
André Hoffmann Peter Vanham
André Hoffmann Peter Vanham
Auf dem Weg zu einem nachhaltigen Wohlstand
Aus dem Englischen übersetzt von Manfred Weltecke
Kapitel 5
Die Wurzeln der neuen Art des Wirtschaftens
Kapitel 6
Mit Bedacht bauen und mit gutem Beispiel vorangehen
Kapitel 7
Vom Abfall-Typ zum Superhelden
Kapitel 8
Eine neue Welt von Geschäftsmodellen
Kapitel 9
Das neue Wesen der Unternehmensführung
Kapitel 10
ministerium und vom Landwirtschafts- bis zum Verkehrsministerium, haben seit seinem Amtsantritt Hinweise auf den Klimawandel von ihren Internetseiten entfernt.4 Und zunehmend werden US-Bundesmittel für wissenschaftliche Forschungen, in denen das Wort «Klima» auch nur erwähnt wird, gestrichen.5 Mit anderen Worten: Die derzeitige Regierung versucht, die Geschichte umzuschreiben.
Diese radikalen politischen Veränderungen wirken sich auch auf die Geschäftswelt aus. Nach der Wahl von Donald Trump kündigten sechs große US-Banken an, sie würden die Net Zero Banking Alliance verlassen.6 Andere Unternehmen hatten die Zeichen der Zeit bereits vorher erkannt und ihre Klimaziele nach unten korrigiert oder deren wissenschaftliche Bewertung im Laufe des Jahres 2024 zurückgefahren7; und um das Bild zu Beginn des Jahres 2025 zu aktualisieren: zahlreiche in den USA tätige Unternehmen wurden in den letzten Monaten von der Regierung angewiesen, sich an die neuen Spielregeln zu halten, sei es in Bezug auf DEI8, oder in Bezug auf Nachhaltigkeit.9 Ausnahmen sind mir nicht bekannt.
Infolgedessen erlebt die Industrie für fossile Brennstoffe in den USA und weltweit eine Renaissance. Exxon beispielsweise hatte sich nie vollständig auf die Umstellung auf erneuerbare Energien eingelassen und verdoppelt nun stolz seine Ölförderung und -ausbeutung.10 BP und Shell gehören inzwischen zu jenen Unternehmen, die ihr Handeln überdenken und sich wieder auf ihr Kerngeschäft mit Öl und Gas zurückbesinnen. Zudem setzen sich die Lobbygruppen der amerikanischen Wirtschaft, ermutigt durch ihre neue Regierung, auch in der Europäischen Union für eine Lockerung der Nachhaltigkeitsbestimmungen ein.11 All dies verheißt nichts Gutes für die neue Art des Wirtschaftens.
Doch wie der englische Historiker Thomas Fuller vor vielen Jahrhunderten in einem Gedicht schrieb: «Die dunkelste Stunde der Nacht kommt kurz vor dem Morgengrauen.» Während die Klimaschutzmaßnahmen von Unternehmen in der Tat stark unter Druck geraten sind, schreiten die Bemühungen in anderen Bereichen, wie z. B. dem Naturschutz und der Biodiversität oder der Entwicklung
der Bilanzierung nach den verschiedenen Kapitalformen, weiter voran. Und während die US-Regierung bei der Umsetzung der neuen Naturschutzagenda Rückschritte macht, setzen andere Länder und Regionen, wie die Schweiz und die Europäische Union sowie China, Japan und andere Teile Asiens, ihre Bemühungen fort.
So hat beispielsweise in China, der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt, Präsident Xi das Streben nach einer «ökologischen Zivilisation» 2017 in die Verfassung der Regierungspartei aufgenommen.12 Seitdem hat diese Idee weite Teile der Gesellschaft und der chinesischen Politik geprägt. Chinesische Unternehmen sind heute weltweit führend in der Entwicklung und Vermarktung von Elektrofahrzeugen und deren Batterien, in der Solarenergie und in verschiedenen anderen «sauberen» Technologien, wie beispielsweise der Wasserstofftechnologie,13 und die chinesische Regierung kommt den Forderungen ihrer Bürger nach saubereren und grüneren Städten in zunehmendem Maße nach.
