Die Rezeption des germanischen Choraldialekts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts

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Die Rezeption des germanischen Choraldialekts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Der germanische Choraldialekt war während dreier Dezennien ein Forschungsgegenstand, der über die Musikwissenschaft hinausreichte. Er wurde liturgiewissenschaftlich, missionstheologisch und kulturkundlich, ja selbst identitätspolitisch rezipiert und war in der katholischen und in der evangelischen Liturgie beheimatet. Markus Zimmer zeichnet das Entstehen dieser Forschungsrichtung nach und beschreibt Konflikte, die daraus für die Choralrestauration erwuchsen. Auch warum bald nur noch Fachleute darüber Bescheid wussten, wird erklärt. Im Zentrum der Untersuchung stehen das Schaffen von Michael Hermesdorff (Trier), Peter Wagner (Fribourg) und Ephrem Omlin (Engelberg), das Schweizer Benediktinerantiphonar sowie die Kiedricher Choralschule mit ihrer noch heute gepflegten Gesangspraxis.

TeNOR 10

Rezeption des germanischen Choraldialekts

TeNOR – Text und Normativität 10

TeNOR – Text und Normativität 10

Die Rezeption des germanischen Choraldialekts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eine musikwissenschaftliche und kirchengeschichtliche Studie zu Begriff und Gegenstand

Markus Zimmer ist promovierter Kirchenhistoriker und Musikwissenschafter.

Markus Zimmer

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www.schwabe.ch

I S B N 978-3-7965-4562-7

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783796 545627




TeNOR – Text und Normativität 10

Herausgegeben von Wolfgang W. Müller und Franc Wagner


Markus Zimmer

Die Rezeption des germanischen Choraldialekts in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Eine musikwissenschaftliche und kirchengeschichtliche Studie zu Begriff und Gegenstand

Schwabe Verlag


Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Unterstützung der wissenschaftlichen Forschung.

Erschienen 2022 im Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0) Abbildung Umschlag: Ausschnitt (bearbeitet) aus Rembrandt: Aristoteles vor der Büste des Homer, 1653; Metropolitan Museum of Art, New York Korrektorat: Eva-Maria Mohr, Basel Gestaltungskonzept: icona basel gmbH, Basel Cover: Kathrin Strohschnieder, Zunder & Stroh, Oldenburg Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4562-7 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4563-4 DOI 10.24894/978-3-7965-4563-4 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabe.ch www.schwabe.ch


Inhalt

Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1 Was ist germanischer Choraldialekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

1.1

Was sich aus heutiger Sicht sagen lässt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

1.2

Das Problem der Quellen und die daraus folgenden Schwierigkeiten

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1.3

Zielsetzung und Methodik der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

24

2 Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1

Was wusste oder dachte man wann über germanischen Choraldialekt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Theologische Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 Musikwissenschaftliche Nachschlagewerke . . . . . . . . . . . . . . . .

31 31 35

2.2

Forschungsbericht und Systematisierungsversuch Maria-Elisabeth Heislers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.3

Peter Wagner – Schüler, Lehrer, Erfinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Sein (kirchen‐)geschichtlicher und musikwissenschaftlicher Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.1 Michael Hermesdorffs komparatistische Methode . . . . 2.3.1.2 Trierischer Choral bei Michael Hermesdorff und der Trierer Choralstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.2.1 «Verein zur Erforschung alter Choral-Handschriften behufs Wiederherstellung des Cantus S. Gregorii» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1.2.2 Der Streit über den «richtigen» Choral . . . . 2.3.2 Wissenschaftstheoretische Sondierung: «Traditioneller liturgischer Gesang» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2.1 Die restaurativen Forschungsansätze bei Prosper Guéranger und Anselm Schubiger . . . . . . 2.3.2.2 Unterschiedliche Geschichtsauffassungen . . . . . . . . . .

44 44 47 52

53 58 68 70 74


6

Inhalt

2.3.2.3 Wort und Ton – ein mathematisches oder emotionales Verhältnis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Wagners Theorie über den germanischen Choraldialekt . . . . 2.3.3.1 Die Charakteristika des germanischen Choraldialekts nach Peter Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1.1 Neumenkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1.2 Gregorianische Formenlehre . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1.3 Vortrag in Leipzig (1925) . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.1.4 Einleitungen zur zweibändigen Faksimileausgabe des Leipziger Graduale . . 2.3.3.2 Herkunft des Phänomens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3.3 Am Anfang stand die Theologie – die beginnende Rezeption der Theorie vom germanischen Choraldialekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4

Die quellenkundlichen Erkenntnisse und kompositorischen Konsequenzen des Wagner-Erben P. Ephrem Omlin OSB . . . . . . . . 2.4.1 Seminararbeit (1929): «Die Behandlung der diatonischen Halbtonstufen in der mittelalterlichen Ueberlieferung des Gradual-Responsoriums ‹Justus ut palma›» . . . . . . . . . . . . 2.4.2 «Notizen zur historisch-kritischen Wertung des Einsiedler-Antiphonars von 1681» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Studien über Tonarbuchstaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.4 Einführung ins Schweizerische Benediktiner-Antiphonar von 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.5

Die Antipoden: Jacques Handschin – Dominicus Johner – Walther Lipphardt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.1 Konsonanzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.2 «Ja, aber …» – Johners Wagner-Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5.3 Walther Lipphardt: «[…] des Guten wohl etwas zu viel» . . . .

