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Covergestaltung:icona basel gmbh, Basel
Korrektorat:Jens Stahlkopf, Berlin
Layout:icona basel gmbh, Basel
Satz:3w+p, Rimpar
Druck:Beltz Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza
Der Entscheid, mich nach Studien in St. Gallen und London im Jahr 1992 in Russland niederzulassen, kam nicht aufgrund einer sorgfältigen Planung zustande. Es war pure Neugier und Lust am Abenteuer, die mich und meinen damaligen Geschäftspartner Sven Lidén motivierten, im unbekannten Osten Europas Fuß zu fassen.
Die Biografien von Auswanderern entwickeln sich häufig nach demselben
Muster:Nach einer träumerischen und beschwingten Startphase folgt die harte Landung in der Realität. Bei uns war das nicht anders. Die Sowjetunion hatte sich gerade aufgelöst, die Rahmenbedingungen –oder das, was wir für Rahmenbedingungen hielten –waren unberechenbar und sehr instabil. Klamme Finanzen, die unsichere Rechtslage gepaart mit einer schnell ansteigenden Kriminalität wären genug Gründe gewesen, das Experiment abzubrechen. Rückblickend hielten wir so lange durch, weil offensichtlich ein Schleier der Ignoranz unsere Wahrnehmung vernebelte und damit eine nüchterne, faktenbasierte Risikoanalyse verhinderte. Im Nachhinein stellte sich die Strategie des «einfach mal probieren»aber als nicht mal so verkehrt heraus, auch wenn wir vieles besser hätten machen können.
Die Idee, ein privates Sprachinstitut zu gründen –dazu noch für Russisch als Fremdsprache –wurde von unseren russischen Freunden in St. Petersburg wohl zu Recht belächelt. Geld wurde damals im Handel verdient und nicht mit Weiterbildung. Dennoch hat sich nach einer längeren Durststrecke das Wagnis ausbezahlt, und das nicht nur kommerziell. Mit dem steigenden Interesse an Russland nach der Jahrtausendwende entstanden an unseren damals zwei Standorten spannende Netzwerke. Der kontinuierliche Austausch mit Diplomaten, Korrespondenten internationaler Medien, Vertretern von NGOs, Spezialisten international tätiger Firmen, aber auch mit russischen Geschäftspartnern und Freunden sollte sich als gegenseitig sehr bereichernd herausstellen. Unzählige Gespräche haben geholfen, den Blick über den Tellerrand hinausgleiten zu lassen, um sich über Herausforderungen und Chancen in anderen Branchen und anderen Segmenten der Gesellschaft aus erster Hand informieren zu können. Diese Gesprä7
che führten zu einem grundsätzlicheren Verständnis der wilden Neunziger und einer differenzierteren Betrachtung des epochalen Umbruchs Russlands.
An diesem Punkt hätte ich mit viel Überzeugung meine Erinnerungen zu Papier bringen können. Daraus wäre ein weiteres «Mein Russland»entstanden, das sich schnörkellos eingereiht hätte zwischen anderen Erinnerungen westlicher Beobachter, Korrespondenten oder Diplomaten. Reizvoller fand ich den Gedanken, meine Beobachtungen und Schlussfolgerungen in eine wissenschaftliche Arbeit einfließen zu lassen, in der Politologen, Ökonomen, Soziologen und Historiker in und außerhalb Russlands zu Wort kommen würden.
Um die Anforderungen eines solchen Unternehmens erfüllen zu können, besuchte ich den MAS-Studiengang in Applied History an der Universität Zürich. In diesem Rahmen legte ich eine Masterarbeit vor, die heute die Basis für dieses Buch liefert. Wichtige Inspirationen für die inhaltliche Gliederung der Arbeit habe ich von meinem Betreuer Prof. Dr. Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen erhalten. Die Idee einer Verflechtung von persönlichen Beobachtungen und Modellanalyse stammt wesentlich von ihm, auch der interdisziplinäre Zugriff geht auf eine Anregung von Ulrich Schmid zurück. Für die ausgezeichnete Betreuung möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Meine langjährige Mitarbeiterin und Russischlehrerin Natalia Friedland hat mir in der Vorbereitungsphase zur Arbeit den Blick geschärft für wissenschaftliche Beiträge russischer Autoren über die sowjetische und postsowjetische Periode. Herzlichen Dank, Natalia!
