Generische Ambiguität
Zur Formtheorie moderner Erzähltexte mittlerer Länge am Beispiel von Idylle und Legende
Frauke Berndt
Für Susanne Köbele Sommer 2023
1. Einleitung
Wenn Form in literarischen Texten in Erscheinung tritt, dann hängt diese Erscheinungsowohl im Hinblick auf das Was als auch auf das Wie der Texte stets von einem bestimmten «Gattungs-Wissen»ab:1 der «Gattungszuschreibung».2 Tatsächlich bilden literarische Texte zu unterschiedlichen historischen Bedingungen verschiedene Gattungen aus, auf die sie reflektieren:«Form ist unausgesprocheneSelbstreferenz»,3 so verstehen es sowohlNiklas Luhmann als auch Johannes Hees-Pelikan, der jüngst seine Gattungstheorie in dieser grundsätzlichen Selbstreflexivität literarischer Texte verankert hat.4 Zwei Gattungen sind für die Formen eines bestimmten Segments literarischer Texte, nämlich für die Formen von modernen Erzähltexten mittlerer Länge, besonders wichtig, weil sie häufig verwendet und nicht selten sogar in einem einzelnen Text verbunden werden:Idylle und Legende. Sie sind nicht zuletzt deshalb so einschlägig, weil der die europäische Literatur eigentlich bestimmende Roman – Symptom wie Synonym der Moderne – erstens keine Gattung ist und zweitens – dem eigenen Selbstverständnis nach – keine Form hat.5 Formlosigkeit ist deshalb der gemein-
1 Gattungs-Wissen – Wissenspoetologie und literarische Form,hg. von Michael Bies, Michael Gamper und Ingrid Kleeberg, Göttingen 2013.
2 Rüdiger Zymner: Biographie als Gattung,in: Handbuch Biographie – Methoden, Traditionen, Theorien,hg. von Christian Klein, Berlin 2022, 11–16, hier:11.
3 Niklas Luhmann: Das Kunstwerk und die Selbstreproduktion der Kunst,in: Schriften zu Kunst und Literatur,hg. von Niels Werber, Frankfurt a. M. 2008, 139–188, hier:150.
4 Vgl. Johannes Hees-Pelikan: Gattungscodes – Zu einemBeschreibungsmodell generischer Ambiguität,in: Zeitschrift fürÄsthetikund AllgemeineKunstwissenschaft 69/2 (2024),109–134.
5 Vgl. Rüdiger Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans,in: Vita aesthetica –Szenarien ästhetischer Lebendigkeit,hg. von Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Volker, Zürich 2009, 193–211;ders.: Form and Life in the Theory of the Novel,in: Constellations 18 (2011), 53–66;ders.: Das Argument der Form in Schlegels «Gesprach uber die Poe-
sammelten Analysen verschiedener Formen und Funktionen von Ambiguität in Idylle und Legende des langen 19. Jahrhunderts. Sie gehen auf die erste Tagung des Zürcher SNF-Projekts FORM. Generic Ambiguity in Narrative Fiction (1800 –1930) (www.form.uzh.ch)zurück, die vom 25. bis zum 27. Mai 2023 an der Universität Zürich stattfand (6).
2. Narratologie
1955 hat Eberhard Lämmert die ‹Erzählkunst› von der ‹Gattungspoetik› getrennt und in den Bauformen des Erzählens mit dem Modell der Sukzessivität das Fundamentfür die Analyse von Erzähltexten gelegt. Weder Käte Hamburger in DieLogik der Dichtung (1957)noch FranzK.Stanzel in der Theorie des Erzählens (1979)weichen von diesem Modell ab, das auch für die strukturalistische NarratologieGültigkeit besitzt, die in Frankreich begründet wird. In den beiden methodologischen Essays Discours du récit. Figures III (1972)und Nouveau discours du récit (1983), von Andreas Knop unter dem Titel Die Erzählung erst 1994 ins Deutsche übersetzt,12 richtet Gérard Genette die narrative Struktur an der zeitlichen Anschauungsform des (personal gedachten)Erzählens aus. Genettes Orientierung an der Zeit liegt in der Natur der Sache begründet,denn seine beiden Monographien setzen sich mit Marcel Prousts Alarecherche du temps perdu (1913–1927)auseinander – einer der berühmtesten Autofiktionen, deren zeitliche Anschauungsform nach dem Leben ihres Protagonisten modelliert ist. Einen philosophischen Meilenstein hat schliesslich Paul Ricœur in seinem monumentalen dreibändigen Werk Temps et récit (1983–1985)gesetzt.13 Im Zentrum der Narratologie steht die Vermittlung von Ereignissen im Hinblick auf deren zeitliche Relationen. Und die Vermittlung übernimmt eine Erzählinstanz, die ein mehr oder weniger rigides Informationsmanagement betreibt, unter Umständen andere Figuren zu Wort kommen lässt oder aus deren Perspektive erzählt. Tut sie dies, so rückt das Erzählen von der ersten, der seit Genette so bezeichneten extradiegetischen Ebene auf die nächste, die intradiegetische bzw. metadiegetische, metametadiegetische usw., wo sich die möglichen Erzählssituationen jedoch lediglich wiederholen.