2.6

Deutschnational gesinnt, aber nicht nationalkirchlich – Karl Gustav Fellerer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

2.7

Felix Messerschmid – ein Fürsprecher bei den deutschen Bischöfen

2.8

Heinrich Lemacher: Der germanische Choraldialekt – «heute im Brennpunkt des Interesses» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

2.9

Die systematisierten Forschungsergebnisse nach Themen . . . . . . . . . . 2.9.1 Die Überlieferung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.1 Im deutschen Sprachgebiet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.2 Nordeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.3 Mittel- und Südeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

2.9.1.4 Ostmitteleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.4.1 Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.4.2 Schlesien und slawischsprachige Grenzgebiete . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.1.5 Sonderfall Sequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2 Thesen zur Entstehung der melodischen Eigenheiten . . . . . . . . 2.9.2.1 Entstehungszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2.2 Wechselwirkungen zwischen Musik volkstümlicher Art und gregorianischem Gesang . . . . 2.9.2.3 Eigengermanisches Musikempfinden – Kontext und Subtext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2.4 (Anhemitonische) Pentatonik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.2.5 Vermeidung des Tritonus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3 Die Bezeichnung oder was der neue Begriff einzuschliessen vermochte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3.1 Mainzer Choral und Cantus Moguntinus . . . . . . . . . . 2.9.3.2 «Tonus moguntinus» in Speyer . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3.3 «Verbeßert-gregorianischer Gesang» in Limburg . . . . 2.9.3.4 Die Choralüberlieferung der Kölner Kirchenprovinz im Wandel der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3.5 Zwei Traditionsstränge des germanischen Choraldialekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.3.6 Die Abkehr vom Begriff germanischer Choraldialekt in den 1950er-Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4 Liturgiegeschichtliche Kontexte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4.1 Reformatorische Liturgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4.1.1 Thomas Müntzers deutsche Liturgien . . . . 2.9.4.1.2 Deutschsprachige Gesänge der Böhmischen Brüder im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4.1.3 Das Gesangbuch des Böhmen Christophorus Hecyrus von 1561 . . . . . . . . 2.9.4.1.4 Kompositionen des Cnustinus . . . . . . . . . . 2.9.4.1.5 «Gregorianisches Kauderwelsch» in der lutherischen Liturgierestauration des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4.1.6 Kirchliche Arbeit Alpirsbach (KAA) . . . . 2.9.4.2 Volkschoralbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4.3 Deutsche Gregorianik – die Liturgiefähigkeit der Landessprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4.3.1 Die Gefahr einer Regionalisierung der Liturgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9.4.3.2 Psalmodie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7


8

Inhalt

2.9.5 Die jüngere und jüngste Forschungsgeschichte . . . . . . . . . . . . 226 2.9.6 Bewertung der Forschung zum germanischen Choraldialekt . . 232 2.10 Was bleibt von Peter Wagners Theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2.11 Typisch germanischer Choraldialekt – die Common-sense-Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.1 Initiumformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.2 Weitere melodische Phrasen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.11.3 Schlussformeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

237 238 240 243

3 Die Praxisrezeption des germanischen Choraldialekts . . . . . . . . . . 245 3.1

Das «Kyriale» Peter Wagners . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3 Rezeption und Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

245 246 249 250

3.2

Die Messgesänge in Kiedrich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Die Stiftung Sir John Suttons im Jahre 1865 . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Anton Halbritter – Kiedricher Choral am Scheideweg . . . . . . 3.2.2.1 Die Quellen – allmähliche Wiederentdeckung der Ursprünge der Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.2 Restaurationsmethodik: Best Practice . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3 Die Restauration des Kiedricher Chorals unter Chorregent Paul Gutfleisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.1 Das Kyriale Kideracense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.2 Das Graduale Kideracense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3.3 Die Kiedricher Hauptquelle Kodex A . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Die Rezeption des restituierten Kyriale und Graduale . . . . . . 3.2.5 Bewertung der heutigen Kiedricher Choralpraxis . . . . . . . . . .

255 256 262

Das restituierende und komponierende Schaffen P. Ephrem Omlins 3.3.1 Der lange Weg zum zweiten Kongregationsantiphonar . . . . . . 3.3.1.1 «Nicht unser, sondern der römische Choral ist korrumpirt.» – Das erste Kongregationsantiphonar von 1681 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.2 Gründe für die Neuausgabe eines Kongregationsantiphonars . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.3 Erste Schritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.4 Ein 17 Jahre dauernder und nicht nur gerader Weg zum neuen Antiphonar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.5 Quellen für die Restitution des Antiphonars . . . . . . . .