Die Bemühungen Chinas – wie auch diejenigen der näher gelegenen Länder in der Europäischen Union und der Schweiz – müssen noch viel weiter gehen und deutlich beschleunigt werden. Sie müssen außerdem diejenigen Teile der Wirtschaft mit erfassen, die sich noch in die entgegengesetzte Richtung bewegen, wie z. B. bei den zahlreichen Kohlekraftwerken, die nach wie vor große Teile der Wirtschaft mit Energie versorgen.14
Ich bin zuversichtlich, dass der Trend zu mehr Nachhaltigkeit in China von der Wahl von Präsident Donald Trump in den Vereinigten Staaten nicht beeinträchtigt wird. Während Trump amerikanische Unternehmen auffordert, nach dem Motto «Drill, Baby, drill (Bohr, Baby, bohr)»15 mehr fossile Brennstoffe zu fördern, sind China und andere asiatische und europäische Volkswirtschaften zweifellos weiterhin auf dem Weg zu mehr, nicht weniger Klima- und Naturschutzmaßnahme. Und dank der bestehenden Marktkräfte schreitet der grüne Wandel laut Wissenschaftlern selbst in den USA mit großen Schritten voran.16
Mit dieser Nachricht hatte ich nicht gerechnet. Seit mehr als 100 Jahren hatten mein Urgrossvater Fritz Hoffmann und seine Nachfahren dazu beigetragen, Roche von einem experimentellen pharmazeutischen Start-up zu dem weltweit führenden Pharmaunternehmen zu machen, das es war, als ich Mitte der 1990er-Jahre in den Verwaltungsrat eintrat. Während der letzten Jahrzehnte war Roche zu einem der grössten Pharmaunternehmen der Welt geworden. Es war sicherlich auch eines der weltweit grössten Unternehmen, das von der Inhaberfamilie kontrolliert wurde – und meine Familie hatte nie die Absicht gehabt, dieses Vermächtnis zu ändern. Wir hatten Höhen und Tiefen erlebt, welche sowohl das Schicksal des Unternehmens als auch dasjenige unserer Familie betrafen.
Dennoch hatte das Unternehmen langfristige Werte geschaffen und pflegte eine symbiotische Beziehung zu unserer Heimatstadt Basel, zur Schweiz und der Gesundheitsindustrie im Allgemeinen. Es war uns selbst dann gelungen, die Mehrheit der stimmberechtigten Aktien unseres Unternehmens zu halten, als sich unsere Gesamtbeteiligung, durch die Auswirkungen der Geschichte des 20. Jahrhunderts, verringert hatte. Nun hatte ein grosser Minderheitsaktionär seine Stimmrechtsaktien an Novartis verkauft.
Während ich die Nachricht verarbeitete, dachte ich darüber nach, was eine mögliche Fusion bedeuten würde. Was würde sie für Basel, die Schweiz, die Pharmaindustrie oder die Wirtschaft im Allgemeinen bedeuten? Novartis war unser Nachbar auf der anderen Seite des Rheins. Das Unternehmen war aus der Fusion zweier unserer Konkurrenten aus dem 19. Jahrhundert hervorgegangen – Sandoz und Ciba Geigy. Ich schätzte das Unternehmen als einen Mitbewerber, der uns stets wachsam bleiben liess. Es erinnerte uns ständig daran, dass Innovation und Wettbewerb in einer freien Marktwirtschaft überlebenswichtig sind. Aber niemand in der Familie hatte je die Absicht zu fusionieren, und wir waren nicht die Einzigen, die das so
sahen. «Das Brot ist besser in einer Stadt mit zwei Bäckern», pflegte einer unserer neuen Topmanager zu sagen. Das fusionierte Unternehmen würde zu einer Marktkonzentration führen, mit Sicherheit in Basel und in der Schweiz und bis zu einem gewissen Grad auch in der weltweiten Pharmaindustrie. Für das fusionierte Unternehmen würde dies eine Menge sozialer Unruhen mit sich bringen – und es war auch nicht sicher, ob eine Fusion für andere Interessengruppen vorteilhaft wäre.