12 Gérard Genette: Die Erzählung,übers. von Andreas Knop, München 32010.
13 Paul Ricœur: Zeit und Erzählung,übers. von Rainer Rochlitz, München:Bd. 1: Zeit und historische Erzählung (1988), Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung (1989), Bd. 3: Die erzählte Zeit (1991).
lusion of avoice factor which can be defined empirically by acomplex set of interrelated textualand contextuals features and is corroborated by amimetic reading of the text that stimulates this projection of aspeaker or reflector function».22 Obwohl damit dem Anthropomorphismus immerhin ein Riegel vorgeschoben wird, sodass wenigstens die avancierte Narratologiedem ‹Begehren nach einem Märchenonkel› widersteht, besteht das Problem der zeitlichen Anschauungsform des Erzählens nach wie vor, ja es wird als Problem überhaupt gar nicht erst identifiziert.
3. Gattungstheorie
Bildnarratologie,23 Filmnarratologie24 oder transmediale Narratologie25 sind indes keineswegsdermassen zeitfixiert wie die literaturwissenschaftliche Diskursnarratologie, ja können es auch gar nicht sein, weil mit dem Medium einer Erzählung stets die räumliche Anschauungsformberücksichtigt werden muss. Bevor solcheErzählungen überhaupt anfangen zu erzählen, tritt das visuelle Medium des Erzählens in seiner räumlichen AnschauungsforminErscheinung. Die zeitliche Anschauungsformdes Erzählens ist daher auf die räumliche Anschauungsform des Mediums abgebildet. Das hat – logischerweise – damit zu tun, dass die ebenso radikale wie verhängnisvolle Trennung vom Wie und Was des Erzählens, von discours und histoire,von Erzählfunktion und erzählter Welt und damit von Narratologie und Fiktionstheorie in medial bezogenen Erzähltheorien nicht greift. Im Gegensatz zu Narratologien, in denen die materiale Medialität des Erzählens eine zentrale Rolle spielt, ist die literaturwissenschaftliche Narratologie «medienblind».26 Im Folgenden möchteich ausführen, dass das Modell, mit dem die Medialität des literarischen Texts (nicht nur des Erzähltexts)und damit auch räumliche Anschauungins Spiel kommt, das Modellder Gattung ist – über den Umweg der Forschung zur Materialität der Kommunikation.27 In der Semiotik wird unter einem Medium in der Regel die materiale Seite der Kommunikation gefasst:«Als Ermöglichungsbedingung von Kommunikation ist der Ausdruck ‹Medium› in einem elementaren Sinne zunächst auf den
22 Monika Fludernik: Towards a ‹Natural › Narratology,London/New York 1996, 344.
23 Vgl. Andreas Veits: Narratologie des Bildes – Zum narrativen Potenzial unbewegter Bilder,Köln 2021.
24 Vgl. Markus Kuhn: Filmnarratologie – ein erzähltheoretisches Analysemodell,Berlin/New York 2011.
25 Vgl. Jan-Noël Thon: Transmedial Narratology and Contemporary Media Culture,Lincoln 2016.
26 Frauke Berndt und Lily Tonger-Erk: Intertextualität – Eine Einführung,Berlin 2013, 9.
27 Vgl. u. a. Materialität der Kommunikation,hg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer, Frankfurt a. M. 1995.