286 287

3.3

264 265 271 273 277 280 284 285

290 296 296 297 302


Inhalt

3.3.1.6 Etwas «von den alten, ausser Gebrauch gekommenen Melodiebeständen Passendes wieder aufleben lassen» – zur Restitutionsmethodik des Antiphonarium Monasticum von 1943 . . . . . . . . . . 3.3.1.6.1 Psalmtöne und Kadenzen: deutsch . . . . . . . . 3.3.1.6.2 Kurze Langresponsorien . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.6.3 Am Anfang verhalten – Initium debilis . . . . 3.3.1.6.4 Neukomposition statt Restitution? – «Vocabis nomen ejus Jesum» . . . . . . . . . . . . 3.3.1.6.5 Restitution von Melodien aus der Zeit des «Verfalls» (17. Jahrhundert) – «Exortum est in tenebris» . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.6.6 Übereinstimmung mit der ältesten deutschen Überlieferung – «Ecce Dominus noster cum virtute» . . . . . . 3.3.1.6.7 «Germanisch» mit Halbtonschritt nach oben – «Cantate Domino canticum novum» . . . . 3.3.1.6.8 Melodische Reminiszenz – «Cum in die magni Sabbati» . . . . . . . . . . . . 3.3.1.6.9 Gleiches gleich – «O Sapientia» . . . . . . . . . . 3.3.1.6.10 Der Höreindruck zählt – «Fontes et omnia, quae moventur» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1.6.11 Wie früher, nur anders – die Grafien für Franculus und Pressus . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Die Rezeption des Antiphonarium Monasticum von 1943 . . . . 3.3.2.1 Die Annahme des neuen Antiphonars durch die Schweizer Benediktinerkongregation . . . . . . . . . . . . 3.3.2.2 Aufnahme des Antiphonarium Monasticum von 1943 ausserhalb der Schweizer Benediktinerkongregation . . 3.3.2.3 «Verschlusssache Antiphonale»? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.4 Supplementa zum Antiphonarium Monasticum von 1943 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.5 Schott, Bomm, Omlin? – Das zweisprachige Vesperbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.6 Restitutionen von P. Roman Bannwart OSB . . . . . . . . 3.3.2.7 Das nachkonziliare Schicksal des Offiziums im germanischen Choraldialekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.7.1 Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.7.2 USA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.7.3 Südtirol und Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2.7.4 Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

306 309 310 312 313 316 317 319 321 322 323 323 326 326 328 334 337 338 339 340 341 344 344 345

9


10

Inhalt

3.4

3.5

3.6

3.7

3.3.2.7.5 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schweizerisch-benediktinische Neukompositionen für die liturgischen Gesänge der Messfeier und die Tagzeitenliturgie . . . . . . 3.4.1 Ephrem Omlin: Acht Credo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Ephrem Omlin: Beiträge zu einem Antiphonale Missarum simplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.3 Antiphonarium monasticum Einsidlense . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.4 Disentiser Antiphonale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Germanischer Choraldialekt in der katholischen Deutschen Gregorianik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Teilkirchliche Initiativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1.1 Bistum Trier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1.2 Im Zuständigkeitsbereich der Fuldaer Bischofskonferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1.3 Deutsche Psalliertafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Deutsche Einheitsgesänge und die Liturgiereform des Zweiten Vatikanums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Germanischer Choraldialekt im Protestantismus . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1 Kirchliche Arbeit Alpirsbach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1.1 Friedrich Buchholz’ Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.1.2 Quellenlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 «Der tägliche Gottesdienst in Haus, Schule und Kirche» (1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.1 Scandicus mit Quintsprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.2 Psalmkadenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2.3 Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Die evangelische Rezeption des «katholischen» Chorals . . . .

345 346 346 349 352 352 353 353 356 358 361 364 366 367 368 368 371 380 381 382 384 384

Germanischer Choraldialekt – ein «musikalisches Esperanto»? . . . . 387

4 Die aussermusikalische ideengeschichtlichbegriffliche Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391 4.1

Richard Eichenauers gefühlte Wahrheit: die «germanische Natur der gregorianischen Entwicklungsrichtungen» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 395

4.2

Eine politische Argumentationshilfe bei Chorregent Paul Gutfleisch

4.3

Fazit

403

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 408


Inhalt

5 Auswertung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 5.1

Die wissenschaftstheoretische Bewertung des Begriffs germanischer Choraldialekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410

5.2

Die kulturgeschichtliche Bewertung der Prädikation . . . . . . . . . . . . . . 411

5.3

Die Bewertung der musikwissenschaftlichen und musikalisch-praktischen Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

5.4

Die Rezeption des germanischen Choraldialekts als Bestandteil der allgemeinen Gregorianikrezeption in Frankreich und Deutschland . . 417 5.4.1 Die kirchenpolitische Tragweite der Gregorianikrezeption . . 417 5.4.2 Zu Unterschieden bei der kompositorischen Gregorianikrezeptionen in der Kunstmusik . . . . . . . . . . . . . . . . 419

5.5

Das Schicksal der Forschung zum germanischen Choraldialekt

5.6

Ein musik- und kirchengeschichtliches Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422