Dennoch standen wir vor einer schwierigen Entscheidung. Eine Fusion würde zwar das Ende unseres Besitzes bedeuten, dem fusionierten Unternehmen aber auch einen Neuanfang ermöglichen. Als Familie hatten wir uns jahrzehntelang aus dem operativen Geschäft von Roche herausgehalten, vor allem seit dem frühen Tod meines Grossvaters bei einem Autounfall in den 1930er-Jahren. Der Ansatz, das Tagesgeschäft des Unternehmens in die Hände von Nicht-Familienmitgliedern zu legen, hatte lange Zeit gut funktioniert, doch mittlerweile zeigten sich erste Risse. Nur wenige Jahre zuvor war unser Unternehmen in Schwierigkeiten geraten, als es in den USA wegen eines Skandals um die Festsetzung von Vitaminpreisen verurteilt wurde. Roche musste eine Geldstrafe in Höhe von mehreren Milliarden Dollar zahlen. Und wir alle, die wir mit dem Unternehmen verbunden waren, mussten akzeptieren, dass dies unter unserer Aufsicht geschehen war. Die Tatsache, dass wir als Eigentümer von solchen Praktiken nichts gewusst und sie nicht verhindert hatten, hatte auch bei uns selbst Zweifel an unserer Fähigkeit aufkommen lassen, das Unternehmen ins 21. Jahrhundert zu führen. Wäre der vorgeschlagene Zusammenschluss nicht letztlich für alle Beteiligten besser?
Als ich mitten in der Nacht von Basel nach Hause zurückfuhr, gingen mir diese widersprüchlichen Gedanken durch den Kopf. In meiner Rolle als eines von nur zwei Familienmitgliedern im Verwaltungsrat würden viele meiner Verwandten eine erste Reaktion von mir erwarten. Und ich musste zugeben: Wenn jemand ein Angebot für unser gesamtes Unternehmen machte, dann lag das wahrschein-
lich daran, dass das Unternehmen unterbewertet war.Wir – und ich –mussten gründlich darüber nachdenken, worin unser Mehrwert als Familieneigentümer bestand.
Wir mussten auch die sich uns unmittelbar stellende Frage beantworten: Sollten wir den «sicheren» Weg des Verkaufs gehen und die Fusion der beiden Industrieunternehmen zulassen? Oder waren wir bereit, im Alleingang weiterzukämpfen, vielleicht mit einem kurzfristig geringeren finanziellen Ertrag, dafür aber möglicherweise mit einem besseren langfristigen Ergebnis für die Aktionäre und Interessengruppen?
* *
Denke ich heute an diese Ereignisse vor zwei Jahrzehnten zurück, so wird mir klar, dass meine Vision für unser Unternehmen , sowie meine Interpretation der Rolle der Wirtschaft in der Gesellschaft in diesem Moment der Krise ihren Ursprung nahmen.
Tatsächlich bewahrten wir unsere Unabhängigkeit und bauten das Unternehmen Roche für das 21. Jahrhundert auf, indem wir dem Leitgedanken folgten, «jetzt das zu tun, was Patienten als Nächstes benötigen». In den Jahren nach dem Übernahmeangebot wurden Medikamente wie Tamiflu und mehrere unserer Medikamente zur Krebstherapie zu grossen Erfolgen, die Millionen von Menschen halfen und den Wert unseres Unternehmens für Patienten unter Beweis stellten. Sie erwiesen sich auch als finanzielle Bestätigung unseres Ansatzes: In den 2010er-Jahren übertraf Roche die Marktkapitalisierung von Novartis, während es zum Zeitpunkt des Übernahmeangebots noch hinter Novartis gelegen hatte.