(1910–1925).48 Konsens besteht zwar in der «Unterscheidungzwischen historisch variablen Gattungenund Genres (Tragödie,Roman, bürgerliches Trauerspiel, Internatsroman usw.) undtranshistorischenSchreibweisen bzw. Modi (das Narrative, Dramatische usw.)».49 Doch «zum Traumeiner stringenten typologischen Gattungstheoriebleibt nurzusagen, dasserausgeträumt ist»,50 resümierttrocken Hees-Pelikan in seinem äusserst informierten Forschungsbericht zur Gattungstheorie: «Darausfolgteinegrundsätzliche Kontingenz generischer Klassifikationen».51 Doch Typologien hin oder her:Das Gattungswissen bleibt und wirkt. Indem er das ‹Wesen›,die ‹Essenz› und die Normativität von Gattungen durch Relationalitätersetzt, definiert sie Klaus W. Hempfer 1973 in seiner Gattungstheorie als «Textgruppenbildungen unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades, die diachron und synchron in Opposition zueinander stehen».52 Diese Relationalität wird auch dort nicht unterboten, wo Gattungen vorausgesetzt werden, um Gattungsmischungen53 oder Gattungshybridisierungen54 zu beschreiben, die als Impulse für Innovation und Modernisierung betrachtet werden. Die «Unbestimmbarkeit der Gattungszugehörigkeit»hält Moritz Baßler für den «absolute[n] Ausnahmefall». Erst um 1900 würden «generative[ ]Texturen»diesen Rahmen sprengen.55 Den Grund für die langen Halbwertszeiten von Gattungen – «[t] here has never been aliterature without genres»56 – erkennt Zymner darin,dass Gattungen ein «Gemachtes und nicht Gegebenes»57 implizierten. Deshalb liessen sie sich als «kommunikativ etablierte und dadurch sozial geteilte Kategorisierun-
48 Vgl. Moritz Baßler: Gattungsmischung, Gattungsübergänge, Unbestimmbarkeit,in: Handbuch Gattungstheorie [Anm. 41], 52–54, hier:53.
49 Hees-Pelikan: Gattungscodes [Anm. 4];vgl. Gerard Genette: Einführung in den Architext,übers. von J.-P. Dubost et al., Stuttgart 1990.
50 Hees-Pelikan: Gattungscodes [Anm. 4],114.
51 Ebd., 115;vgl. u. a. Birgit Neumann und Ansgar Nünning: Einleitung – Probleme, Aufgaben und Perspektiven der Gattungstheorie und Gattungsgeschichte,in: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte [Anm. 40], 1–28;Paul Keckeis und Werner Michler: Einleitung – Gattungen und Gattungstheorie,in: Gattungstheorie,hg. von dens., Frankfurt a. M. 2020, 7–48.
52 Hempfer: Gattung [Anm. 42], 651;vgl. ders.: Literaturwissenschaft – Grundlagen einer systematischen Theorie,Stuttgart 2018.
53 Vgl. Sven Gesse: «Genera mixta» – Studien zur Poetik der Gattungsmischung zwischen Aufklärung und Klassik-Romantik,Würzburg 1997;Klaudia Seibel: Mixing Genres – Levels of Contamination and the Formation of Generic Hybrids,in: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte [Anm. 40], 137–152.
54 Baßler: Gattungsmischung [Anm. 48], 52.
55 Ebd., 53.
56 Tzvetan Todorov: Genres in Discourse,übers. von Catherine Porter, Cambridge 1990, 15.
57 Zymner: Einführung [Anm. 41], 4; vgl. ders.: Gattungstheorie – Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft,Paderborn 2003;ders.: Rezension von «Kulturen der Gattung»von Werner Michler,in: Arbitrium 34/3 (2016), 330–332.