5.7

Zum Ertrag dieser Studie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

5.8

Forschungsdesiderate . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425

6 Anhang 6.1

. . . . 420

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

Textanhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Dom Pothier an Ludwig Schütz (29. 8. 1888) . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Eingabe P. Bernhard Büssers an die Äbtekonferenz der Schweizer Benediktinerkongregation (15. 1. 1927) . . . . . . . . . . 6.1.3 Eingabe P. Ephrem Omlins an die Äbtekonferenz der Schweizer Benediktinerkongregation (Auszug; 8. 9. 1934) . . . . 6.1.4 Anfrage Anton Halbritters vom 5. 9. 1932 an das Bischöfliche Ordinariat Limburg über die Zukunft des Kiedricher Choralgesangs (Auszüge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.5 Besprechung des AM 1943 im Archiv für Liturgiewissenschaft

429 429 433 448 450 453

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

6.2

Bildanhang

6.3

Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489

6.4

Spezifische Abkürzungen

6.5

Quellen, Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.1 Kirchenamtliche Veröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.2 Mittelalterliche und frühneuzeitliche Schriften . . . . . . . . . . . . 6.5.3 Gesangbücher, Gesangbuchquellen und liturgische Bücher . . 6.5.4 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.5 Lexikonartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 495 495 496 497 503 535

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Inhalt

6.5.6 Tonträger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.7 Besprechungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.8 Archivalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.8.1 Mehrfach angeführtes Archivgut . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5.8.2 Signaturenschlüssel für Archivalien . . . . . . . . . . . . . . . .

537 537 539 539 539

6.6

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 542

6.7

Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550


Hinführung

«Wer ein perfektes Mittelalter will, muss es selbst bauen; heute nicht als national-emphatischen oder konfessionellen, sondern als touristischen Themenpark.»1 (Valentin Groebner) «Es ist eine Frage, die aktueller kaum sein könnte: die Frage nach der eigenen kulturellen Identität, nach ihrer Geschichte, ihrem Wandel oder auch nach ihrem Verlust. Schon ein oberflächlicher Blick in die Tageszeitungen genügt, um sich davon zu überzeugen, wie brisant und heikel das Terrain ist, zumal dann, wenn sich Ängste und Ressentiments anmelden und zivilisatorische Standards zur Disposition stehen. Jedes Nachsinnen über diese immer wiederkehrende Gesellschaftsfrage bewegt sich unweigerlich in den verschiedensten Spannungsfeldern: Status quo oder Veränderung, Offenheit oder Abgrenzung, Neuaufbruch oder Rückbesinnung, Reform oder Revolution? Kontroversen werden oft mit harten Bandagen und teils erschreckender Schärfe geführt. Kein Wunder, schliesslich geht es um das innere Koordinatensystem des Menschen, um seinen gefühlten ‹Ort› zwischen gestern und morgen, hier und dort.»2 (Torsten Blaich)

Die beiden Zitate deuten auf das Ziel und den Ansatz dieser Studie hin: Es geht um die Untersuchung der neuzeitlichen Rezeption eines historischen musikalischen Phänomens, allerdings nicht nur aus musikwissenschaftlicher, sondern auch aus historischer, näherhin kirchengeschichtlicher Perspektive. Dabei steht eine neuzeitliche Rezeption im Mittelpunkt des Interesses. Nicht aufgezeigt werden kann indes, in welcher Gestalt sich die mittelalterlichen Melodievarianten des gregorianischen Chorals in Quellen deutscher3 Provenienz wiederfinden. Eine solche Darstellung fehlt bis heute, nicht zuletzt wegen des problematischen Gegenstands selbst: Beim germanischen oder ostfränkischen Choraldialekt handelt es sich um ein nicht scharf abgegrenztes, weil nicht präzis bestimmbares Phänomen. Diese Rezeptionsanalyse dient somit auch dem Zweck, eine wissenschaftstheoretische Grundlage zu schaffen für die weitere Auswertung und Systematisierung des mittelalterlichen Melodien- und Gesangbuchbestands. Die Untersuchung nimmt hierfür zwei Perspektiven ein: Die musikwissenschaftliche Perspektive widmet sich der neuzeitlichen Interpretation der mittelalterlichen Groebner, Mittelalter 143. Blaich, Von russischer Seele 11. 3 «Deutsch» bezieht sich in diesem Fall auf das nicht scharf abgrenzbare deutsche Sprachgebiet seit dem Hochmittelalter. 1