Kritische Anregungen –meistens bei einem guten Glas Wein –habe ich erhalten von Dr. Peter Fischer, Chefökonom der NZZ. Wir waren nicht überall gleicher Ansicht, aber gerade deshalb bin ich Peter für seine offenen und direkten Worte sehr dankbar!Meinen russischen Freunden aus der Industrie bin ich zu Dank verpflichtet für ihre kritischen Kommentare zum Kapitel über den wirtschaftlichen Umbruch. Für die aufmerksame Durchsicht des Manuskripts bedanke ich mich ganz herzlich bei Tony Pleschinger, einem weiteren Freund aus St. Petersburger Zeiten. Dr. Oliver Nievergelt, Prof. em. Dr. Bernd Roeck und Prof. Dr. Tobias Straumann haben mich vor und während des Studiengangs in verschiedenen Funktionen betreut, ermuntert und ermutigt. Meine Frau Natalia und die ganze Familie in der Schweiz haben mir die notwendigen Freiräume zugebilligt, den Studiengang und das Buchprojekt zu einem glücklichen Ende zu bringen. Danke für eure Geduld.
Letztlich möchte ich nicht verschweigen, dass ich die Menschen in Russland, mit denen ich zu tun hatte, sehr schätze –auch heute noch. Es sind Freundschaften entstanden, die auch die gegenwärtige Zerreißprobe überstehen werden. Die Sprachinstitute in Russland werde ich solange betreiben, wie die Nachfrage nach Russisch anhält. Im Moment sieht es danach aus. Wer dieses Buch zu Ende liest, wird meinen vorsichtigen Optimismus für die Zukunft Russlands vielleicht nicht teilen, aber hoffentlich ein Stück weit verstehen.
und St. Petersburg, Mai 2025
Zürich
1. Relevanz derwilden Neunziger
Der schwedische Wirtschaftswissenschaftler und ehemaliger Berater der russischen Regierung Anders Åslund schrieb in einem Nachruf über den 2007 verstorbenen Boris Elcin:
Yeltsin was atrue revolutionary and agreat popular leader. […]Yeltsin democratised, marketised and privatised Russia, as well as peacefully dissolved the Soviet empire. He belongs to the few greatest men, like Winston Churchill and Charles de Gaulle. Like them, he was aman who could take any crisis, but he could not stand ordinary times.1
Ein Vierteljahrhundert nach dem freiwilligen Rücktritt von Boris Elcin stellt sich die Frage, wie es so weit kommen konnte wie es kam. Die heutige russische Führung geht gegen jegliche Kritik rigoros vor. Medien und politische Parteien wurden gleichgeschaltet. Die Sicherheitsarchitektur Europas wurde mit dem russischen Einfall in die Ukraine auf den Kopf gestellt. Was bleibt übrig vom Vermächtnis eines Staatenlenkers, der nie die Anerkennung erhielt, die er nach Meinung von Anders Åslund verdient hätte?
Die vorliegende Arbeit thematisiert die Epoche zwischen dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Aufstieg von Vladimir Putin. Sie befasst sich mit den russischen wilden Neunzigern2.Diese Dekade mit ihrer enormen Dichte an historischen Ereignissen geriet in Vergessenheit oder wurde, vor allem innerhalb Russlands, systematisch schlecht geredet. Das System Putin wird in dem Zusammenhang als notwendiges Korrektiv zu den Wirren der Neunziger betrachtet und damit wird gleich unterstellt, dass nur ein autokratisches System Russland in eine prosperierende Zukunft führen kann.
Diese deterministische Sicht ist weit verbreitet, taugt aber lediglich als propagandistisches Element einer self-fulfilling Prophecy. Ich bin überzeugt, dass es erstens in den Neunzigerjahren eine Offenheit des Momentums gab, dass zweitens der Rückfall in die Autokratie nicht zwangsläufig eine Folge des Umbruchs war und dass drittens die Administration von Boris Elcin Veränderungen angestoßen hatte, welche die Gesellschaft Russlands im Kern veränderten.