gen»58 verstehen. Dass Gattungen die Funktion literarisch-sozialer Institutionen hätten, betont 1977 bereits Wilhelm Voßkamp,59 der zeigt, dass sich «das Interesse wesentlich von der Frage nach dem ‹Wesen› der ‹Gattungen› auf die Frage nach deren Funktion verschoben hat».60 Als «gesellschaftlich geteilte Normierungen»würden Gattungen «von unterschiedlichen Akteuren im literarischen Feld diskursiv vorgenommen». Sie setzten «sich im Wissenshaushalt einer Kultur durch».61
Wenn mit der Materialität das Literarische an den Texten am Horizont der Gattungstheorie verschwindet, dann verschwinden mit der Sozial- und Kulturgeschichte die Texteanund für sich. In diesem Sinne hältWerner Michler2015 in seiner monumentalen Studie zu Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext fest, Gattung sei «dasjenige am Text, was man nicht lesen kann. Kategorien von viel heiklerer Evidenz wie das Motiv, der Plot, selbst der Stil lassen sich einem Text ablesen;die Gattung hingegen geht aus einem Text nicht hervor, sie ist nicht im Text».62 In seiner Kulturgeschichte versteht er jede Gattung als eine «habitualisierte Klassifikationshandlung».63 Dementsprechend ist die Gattungszugehörigkeit eines literarischen Texts «keine Eigenschaft, sondern ein Akt, und als solcher Teil von – diesen Akt übersteigenden – historischen Prozessen und Handlungszusammenhängen».64 Einen wesentlichen Zusammenhang bildet die jeweilige Wissensordnung, in die ein literarischer Text eingebettet ist,65 weil jedes Wissen nicht nur von seinerDarstellung abhängt, sondern umgekehrt Darstellungen Wissengenerieren. Unterm Strich haben also rezente Narratologie und Gattungstheorie nichts oder nur wenig miteinander zu tun. Eine Studie mit dem Titel ‹Gattungsnarratologie› steht bis heute nicht nur aus, sondern würde tatsächlichein wichtiges Desiderat zu erfüllen haben. Wenn die Narratologie medienblind ist, dann ist die Gattungstheorie erzähltaub.
58 Zymner: Einführung [Anm. 41], 3, Hervorh. im Original.
59 Vgl. Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen,in: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte,hg. von Walter Hinck, Heidelberg 1977, 27–42.
60 Hempfer: Literaturwissenschaft [Anm. 52], 187;vgl. ders.: Zum begrifflichen Status der Gattungsbegriffe – Von ‹Klassen› zu ‹Familienähnlichkeiten › und ‹Prototypen›,in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 120/1 (2010), 14–32.
61 Zymner: Rezension [Anm. 57], 332.
62 Werner Michler: Kulturen der Gattung – Poetik im Kontext – 1750–1950,Göttingen 2015, 9.
63 Ebd., 86.
64 Ebd., 49.
65 Bies/Gamper/Kleeberg: Einleitung [Anm. 1], 7.
ben»liessen.68 Damit vollziehen sie die Wende «von der Identität des ‹Idyllischen› hin zur Performativität des ‹Idyllisierens›».69 Einen Codebegriff haben die drei freilich nicht – ebenso wenig wie diejenigen, die regelmässig von Codes und Codierungen im Zusammenhang mit Gattung und sozialer oder kulturellerAbhängigkeit des Gattungswissens sprechen. Hees-Pelikan ist vielmehr der Erste, der die Begriffe Code und Codierung systematisch für das Gattungsproblem fruchtbar macht, geleitet von folgenderThese:
Erstens hilft der Begriff der Gattungscodes dabei, das Verhältnis der generischen Dimension literarischer Texte zu deren narrativen Praktiken und Verfahren zu modellieren. Und zweitens ist ein Modell der Gattungscodes hervorragend geeignet, um jene Eigenart zu beschreiben, die für moderne Literatur häufig als grundlegend gilt:ihre generische Ambiguität.70
Der Begriff Gattungscode überbrückt dergestaltauch die Kluft zwischen dem Was und dem Wie in der Erzähltextanalyse:«Denn die Organisations- und Strukturprinzipien solcher Diskurs- und Histoire-Verfahren literarischer Texte, wie sie mit dem Code-Begriff adressiert werden, sind immer auch generische Prinzipien».71 Die Anknüpfungspunkte für diesen Begriff findet er in Michail Bachtins Aufsatz The ProblemofSpeech Genres (1953),72 der explizit Stil – also individuell geformte Sprache – und Gattungen verbindet:«Where there is style there is genre. The transfer of style from one genre to another not only alters the way astyle sounds, under conditions of agenre unnatural to it, but also violates or renews the given genre».73
Der Zufall will es, dass MauriceMerleau-Ponty in seinen Essay Langage indirect et les voix du silence in den Studien Signs (1960)mehr oder wenigerzeitgleich ebenfalls bei derindividuellgeformten Sprache (langage)ansetzt, um das worldmaking der modernen Malereizuanalysieren.74 Jede malende Person müsse ihre
68 Jan Gerstner, Jakob Christoph Heller und Christian Schmitt: Idylle als Verfahren,in: Handbuch Idylle [Anm. 67], 11–15, hier:13, Hervorh. F.B.