2


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Quellen, die historische Perspektive dient zur Kontextualisierung der neuzeitlichen Rezeption, indem die kirchengeschichtliche Einordnung einer in der Neuzeit scheinbar wenig relevanten liturgischen Besonderheit analysiert wird, kurz: einer Kontextualisierung in möglichst umfassender Breite. Zusammengefasst lautete die Fragestellung zur Untersuchung der Rezeption des germanischen Choraldialekts, warum die im Mittelalter so bedeutsame musikalische Varietät bis in die Neuzeit hinein zu einer kaum noch wahrnehmbaren Besonderheit schrumpfte und ob die kirchenmusikalischen und liturgischen Veränderungen im jungen 20. Jahrhundert daran etwas ändern wollten. Es zeigte sich am Ende, dass es kaum einen neuzeitlichen musikwissenschaftlichen Begriff gibt, der kulturgeschichtlich derart aufgeladen – um nicht zu sagen: belastet – ist wie «germanischer Choraldialekt». Die musikwissenschaftliche Auswertung des liturgiegeschichtlichen Phänomens konnte daher nicht nur nicht ohne Berücksichtigung des kulturgeschichtlichen Umfelds des 19. und 20. Jahrhunderts betrachtet werden. Auch war noch vor einer musikologischen Detailanalyse – und das bedeutet für diese Untersuchung auch deren Reduktion zugunsten des Folgenden – eine umfassende kirchen- und liturgiegeschichtliche Einbettung zu leisten. Dabei erschöpfte sich dieses Umfeld nicht in der Entwicklung der Kirchenmusik nach deren Neuausrichtung durch Pius X., sondern betraf die Gregorianikforschung und -praxis seit der Mitte des 19. Jahrhunderts insgesamt. Vier Fragen kristallisierten sich immer dichter heraus: 1) Worin wurzelt der germanische Choraldialekt als Forschungsgegenstand? 2) Warum haben sich die Liturgiewissenschaft und die Musikwissenschaft etwa zwischen 1925 und 1960 verhältnismässig stark damit auseinandergesetzt? 3) Woher rührte das nicht genuin kirchenmusikalische Interesse an der Varietät? 4) Warum erkaltete das Interesse in der zweiten Jahrhunderthälfte beinahe abrupt, obwohl es keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse gab, die dies bedingten? Auf einer Konzentration auf die musikalische Rezeptionsanalyse des mittelalterlichen Phänomens konnte die Studie es auch deshalb nicht bewenden lassen, weil sich das wissenschaftliche Interesse am germanischen Choraldialekt nicht in entsprechender Breite in der Gesangspraxis widerspiegelte. Mit der vorliegenden Studie wird deshalb der Versuch unternommen, die Vielschichtigkeit der Rezeption des Gegenstands «germanischer Choraldialekt» von der Quellenforschung bis zur konstruktivistischen Anbindung an eine kulturelle Identität in einer fokussierten Rezeptionsgeschichte für das ausgehende 19. bis etwa zur Mitte des


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20. Jahrhunderts «nachzuerzählen»4, sowohl für die (Er‐)Forschung als auch für deren praktisch-musikalische Verarbeitung. Dabei wird deutlich, dass von beiden kein aussagekräftiges Bild gemalt werden kann ohne Hinzuzug des relevanten zeitgeschichtlichen Kontextes.5 Dieser erstreckt sich nicht nur auf das 20. Jahrhundert, wenngleich Terminus6 wie Forschungsgegenstand Kinder dieser Zeit und untrennbar mit dem aus Trier stammenden Freiburger Musikwissenschafter Peter Wagner (1865–1931) verbunden sind, sondern – wie der personalisierte Bezug schon andeutet – auf wissenschaftstheoretischer Ebene bis ins 19. Jahrhundert hinein und reicht auf der Materialebene des Forschungsgegenstands ins hohe und späte Mittelalter zurück. Auf diese Weise kommt auch die musikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den mittelalterlichen Quellen zur Sprache. Der wissenschaftliche Nutzen dieser Untersuchung zielt inhaltlich ab auf die musikalische und kirchliche Historiografie des 19. und 20. Jahrhunderts sowie wissenschaftstheoretisch auf die Darstellung verschiedener spätneuzeitlicher Rezeptionsmethodiken, weit weniger aber auf die Diskussion über die Bewertung der musikalischen Varianten selbst. Eine solche wurde bereits vor fast 35 Jahren auf dem Stand der damaligen Forschung von Maria-Elisabeth Heisler versucht. Auch wäre Letzteres aufgrund der Materialfülle eine Aufgabe, die den Rahmen einer Rezeptionsgeschichte gesprengt und überdies den Fokus verändert hätte. Wichtiger erschien nach der Auswertung von Forschung und Gesangbüchern aufzuzeigen, dass die geringe oder sogar abgebrochene Rezeption stark von aussermusikalischen Faktoren und nicht primär wissenschaftlichen Erkenntnissen beeinflusst worden war, die es herauszuarbeiten galt. Dazu gehören im Fall des germanischen Choraldialekts auch Konstrukte von nationaler und kultureller

4 Als methodische Idee sowohl auf der inhaltlichen Ebene für die Forschungsgeschichte, insbesondere für die Theorien nach dem Woher und Wozu des germanischen Choraldialekts, als auch für die Metaebene, die den Motiven nachgeht, warum sich Forschende damit beschäftigt haben; nach Lodes, Musik. 5 Die damit verbunde Möglichkeit interdisziplinärer Herangehensweise betont auch Ther, Einführung 3. 6 Vom Terminus germanischer Choraldialekt wird im Folgenden als normierter Prädikation (nach Seiffert, Einführung I 30–33) ausgegangen. Dabei handelt es sich um eine sowohl exemplarische Bezeichnung, indem Phänomene kategorisiert wurden, als auch um eine typisch explizite Bezeichnung ex post vermittels einer grundgelegten impliziten Systematik und der darauf konstruierten Definition.