Strukturelle Erklärungsansätze vermögen den Rahmen zu setzen, aber es sind konkrete Handlungen von Akteuren, die helfen zu verstehen, wie die Verände-
rungen in den Neunzigerjahren zustande kamen und welche Folgen sie hatten. Spezifische Interessen von Eliten zu einem bestimmten Zeitpunkt, aber auch Zufälle oder Fügungen des Schicksals haben in Russland der Neunziger den Lauf der Geschichte geprägt. Launen und Zufälle sind Stresstests für die theoretischen Modelle von Politikwissenschaftlern, die mit jeder unvorhergesehenen Wendung angepasst werden müssen. Zufälle sind aber genauso Bausteine der Geschichte wie das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft oder gelebte Traditionen.
Die Einzigartigkeit der von Michail Gorbačëv eingeleiteten und von Boris Elcin fortgesetzten Wende faszinierte eine Generation, die mit der Teilung Europas und dem Kalten Krieg aufgewachsen war. Das ist meine Generation und die damaligen, epochalen Ereignisse müssen wohl mit ein Grund dafür gewesen sein, dass ich den Gang der Geschichte vor Ort mitverfolgen wollte. Was ich ab 1992 in St. Petersburg dann auch tat, als junger Absolvent der Politikwissenschaften, zu Beginn ziemlich planlos, aber total überwältigt von den Eindrücken. Es war ein Privileg, Geschichte so nahe erleben zu können und in der Folge ein winziger Teil davon zu werden. Es ist die Geschichte des Umbruchs von Russland. Sie begann 1985 mit der Wahl Gorbačëvs zum Generalsekretär der KPdSU und endete mit den Duma-Wahlen 2003. Mit den Resultaten jener Wahl verschwand der Parteienpluralismus Russlands. Die Reautokratisierung wurde damit auch auf der institutionellen Ebene vollzogen.
Der für diese Arbeit interessierende Zeitabschnitt beträgt damit ungefähr achtzehn Jahre. Den Begriff der Neunziger werde ich deshalb in beide Richtungen gedanklich ein wenig dehnen. Analog des Langen 19. Jahrhunderts könnte man von den russischen Langen Neunzigern sprechen. Eine genauere Analyse dieser Epoche muss zu Fragen von Politik, Gesellschaft, aber auch zu rechtlichen und wirtschaftlichen Aspekten des Umbruchs Stellung nehmen. Dieser interdisziplinäre Zugriff kann nur sehr punktuell in die Tiefe gehen. Die vorgenommene Gewichtung der zu betrachtenden Ereignisse ist naturgemäß subjektiv.
Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind Felder eines Gesamtsystems. Diese beeinflussen sich gegenseitig und die resultierenden Wechselwirkungen werden in der Folge genauer zu betrachten sein. Die vorliegende Arbeit ist dementsprechend gegliedert. Sie beginnt mit einem kurzen historischen Rückblick, gefolgt von einer kritischen Betrachtung der Sachzwänge und Optionen innerhalb des politischen Systems. Daran anschließend folgt eine Auseinandersetzung über den radikalen Umbau der Wirtschaft und dessen Folgen für die Menschen, die
sehr unterschiedlich mit den neuen Herausforderungen zurechtkamen. Der inhaltliche Teil der Arbeit wird abgerundet durch eine kritische Würdigung der Demokratisierung der russischen Gesellschaft. Im Vordergrund steht dabei die Frage nach den Gründen für das (vorläufige)Scheitern einer Konsolidierung der Demokratie.
Der interessierende Zeitabschnitt von 1985 bis 2003 zieht sich mehr oder weniger durch alle vier Kapitel. Dieselben Ereignisse kommen deswegen teilweise mehrfach zur Sprache, allerdings jeweils unter einem anderen Blickwinkel.
Während die Gründe für den Aufstieg Vladimir Putins thematisiert werden, ist eine Analyse des von ihm geschaffenen Systems nicht Teil dieser Arbeit. In der Gesamtwürdigung zum Schluss wird es mein Anspruch sein, die hier formulierten Thesen mit stichhaltigen Argumenten zu untermauern.
Dabei greife ich auch auf persönliche Erinnerungen zurück. Anfangs der Neunzigerjahre war das Interesse an uns ausländischen Besuchern sehr hoch.