69 Ebd.
70 Hees-Pelikan: Gattungscodes [Anm. 4],112;vgl. u. a. Christoph Bode: Ästhetik der Ambiguität – Zur Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne,Tübingen 1988;Claudia Liebrand und Oliver Kohns: Gattung und Geschichte – Zur Einleitung, in: Gattung und Geschichte [Anm. 40], 7–16.
71 Hees-Pelikan: Gattungscodes [Anm. 4],130.
72 M. M. Bakhtin: The Problem of Speech Genres,in: ders.: Speech Genres and Other Late Essays,übers. von Vern. W. McGee, hg. von Caryl Emerson und Michael Holquist, Austin 1986, 60–102.
73 Ebd., 66.
74 Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Le langage indirect et les voix du silence,in: ders.: Signes, Paris 1960, 49–104;engl. Übersetzung: Indirect Language and the Voices of Silence,in: ders.: Signs,übers. von Richard C. McCleary, Evanston 1964, 39–83.
eigeneSprache, ihreneigenen Stil finden und entwickeln, um ‹Welt› ausdrücken zu können,wobei dieserStileine nondiskursiveFormhabe, also selbst vorsprachlich sei:«Astyle,therefore, provides arange of practices and sensibilities,but these are not necessarilyfixed».75 Diese Grundannahme, die Merleau-Ponty mit Verweis auf Ferdinand de Saussureentwickelt,übernimmt er vondem KunsthistorikerAndré Malraux.76 Dieser wiederum wird in Gustave Flauberts Madame Bovary (1856)auf diedort verwendete erlebte Rede (discours indirectlibre)aufmerksam, durch welche ‹Welt› unterdem Verstummeneiner vermittelnden Erzählinstanzaus körperund wahrnehmungsgebundenen Perspektiven der Figurenerzählt wird.InMerleau-Pontys ontologischer Zuspitzung desStilbegriffs bilden das Wasund dasWie des world-making in ihrer Resonanz eine untrennbare Einheit, denn Stil spricht in einem «idiom that wouldspeak not the language of the subject or of the project, butof their intertwining» 77
Eine solche Einheit von Was und Wie behandeln Jay David Bolter und Richard Grusin in ihrer für die Medienwissenschaft einflussreichen, eineganze Enzyklopädie von historischen Medientheorien berücksichtigenden Studie Remediation. Understanding New Media (1999). Bemerkenswert radikalhalten sie im Hinblick auf die sog. neuen Medienfest:«It would seem, then, that all mediation is remediation»:78 «The events of our mediated culture are constituted by combinationsofsubject, media, and objects, which do not exist in their segregated forms. Thus, there is nothing prior to or outside the act of mediation».79 Den Hintergrund bildet dasselbe Formverständnis, mit dem ich auch operiere, wenn Bolter und Grusin mit dem Begriff remediation das In-Erscheinung-Treten von Artefakten und die damit einhergehende Erfahrbarkeit der dargestellten Welt adressieren: remediation ist reforming.80 Dabei behandeln sie in exemplarischen Exkursen nicht nur die historische Tiefe des Prozesses, in dem eine Form immer eine andere formt, sondern auch die Übertragbarkeit des Prinzips von den digitalen Mediender Gegenwart auf die analogen der Vergangenheit – und zwar unabhängigvon deren Modalität. Unter einem Medium verstehensie dementsprechend das Netzwerkaus Diskursen, Praktiken und Institutionen, das am Prozess der Remediatisierung beteiligt ist. Genau hier lässt sich die Brücke zur rezenten Gattungstheorie schlagen, gerade weil diese Gattungen als Ergebnis so-
75 Linda Singer: Merleau Ponty on the Concept of Syle,in: Man and World 14 (1981), 153–163, hier:154.
76 Vgl. André Malraux: Les Voix du silence,Paris 1971;Claude Imbert: The Blue of the Sea – Merleau-Ponty, Malraux, and Modern Painting,übers. von Kristin Koster, in: Modern Language Note 115/4 (2000), French Issue, 600–618.
77 Singer: Merleau Ponty on the Concept of Syle [Anm. 75], 153.
78 Jay David Bolter und Richard Grusin: Remediation – Understanding New Media,Cambridge, MA 1999, 55.
79 Ebd., 58.
80 Vgl. ebd., 59.