationsverfahren handelt. Eine Widerspruchsregelung kann also allenfalls ein Baustein für das Ziel der Erhöhung des Spendeaufkommens sein. In Plädoyers für eine Widerspruchsregelung wird häufig angeführt, dass die Mehrheit der Bürger:innen der Organspende positiv gegenüberstünde, auch wenn sie noch keinen Organspendeausweis aufgefüllt habe. Allerdings bleibt in den Befragungen das in der psychologischen Forschung bekannte Phänomen der sozialen Erwünschtheit unthematisiert:Befragte geben bevorzugt Antworten, von denen sie glauben, sie träfen eher auf soziale Zustimmung als Antworten, bei denen sie mit sozialer Ablehnung rechnen.12 Dieses Phänomen ist auch ethisch relevant, wenn das geltende Recht eines Landes eine Widerspruchsregelung vorsieht:Wenn damit die Organspende der Normalfall und nicht mehr der durch ausdrückliche Zustimmung herbeizuführende Sonderfall ist, stellt ein Widerspruch eine Abweichung dar, mit der man nicht nur auffällt, sondern die einen Akt des Widersprechens entgegen der sozialen Erwartung darstellt. Implizit könnte so die Freiwilligkeit eingeschränkt sein.
In der jüngsten Erhebung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung in Deutschland gaben die befragten Bürger:innen als Gründe dafür, warum sie noch keinen Organspendeausweis (opt-in)ausgefüllt haben, un-
10 Vgl. für eine ältere Analyse der relevanten Faktoren des «spanischen Erfolgsmodells»Matesanz, 2003. Damals wurden u. a. ein proaktives Spender:innenerkennungsprogramm, gute ausgebildete Transplantationskoordinator:innen und eine systematische Sterbefallüberprüfung in den Krankenhäusern, ein positives soziales Klima in der Gesellschaft und angemessene finanzielle Vergütung für die Krankenhäuser genannt.
11 Vgl. zum letztgenannten Aspekt den Rückgang der Organspendebereitschaft in Ländern wie Spanien oder Deutschland angesichts von Manipulationen bei der Organvergabe in den Jahren 2012 und 2013. Vgl. bzgl. Deutschland ausführlich Neuefeind, 2018, 155–178.
12 Vgl. Bortz/Döring, 2023, 432–435.
ter anderem an, sich damit noch zu wenig beschäftigt zu haben (41 %), sich nicht mit der Frage auseinandersetzen zu wollen (22 %), Angst vor Missbrauch und zu wenig Vertrauen in das Transplantationssystem zu haben (7 %).13 Zumindest auf die beiden letztgenannten Gruppen würde die Annahme einer impliziten Zustimmung nicht zutreffen. Vielmehr liegt nahe, dass für sie eine Widerspruchslösung einer Freiheitseinschränkung oder sogar Zwang gleichkäme. Dies bringt eine empirische Studie aus Großbritannien zum Ausdruck, die mit einem Zitat der Interviewten überschrieben ist: «IfIdonate my organs it’sa gift, if you take them it’stheft».14
Die Nationale Ethikkommission (NEK)der Schweiz zeigt in ihrer Stellungnahme zu Entscheidungsmodellen aus dem Jahr 2019 auf, inwiefern die Zustimmungslösung dem Recht auf Selbstbestimmung über die physische Integrität besser gerecht wird und der Auffassung einer Organspende als freiwilliger Gabe Ausdruck verleiht:
Autonomie ist […]mehr als die Freiheit, sich zu äussern oder nicht beziehungsweise sich für oder gegen eine Organspende zu entscheiden. Ein autonomer Entscheid ist dann gegeben, wenn er das Ergebnis einer auf ausreichenden Informationen basierenden, nach einer gewissen Zeit der Reflexion und des Austauschs gereiften, persönlichen Überlegung einer urteilsfähigen Person ist. Ein Einwilligungsmodell, das diese Einzelelemente fördert, sichert den Wert der Autonomie demnach am besten. […]Die Zustimmungsregelung ist […]instärkerem Mass mit einer persönlichen Auseinandersetzung und einem aktiven Tun (Organspendeausweis besorgen, Dokumentation des Willens)verbunden als die Widerspruchsregelung, bei welcher die Einwilligung lediglich aus dem fehlenden Widerspruch abgeleitet wird.15
Auch wenn sich eine Widerspruchslösung dem Anliegen der Lebensrettung verpflichtet sieht, ist sie damit nicht per se moralisch oder gar rechtlich legitimiert, da es gleichermaßen gilt, angesichts von Organentnahmen nach dem Ganzhirntod das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen zu respektieren und angesichts von Entnahmen nach einem Herz-Kreislauf-Still-
13 Vgl. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2023, 50. Da Mehrfachnennungen möglich waren, lassen sich die Prozentzahlen nicht addieren.
14 Miller et al., 2019.
15 Nationale Ethikkommission, 2019, 11 f.
stand (s.u.) zusätzlich dem Schutz des Lebens kranker Menschen und dem Diskriminierungsverbot (vgl. Behinderung durch die Möglichkeit einer Hirnschädigung nach Reanimation)Rechnung zu tragen.
Mit Blick auf die kritischen Einwände gegen die Widerspruchsregelung lässt sich aus ethischer Sicht schlussfolgern, dass eine Gesellschaft bzw. der Staat in besonderer Weise dazu verpflichtet sind, gut verständliche und umfassende Informationen zu übermitteln, die Vorbereitung für eine Explantation und die damit verbundenen Entscheidungen im Einzelnen zu erläutern und die unausweichlich in den Informationen enthaltenen wertenden Vorentscheidungen16 kenntlich zu machen. Zum anderen darf der Eintrag eines Widerspruchs nicht lediglich der Initiative der Bürger:innen überlassen werden, sondern es muss regelhaft bei Verwaltungskontakten (z.B.anlässlich eines Fahrausweises oder einer Personenmeldung)aktiv zu einer einfach zu realisierenden Form des Widerspruchs Gelegenheit gegeben werden.
3. Entnahme von Organen nach Herz-Kreislauf-Stillstand
3.1 Herz-Kreislauf-Stillstand als ethisch relevantes Entnahmekriterium für Organspender:innen
Anders als in Deutschland, wo nur nach einem Gesamthirntod Organe entnommen werden dürfen, ist es in der Schweiz seit 2011 wieder möglich, nach einem anhaltenden Herz-Kreislauf-Stillstand Organe zu entnehmen (donation after circulatory death –DCD). An die DCD-Entnahme kann z. B. gedacht werden, sobald feststeht, dass bei einem schwerkranken Patienten im Spital die lebenserhaltenden Massnahmen abzubrechen sind. In der Schweiz hat die Praxis der DCD-Organentnahme in den vergangenen Jahren stark zugenommen.17 Sie setzt großes Vertrauen in den faktischen Prozess, der durch Ärzt:innen gestaltet wird, voraus.
16 Vgl. zu den Vorannahmen in Bezug auf Todeskriterien, negative und positive Folgen einer Reanimation weiter unten in diesem Beitrag;vgl. in Bezug auf offene Fragen angesichts einer «infausten»Prognose ausführlich Bobbert, 2012.
17 Vgl. Schweizerische Eidgenossenschaft, Bundesamt für Gesundheit (BAG), 2025, Kennzahlen zur Organspende nach dem Tod, Tab. «Anzahl Personen in der Schweiz, die