Die gegenseitige Neugier war riesig. Mit der Aneignung der notwendigen Sprachkenntnisse entstand ein Dialog, der sowohl mich als auch meine Gegenüber immer wieder herausforderte. Anfangs überraschte mich die Rationalität meiner russischen Freunde. Mit den Jahren wuchs mein Verständnis für Ansichten und Handlungen, die ich früher nicht nachvollziehen konnte. Vieles ergab plötzlich Sinn. Nach dreißig Jahren Aufenthalt in St. Petersburg bin ich kein unbeteiligter Beobachter mehr. St. Petersburg ist meine Stadt, ich habe bis vor Kurzem nie an einem anderen Ort gearbeitet. Meine politische Grundhaltung wurde geprägt durch mein Selbstverständnis als damals junger Unternehmer, der in einem volatilen Umfeld zurechtkommen musste. Dieser persönliche Blickwinkel zieht sich als roter Faden durch diese Arbeit. Die historische Relevanz der russischen wilden Neunziger liegt auf der Hand. Zum ersten Mal in der russischen Geschichte konnten sich die Menschen frei entfalten, sich frei austauschen, ins Ausland reisen, Geld verdienen und reich werden. Sie konnten sich gesellschaftlich oder politisch einbringen –oder sich abschotten. Sie konnten sich innerhalb des Landes frei bewegen, frei den Beruf wählen oder einfach nichts tun. Die ernüchternde Tatsache, das anfänglich nur ein kleiner Teil der Bevölkerung diese Freiheiten auch zu nutzen vermochte, ändert an den damaligen faktischen Möglichkeiten nichts. Die gegenwärtige Verrohung der politischen Führung und Elite vermag die gesellschaftlichen Änderungen, die mit den Neunzigern begannen, bestenfalls zudecken. Ich bin fest davon überzeugt, dass wichtige Segmente der russischen Gesellschaft ihre aufge-
klärte, zivilisatorische und europäische Haltung in eine Zukunft hinüberretten, in der die unterbrochene demokratische Konsolidierung fortgesetzt werden kann. Wann dieser Moment kommen wird, weiß ich nicht. Aber er wird kommen.
2. Etappendes Umbruchs
Es gab in den Neunzigerjahren Themen, die hinsichtlich ihres Konfliktpotenzials besser vermieden wurden. Dazu gehörte auch die Auflösung oder –jenach Lesart –der Zusammenbruch der Sowjetunion. Als junger Absolvent der Politikwissenschaften stellte ich die Frage dennoch regelmäßig. Die Antworten darauf variierten, aber der Grundton war fast immer derselbe:schuld waren die Amerikaner und «der Verräter»Michail Gorbačëv, die zusammen die Sowjetunion in den Abgrund gestürzt hatten.
Die Episode illustriert eine von vielen Sowjetbürgern als traumatisch empfundene Zeitenwende, die von außen in der Regel wohlwollender beurteilt wurde als von innen. Die tatsächlichen Gründe für den Zusammenbruch sind vielfältig, reichen tief in die sowjetische Vergangenheit und sind von großer Bedeutung für das Verständnis der Neunziger. Die Herausforderungen der Gründungsjahre der Russischen Föderation3 sind ohne eine genauere Betrachtung der vorgelagerten Epochen nicht zu verstehen.
2.1. Eine Supermacht schafft sich ab
Als die Siegermächte des Ersten Weltkriegs in Versailles den europäischen Kontinent neu ordneten, tobte im untergegangenen Zarenreich ein Bürgerkrieg, der mehrere Jahre dauern sollte. Im Unterschied zu den sich auflösenden Erbmonarchien an Donau und Bosporus stabilisierte sich die Sowjetmacht bei ihrer formalen Gründung im Dezember 1992 in ähnlichen Grenzen wie vor Kriegsausbruch. Die Unabhängigkeit erlangten Finnland, das Baltikum und Polen. Das historische Bessarabien (die heutige Moldau)wurde rumänisches Staatsgebiet. Auch die heutige Russische Föderation, Kernland der zusammengebrochenen Sowjetunion, bleibt ein Vielvölkerstaat und ist immer noch das flächenmäßig größte Land der Erde.