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Identität.7 Sie werden hergeleitet aus der Retrospektive,8 deren Herausforderung in der unsicheren Vergangenheit liegt. Die Rezeptionsgeschichte beleuchtet so auch den Wettbewerb um die grösstmögliche Plausibilität, die ein Geschichtsbild entstehen lässt, das, je länger es besteht, desto gewisser erscheint. Durch die Erforschung der Mittelalter-Reenactments9 und der Darstellung der Widerstände dagegen im Bereich der Gregorianik lässt sich schliesslich nachzeichnen, wie sich dieses Geschichtsbild entwickelt hat und unter welchen Bedingungen es sich durchsetzen konnte. Auch wird deutlich, dass eine starke historistische Rezeption nicht mit einem vergleichbar grossen Erkenntnisgewinn über die mittelalterliche Situation einherging. Eine Rezeptionsgeschichte wie die folgende, die mehr in den Blick nimmt als nur die Art und Weise, nach der mittelalterliche (liturgische) Gesänge in die Gegenwart übertragen worden sind, kann bisher kaum auf einschlägige methodi7 Zum grossen Einfluss von Musik auf die Konstruktion nationaler Kulturen und Identitäten, insbesondere in Deutschland und Tschechien, siehe überblickhaft z. B. Ther, Einführung 3–9; zum Beitrag der kompositorischen Gregorianikrezeption zur französischen Identitätsdiskussion siehe Morent, Mittelalter, v. a. 37–43, 57–61, 171–173 und 177 f., sowie mit dem Fokus auf die Zeit der Dritten Republik Leßmann, Rezeption 456–462. Grundsätzlich zur Problematik von deutscher Identität und ihrer Konstruktion siehe Scales, Before and after Nationes. Zur heutigen Auffassung von identitätsbezeichnenden Begriffen und Formulierungen im Reflex auf das mögliche geschichtliche Selbstverständnis mit dem Fokus auf das Musikschrifttum bei Hentschel/Winkelmüller, «Nationes», «Gentes». 8 «[…] das Mittelalter – authentisch, harmonisch, mythisch geordnet – [wurde] am Ende des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts zum Rückspiegel» (Gröbner, Mittelalter 107). 9 Reenactment ist umfassend zu verstehen: Es geht nicht um ein So-tun-als-ob wie beispielsweise beim Nachspielen von Mittelaltermärkten, sondern darum, mittelalterliche Formen als solche in die Gegenwart zu importieren und die Bedeutung der geschichtlichen Distanz auszublenden. Friedrich Nietzsche (1844–1900) analysierte bereits die verschiedenen Erscheinungsformen des Historismus und arbeitete in § 2 «Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben» seiner «Unzeitgemässen Betrachtungen» (1874) drei Umgangsweisen für historische Objekte heraus: 1) die monumentalistische Weise, die fasziniert oder angewidert sein lässt von einem historischen Ereignis oder einer historischen Person; dann 2) die antiquarische Weise, die ohne wissenschaftliche Distanz alles Alte so in die Gegenwart hinübernimmt, als hätten sich Umstände nicht geändert, als müssten Quellen nur sprachlich übersetzt werden oder als wäre die Vergangenheit ein selbsterklärendes Museum (vgl. auch die Bewertung von Schwermer, Cäcilianismus 235: «Mit der Festlegung […] [sc. des Cäcilianismus] wird die Kirchenmusik zum Stilmuseum.»); schliesslich 3) die kritische Weise, um einen Abstand von einer Sache zu bekommen, der es erlaubt, sich dieser von verschiedenen Seiten zu nähern, und der es auch möglich macht, etwas, das bisher immer positiv beurteilt worden ist, ganz anders zu bewerten. Vgl. Nietzsche, Unzeitgemässe Betrachtungen II,2, URL=http://www.nietzschesource.org/ #eKGWB/HL-2 (16. 5. 2021). Mitte des 20. Jahrhunderts legte Walter Wiora eine methodische Unterscheidung bei der Mittelalterrezeption in retrospektiv und relativistisch vor (vgl. Anm. 41), der wegen ihrer deutlicheren Trennschärfe in dieser Studie der Vorzug vor Nietzsche gegeben wird.