Doch bevor wir dieses Ziel erreichten, gab es viele Dinge zu klären, unter anderem über unsere Bestimmung. Ich musste für mich und meine Familienmitglieder definieren, wie die von mir vorgeschlagene Alternative zu einer Fusion aussehen würde – und warum sie besser war. Während ich darüber nachgedacht hatte, war ich zu folgender Grundüberzeugung gelangt: Ein Unternehmen existiert nicht
ausschliesslich, um kurzfristig Geld für seine Aktionäre zu erwirtschaften. Novartis, Roche und jedes andere Unternehmen sollte nicht einfach nur darauf abzielen, den Gewinn oder die «Gesamtrendite für die Aktionäre» des nächsten Quartals oder Jahres zu maximieren. Aus der eng gefassten Sicht der «treuhänderischen Pflicht» wäre natürlich jeder wohlmeinende Berater entschuldigt gewesen, wenn er damals meiner Familie – oder jedem Aktionär jedes anderen Übernahmekandidaten – gesagt hätte, es sei besser, zu verkaufen. Doch das hätte nicht zu dem beigetragen, was ich heute als die zentrale Verantwortung eines Unternehmens und seiner Eigentümer betrachte: die Schaffung von nachhaltigem und umfassendem Wohlstand. Ich kam zu der Überzeugung, dass das neue Wesen der Unternehmensführung darin bestehen müsse, einen Mehrwert für die Gesellschaft zu schaffen, und zwar auf eine inklusive Art und Weise, die der Umwelt keinen Schaden zufügt.
Warum möchte ich diese Geschichte und die meiner Lebensreise erzählen? Weil die Gesellschaften, denen wir angehören, nach vielen Jahrzehnten des Friedens und des Wohlstands mit Turbulenzen und sogar existenziellen Bedrohungen konfrontiert sind. So wie die Mitglieder meiner Familie und ich vor 20 Jahren an einem Scheideweg standen (oder die früheren Verwalter von Roche in der turbulenten ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts), denke ich, stehen auch wir heute vor einem Scheideweg. In meiner Familie bereitet sich eine neue Generation darauf vor, das Unternehmen und die Wirtschaft in eine neue Richtung zu lenken. Der engere Rahmen, in dem meine Kinder und ihre Cousins und Cousinen das Familienunternehmen neu erfinden müssen, besteht darin, dass neue Roche-Produkte und -Angebote auf den Markt gebracht werden müssen, da die vorherige Generation von «Blockbustern» an Attraktivität verliert. Doch die nächste Generation muss das Geschäftsmodell auch in einem weiteren Kontext neu erfinden, da es sich kein Unternehmen in ökologischer und gesellschaftlicher Hinsicht mehr leisten kann, nicht nachhaltig zu sein. Unternehmen müssen regenerativ sein und der Gesellschaft und dem Planeten mehr geben, als sie ihm wegnehmen,
Wirtschaftssystem beschritten werden könnte. Einige davon wurden bei Roche gelegt, als das Unternehmen nach dem Übernahmeangebot seinen eigenen Weg suchte. Andere Beispiele stammen von anderen Unternehmen und Führungskräften, die ich kennen- und schätzen gelernt habe. Und wieder andere befinden sich derzeit noch im Versuchsstadium, bevor eine breite Umsetzung (hoffentlich bald) folgen wird. Ich bin mir völlig darüber im Klaren, dass all diese Steine zusammen noch keine vollständige Lösung ergeben. Ebenso wenig entgeht mir die Ironie, dass ein Milliardär über Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit schreibt. Aber wir müssen alle an einem Strang ziehen, um eine nachhaltigere Zukunft zu schaffen, und dies ist mein Versuch, einen Beitrag dazu zu leisten.
Bei der Abfassung dieses Buches habe ich mich auf meine eigenen Erfahrungen und die unseres Familienunternehmens gestützt. Ich erzähle persönliche Anekdoten und Unternehmensgeschichten aus der Vergangenheit, die Sie hoffentlich inspirieren, weil sie entweder Erfolge zeigen oder die Möglichkeit bieten, aus Misserfolgen zu lernen. Und ich blicke in die Gegenwart und Zukunft und stelle Ideen und Vorgehensweisen vor, von denen ich glaube, dass sie uns allen in Zukunft helfen werden, einen nachhaltigen, umfassenden Wohlstand zu schaffen. Es handelt sich dabei um Herausforderungen, zu deren Bewältigung ich hoffentlich beitragen kann, die aber grösstenteils von denen gelöst werden – oder auch nicht –, die nach mir kommen: Meinen Kindern und allen anderen jungen Menschen auf der Welt. Ich hoffe, dass dieses Buch für sie (und für meine Leser) eine Hilfe sein kann, entweder weil es dazu beiträgt, das Verhalten derjenigen zu ändern, die heute an der Macht sind, oder weil es diejenigen ermutigt, die nach uns kommen werden. Ihnen allen wünsche ich eine anregende Lektüre.