Die Sowjetunion wurde zumindest von den europäischen Nachbarstaaten von Beginn an als Bedrohung wahrgenommen. Als Siegermacht im Zweiten Weltkrieg nahm sich Josef Stalin das Recht, große Teile der im russischen Bürgerkrieg verlorenen Gebiete im Osten Europas einzuverleiben. Weitere Staaten wurden Vasallen. Ein Eiserner Vorhang teilte über vierzig Jahre lang den Konti-
nent. Die Schließung der Grenzen und der darauf folgende ideologisierte Kampf zweier Systeme führte zu einer beispiellosen Entfremdung. Am sichtbarsten manifestierte sich diese an der innerdeutschen Grenze. Die während des Kalten Krieges verbreitete stereotypische Reduzierung der Sowjetunion auf einen totalitären Monolithen vernebelte lange die Sicht auf eine innere Dynamik, ohne deren Verständnis die Gründe für die Auflösung der Supermacht nicht erschlossen werden können.
Zum einen waren politische Kurswechsel der Führungsriege eher die Regel als die Ausnahme. Zeiten verstärkter Repressionen wurden abgelöst durch Perioden größerer persönlicher Freiräume, und umgekehrt. Gut bekannt ist die Periode der Entspannung zwischen den Supermächten, weniger präsent sind Kursänderungen, welche die sowjetische Bevölkerung unmittelbar betrafen. Die Rehabilitierung von Aleksandr Solzenicyn durch Nikita Chruščëv in den späten Fünfzigerjahren war damals eine politische Sensation, die aufhorchen und hoffen ließ. Die Kosygin-Reformen Mitte der Sechzigerjahre, welche den Betrieben mehr Kompetenzen und Autonomie zusicherten, waren in ihren Grundzügen der späteren Perestroika nicht unähnlich. Mit dem sowjetischen Einmarsch in die ČSSR im August 1968 war die Öffnung aber auch schon vorbei. Bürgerrechtler wurden in der Folge wieder weggesperrt oder ins Exil getrieben, die Wirtschaft begann zu stagnieren. Rückblickend verortet der russische Wirtschaftswissenschaftler Aleksandr Auzan in den frühen Sechzigerjahren den idealen Zeitpunkt für einen tiefen Umbruch von Politik und Wirtschaft, bei viel besseren makroökonomischen Kennzahlen als Mitte der Achtzigerjahre.4 Die Perestroika fand damals bekanntlich nicht statt, dafür kam Breznev.
Zum anderen war die sowjetische Wirtschaft eng verzahnt mit dem westlichen Ausland. Hardliner im Kreml mögen das Bild von der Sowjetunion geprägt haben. Hinter den Kulissen dominierten Welthandelspreise für Rohstoffe und Nahrungsmittel die Politbürositzungen in einem viel stärkeren Ausmaß, als es den Genossen lieb war. Obwohl reich an Ressourcen, war die Sowjetunion auf hohe Rohstoffpreise angewiesen, um die Güter importieren zu können, die aus technologischen oder Produktivitätsgründen im Inland nicht oder zu knapp hergestellt werden konnten. Schlechte Erntejahre beim Weizen bei gleichzeitig tiefen Preisen für Erdöl führte noch jedem Politbüro vor Augen, dass die Sowjetunion nicht autark war.
Strukturelle Schwächen der Sowjetwirtschaft Wie konnte es dazu kommen, dass die einstige Kornkammer Europas ohne massive Weizenimporte in den Siebziger- und Achtzigerjahren die eigene Bevölkerung nicht mehr hatte ernähren können?Die gewaltsame Zerstörung traditioneller landwirtschaftlicher Strukturen, gefolgt von einer äußerst brutalen Kollektivierung in den Dreißigerjahren schaffte strukturelle Probleme, von denen sich die Sowjetunion nie erholt hatte. Die forcierte Industrialisierung wurde durch Exporterlöse eines gerade erst verstaatlichten und dementsprechend ineffizienten Agrarsektors finanziert. Die Auslöschung des privaten Bauerntums führte zu massiven Ernteausfällen. Gleichwohl wurde Getreide weiterhin exportiert.