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sche Vorbilder zurückgreifen, sich aber an den aktuellen Methoden der Historischen Musikwissenschaft orientieren.10 Die sowohl historische als auch musikwissenschaftliche Anlage dieser Studie bietet die Möglichkeit, für den Forschungsgegenstand germanischer Choraldialekt eine Kontextualisierung zu schaffen, die für die Anschlussfähigkeit an die Liturgiewissenschaft11 ebenso nötig ist wie für seine Einordnung und möglicherweise Neubewertung in der jüngeren Musikgeschichte. Und schliesslich liegt mit der Erzählung der Rezeptionsgeschichte des germanischen Choraldialekts eine kirchengeschichtliche Darstellung vor, die dank ihrer Perspektive und Schwerpunktsetzung oft Beschriebenes in einem etwas anderen Licht und dadurch möglicherweise neu erscheinen lässt. Diese Veröffentlichung ist eine leicht gekürzte und bearbeite Fassung einer im Rahmen einer Cotutelle de thèse an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Prag im Fach Musikwissenschaft und an der Theologischen Fakultät der Universität Luzern im Fach Kirchengeschichte erstellten wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit. An erster Stelle gilt mein Dank den Betreuern, Prof. Dr. David Eben (Prag) und Prof. Dr. Markus Ries (Luzern), die sich bereitwillig auf das Projekt eingelassen und es auf vielfältige Weise begleitet haben; in diesen Dank möchte auch die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der beteiligten universitären Administrationen eingeschlossen wissen. Prof. em. Dr. Manfred Eder (Universität Osnabrück) steuerte wertvolle methodische Hinweise bei; ihm verdanke ich zudem auch inhaltliche Impulse zur Geschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die sich bei der gemeinsamen Arbeit am Lehrstuhl für Kirchengeschichte in Osnabrück ergeben haben. Prof. em. Dr. Alois Koch (Hochschule Luzern / Universität Luzern) sowie Prof. Dr. Stefan Morent (Universität Tübingen) danke ich für ihre sorgfältige Begutachtung und die Bearbeitungsvorschläge für die Veröffentlichung. Zahlreichen Bibliotheken und Archiven gilt mein Dank für die unkomplizierte Bereitstellung von Quellen, bei der Besorgung teils entlegener Publikationen und für sehr entgegenkommende Nutzungsbedingungen: an vorderster Stelle dem Archivar des Stiftsarchivs Engelberg Dr. Rolf De Kegel, dann dem Deutschen Liturgischen Institut Trier und seinem Archivar Artur Waibel, dem Chorregenten Gabriel Heun stellvertretend für die unkomplizierte Möglichkeit, vor Ort an den Kiedricher Quellen arbeiten zu können, sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Jesuitenbibliothek Zürich, der Diözesanbibliothek Osnabrück, der Musikbibliotheken des Klosters Einsiedeln und Engelberg, der 10 Das Neueste unter den Methodenlehrbüchern ist Hentschel, Musikwissenschaft. Für die vorliegende Studie trugen einzelne Beiträge aufgrund ihrer Akzentsetzung weiterführende Fragestellungen bei. Exemplarisch zur Gregorianikrezeption in der Neuzeit Morent, Mittelalter, und Leßmann, Rezeption. 11 Für die verstärkte Zusammenarbeit in der Forschung von Kirchengeschichte und Liturgiewissenschaft – im vorliegenden Fall im Teilgebiet Kirchenmusik – plädiert noch jüngst Schneider B., Gelebter Glaube.

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Bibliothek des Priesterseminars Trier, des Diözesanarchivs Trier, des Archivs der Evangelischen Landeskirche in Württemberg (Landeskirchliches Archiv Stuttgart), des Staatsarchivs des Kantons Schwyz, wo das Archiv des Klosters Einsiedeln während der Zeit meiner Konsultationen ausgelagert war, sowie der Zentralbibliothek Zürich und der Bibliothek des Musikwissenschaftlichen Instituts der Universität Zürich. Besonderen Dank möchte ich Prof. em. Dr. P. Wolfgang W. Müller OP (Universität Luzern) aussprechen für das Angebot, das Manuskript in die Reihe TeNOR – Text und Normativität aufzunehmen, dem Schwabe Verlag für die sorgfältige Erstellung und die Veröffentlichung des physischen wie des digitalen Buches und dem Schweizer Nationalfonds für den grosszügigen Publikationszuschuss.


1 Was ist germanischer Choraldialekt?

Würde hier unmittelbar mit der zusammenfassenden Übersicht von melodischen Varianten begonnen, die sich, wie bald klar werden wird, aus gutem Grund erst in Abschn. 2.11 findet, könnte der irreführende Eindruck entstehen, es handle sich dabei um ein systematisiertes melodisches Modell. Germanischer Choraldialekt ist eine Kombination aus melodischem Befund und kontextualisierender Zuschreibung. Damit diese Pauschalisierung von der Metaebene wissenschaftstheoretisch, historisch und musikologisch konkretisiert werden kann, sind Differenzierungen notwendig, die im Folgenden erarbeitet und in der Darstellung der Rezeption auf theoretischer und praktischer Ebene angewendet werden.