Die als Folge auftretenden horrenden Hungersnöte in den einstigen Kornkammern des fruchtbaren Südens beschleunigten die Landflucht, stoppten aber keineswegs die Exporte und verschlimmerten dadurch die Lage in den Hungergebieten weiter. Trotz Mechanisierung und Erschließung neuer Landwirtschaftszonen ab den Fünfzigerjahren wurde die Sowjetunion zum Getreideimporteur. Die neu erschlossenen Anbauflächen lagen häufig in klimatisch kritischen Zonen. Missernten waren vorprogrammiert und häuften sich ab Ende der Siebzigerjahre.5
Der sowjetische Einmarsch in Afghanistan 1979 veranlassten die USA und Saudi-Arabien zu einer drastischen Erhöhung ihrer Erdölproduktion. Der darauf folgende Preiszerfall traf die Sowjetunion zu einem Zeitpunkt, als immer größere Mengen an Getreide importiert werden mussten.6 Die Devisenreserven gingen stark zurück. Verschlimmert wurde die Situation durch den kostspieligen Unterhalt eines weltweiten Netzes von sozialistischen Bruderstaaten. Das Wettrüsten verhinderte den Export von Erzen und Metallen, die für den sowjetischen militärisch-industriellen Komplex eingefordert wurden und als Folge das Zahlungsbilanzdefizit zusätzlich erhöhten. Die Finanzierungslücke wurde gedeckt durch Goldverkäufe und Kredite westlicher Geldgeber, auch noch zu einem Zeitpunkt, als das Risiko eines Zahlungsausfalls schon sehr groß war.7
Egor Gajdar, Reformer und erster amtierender Ministerpräsident Elcins, zeigt sich in seiner Generalabrechnung mit der Sowjetunion erstaunt über die Absenz ökonomischen Sachverstandes im Staats- und Parteiapparat. Gorbačëv war da keine Ausnahme. Auch der letzte Generalsekretär hielt viel zu lange an planwirtschaftlichen Dogmen fest. Preissteigerungen für Lebensmittel und andere Konsumgüter galt es unter allen Umständen zu vermeiden. Löhne wurden
staatlich fixiert. Private Unternehmen blieben verboten. Ein steigender Geldüberhang wurde bereits 1965 als Problem erkannt, reagiert hatte die Sowjetführung erratisch, zu spät oder gar nicht.8
Gorbačëvs politische Reformen der Öffnung waren nicht zu vereinbaren mit der real existierenden Planwirtschaft. VonGajdar stammt der Satz, dass sich der sowjetische Fünfjahresplan nur mit einer geladenen Pistole verwirklichen ließe.9
Michail Gorbačëv wird zu Recht dafür respektiert, dass er nicht bereit war zu schießen. Doch er muss sich auch den Vorwurf gefallen lassen, wirtschaftliche Reformen nicht zu Ende gedacht zu haben. Die Versorgungsengpässe in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre verschlimmerten sich von Monat zu Monat. Die Schlangen vor Lebensmittelgeschäften wurden länger. Hamsterkäufe verschärften die Lage. In Leningrad wurden fünfzig Jahre nach dem schrecklichen Hungerwinter von 1941 Lebensmittelmarken zur traurigen Realität.10 Die Regale füllten sich erst wieder unter Boris Elcin, anfänglich allerdings bei dreistelligen Inflationsraten.
Strukturelle politische Schwächen
Ebenfalls unterschätzt hatte Gorbačëv das Potenzial ethnischer Konflikte im Vielvölkerstaat Sowjetunion. Stalins Nachfolger konnten die Repressionen gegen innen auch deshalb zurückfahren, weil die Erinnerung an staatliche Gewaltexzesse im kollektiven Gedächtnis noch frisch war. Die Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt war durchaus da. Geschossen wurde auch nach Stalin, aber mehrheitlich außerhalb der Grenzen der Sowjetunion (DDR 1953, Ungarn 1956, ČSSR 1968, Afghanistan 1979–1988). Bis auf das Massaker in Novočerkassk 196211 und pogromartige Ausschreitungen im Nordkaukasus 1957/5812 blieb es im Sowjetreich ziemlich ruhig. Verglichen mit den Zuständen zu Stalins Zeiten wurde das Leben für eine Mehrheit der Menschen erträglich. Glaubt man den Erzählungen der älteren Generation, genossen die Leute in den Sechzigerund Siebzigerjahren wenigstens in den großen Ballungszentren ein relativ stressfreies Leben ohne bedeutende materielle Probleme.
Mit Gorbačëvs Einladung zu Transparenz und Kritik traten lange schwelende Konflikte an die Oberfläche, zuerst im Kaukasus, wenig später im Baltikum und in der Moldau. Die Unruhen trafen die herrschende Elite unerwartet. Sie wurde gewissermaßen Opfer der eigenen Propaganda. In der sozialistischen Freundschaft der Völker war kein Platz für nationalistische Strömungen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die forcierte Nationalitätenpolitik der frü-