1.1 Was sich aus heutiger Sicht sagen lässt Zunächst handelt es sich um die im 20. Jahrhundert erdachte Bezeichnung für eine mittelalterliche melodische Varietät des gregorianischen Gesangs. Diese Varietät12 ist hauptsächlich, aber nicht ausschliesslich, in diastematischen Handschriften aus dem deutschen Sprachgebiet nachweisbar und wurde bis ins 19. Jahrhundert meist als ortskirchliche Eigenheit eingestuft. Ins Blickfeld der Wissenschaft kam die Varietät dann durch die beginnende quellenkundliche Beschäftigung mit mittelalterlichen Musikhandschriften. Als ein allgemein «deutsches»13 Phänomen wurde sie dann von Peter Wagner im Anhang zur 2. Auflage seiner Neumenkunde von 1912 beschrieben, setzte sich jedoch als Forschungsgegenstand erst mit Wagners Vortrag an einem Kongress im Jahr 1925 durch, in dem er den Terminus germanischer Choraldialekt prägte. Fast 100 Jahre später ist die Annahme eines allgemein deutschen Phänomens unter dem Aspekt der sich ändernden Überlieferung zu differenzieren: Was etliche Einzelstudien für lokale Gepflogenheiten belegen, resümierte Franz Körndle zu der in dieser Formu12 In dieser Studie wird unterschieden zwischen Varietät und Variante: Während Variante für ein bestimmtes melodisches Phänomen reserviert ist, dient Varietät als Sammelbegriff für alle Melodievarianten, die im Lauf ihrer Erforschung zum germanischen (deutschen, ostfränkischen) Choraldialekt gezählt worden sind. 13 Nur eingeschränkt, aber unvermeidbar ist hier vorläufig von einem deutschen Phänomen zu sprechen, da es keine eindeutige und jeglicher Kritik standhaltende Bezeichnung für das Verbreitungsgebiet im Hoch- und Spätmittelalter gibt. Näheres dazu in den Folgeabschnitten.


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1 Was ist germanischer Choraldialekt?

lierung nicht zutreffenden Verallgemeinerung, gültig für das 15. Jahrhundert, dass es «wirklich eine generell übliche Praxis» gewesen sei, «von den Gregorianischen Gesängen am gleichen Ort zwei unterschiedliche Singweisen zu benützen», nämlich den germanischen Choraldialekt in Stifts- und Pfarrkirchen, hingegen in den Klosterkirchen v. a. der Mendikantenorden die römischen Fassungen:14 «Ursache dafür war, dass Orden mit einer vereinheitlichten Liturgie auch für eine Einheitlichkeit im Gesang sorgten. Dagegen unterlagen die Stifts- und Pfarrkirchen dem lokalen Usus der Diözesen.»15

Das erklärt zum Teil, warum Melodiecharakteristika des germanischen Choraldialekts noch bis ins 19. Jahrhundert hinein im Repertoire mancher Diözesen erhalten geblieben sind. Als deren deutlichstes melodisches Kennzeichen gelten Intervallvergrösserungen, die die leitereigenen Halbtonstufen einschliessen, verkürzend als Vermeidung von Halbtonschritten bezeichnet. Dazu kommen eigene Psalmtonkadenzen, charakteristische Initien und Unterschiede im Textrepertoire16. In der Zeit des sogenannten Reformchorals ging die Bedeutung von Eigentraditionen immer weiter zurück. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts fiel dem Melodienrepertoire mit der «deutschen» Varietät im Zuge der Restitution von Gesängen aus mittelalterlichen Quellen wieder grösseres Gewicht zu. Sie diente im frühen 20. Jahrhundert sogar als Argument für die Hintansetzung eines erst neu versuchten universalkirchlich vereinheitlichten liturgischen Gesangs17 zugunsten von Eigentraditionen, weil die mittelalterlichen Quellen bis auf Abweichungen, die das Wesen der einzelnen Melodien kaum tangierten, gebietsweise bereits eine gewisse Uniformität der Melodien nahelegten, die im Lauf der Jahrhunderte erst verloren gegangen war.

Vgl. Körndle, Mainz 170. In genau umgekehrter Zuordnung am Beispiel Oppenheims: Gottron, Beiträge 307. 15 Ebd. – Bezüglich der Mönchsorden im südlichen deutschen Sprachgebiet ist zu unterscheiden, ob sie sich der Melker Reform im Nachgang zum Konstanzer Konzil (1414–1418) angeschlossen hatten – dann übernahmen sie ebenfalls die römische Gesangsweise – oder ihre Eigenständigkeit bewahrten, wie es die Benediktiner in der Schweiz taten. Auch sie sorgten im 17. Jahrhundert für Uniformitas im Liturgiegesang, jedoch setzten sie einen überschaubaren Rahmen, um den Wunsch nach Einheitlichkeit realisieren zu können. 16 Textvarianten sind für die gesamte liturgische Tradition belegt und dienen zum Nachweis der Provenienz einer liturgischen Quelle, nicht aber als selbstverständlicher Beleg für den germanischen Choraldialekt. Auf sie wird deshalb im Folgenden nicht eingegangen. 17 Mühlenbein, Choralgesang 33, wies darauf hin, dass noch am 10. 6. 1858 der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel auf Anfrage hin von der römischen Kurie die Antwort erhielt, dass diese «an eine Herausgabe des Graduale und Antiphonars für die gesamte Kirche bis jetzt ganz und gar nicht gedacht habe». 14


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