Ursula Caflisch-Schnetzler
Johann Caspar Lavater Beziehungsgenie
Band 2
Autor und Freund
Schwabe Verlag
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Abbildung Umschlag: Johann Heinrich Wilhelm Tischbein; Öl auf Leinwand, 1781/1782. Johann Caspar Lavater.
Schweizerisches Nationalmuseum; vgl. Abbildungsverzeichnis S. 229.
Cover, Gestaltung, Satz, Korrektur: Marco Morgenthaler, Zürich
Bildbearbeitung: Manù Hophan, Zürich
Druck, Einband: Balto Print, Vilnius
Printed in the EU
ISBN Printausgabe 978-3-7965-5146-8
ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-5147-5
DOI 10.24894/978-3-7965-5147-5
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Die Natursprache des Menschen
Freund und Feind
–1785/86
Anhang
Ewiger Wochenkalender für mich.
Oct. 1779.
Einleitung
»Von Neütons Geist habe ich nicht den centillionsten Theil.« 1
Mitseiner Heirat 1766 und nach ersten literarischen Erfolgen mit den Schweizerliedern 2 und der Herausgabe der moralischen Wochenschrift
Der Erinnerer 3 sowie mit seinen physikotheologischen Überlegungen zur unendlichen Teilbarkeit von Raum und Zeit 4 trat Johann Caspar Lavater mit der von ihm in seiner Autobiografie 1779 beschriebenen Dualität von Mut und Schüchternheit 5 als junger Gelehrter und angehender Pfarrer mit einer wachsenden Zielstrebigkeit in eine neue Lebensphase ein. Bis zur Anstellung 1778 an der Stadtkirche St. Peter blieb er mit seiner Frau Anna Schinz und den bald sich ankündigenden Kindern im elterlichen Haus ›Zum Waldries‹ an der Spiegelgasse 11 wohnen und intensivierte dank seiner wachsenden Korrespondenz die Kontakte über die Stadtgrenzen von Zürich hinaus. Seine Freunde in und um Zürich fanden in ihm eine »Stütze der Tugend und Religion«, denn obschon »jung an Jahren«, sei Lavater bereits »ein Greis an Weisheit« 6. Johann Caspar Lavater erkannte seine ihm bereits früh zugeschriebenen Talente durchaus, sah jedoch die Überhöhung seiner Fähigkeiten durch andere dadurch gegeben, dass er »viel denke«, denn ein »mittelmässiger Verstand, den die Imagination activ machet, der immer arbeitet, wird einem Zuschauer so gross vielleicht grösser als ein Genie vorkommen, das nur bisweilen denkt«.7 Damit brachte Lavater erstmals 1766 jene Diskussion um Talent und Genie in seine Korrespondenz mit ein, die er später im Briefwechsel mit Johann Wolfgang Goethe 1780 führen wird.8 Das Thema bezüglich Genie haben und Genie
sein hielt er auch im letzten Band seiner Physiognomischen Fragmente fest, um das Genie als solches in die Nachfolge Christi zu stellen.9
Auch nach seinen Jugendjahren blieb Lavater ein eifriger Leser von zeitgenössischer Literatur, die weit über die Theologie hinausführte, was sich in der von ihm bis 1768 zusammengestellten Bücherliste widerspiegelt 10 und durch zahlreiche Erwähnungen von gelesener Literatur in der ständig sich erweiternden Korrespondenz bestätigt.11 Das Motto des sich zeitlebens schreibend erfahrenen Lavaters war »Nulla dies sine linea«.12 Es äußert sich in der auf die Jugendjahre folgenden Epoche seines Lebens in einer enormen Fülle von Korrespondenzen mit zahlreichen Briefpartnerinnen und Briefpartnern 13 und in seinen unzähligen publizierten Werken, die von Theologie über Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Anthropologie bis hin zu biblischen Erzählungen, Liedern und Gedichten führen.14 Der Zürcher Theologe bestimmte und sprengte mit seiner individuellen Form des Schreibens in seinem Werk
2 — Johann Caspar Lavater, Siegelring.
und Wirken die im Geiste der Aufklärung gesetzten Grenzen hin zu einer neuen Empfindsamkeit und nutzbaren Sichtbarkeit des Glaubens.
Die Frage, was den Menschen im Zeitalter der Aufklärung ausmache, beschäftigte die Gelehrten in vielerlei Hinsicht. Mit dem berühmten Diktum »cogito ergo sum« (ich denke, also bin ich) 15 des französischen Philosophen, Mathematikers und Naturwissenschaftlers René Descartes wurde das Subjekt über sein Denken auf sich selbst zurückgeworfen und blieb damit nicht mehr selbstverständlicher Teil der vorbestimmten göttlichen Ordnung. Zahlreiche theologische wie philosophische Werke und Schriften versuchten durch physikotheologisch formulierte Ansätze die neuen Erkenntnisse aus den Naturbeobachtungen mit der Bibel und den gesellschaftlichen Strömungen über die Vernunft in Verbindung zu setzen. Das Ich löste sich dabei über einen stetig stattfindenden Prozess aus seiner determinierten Stellung innerhalb seiner Sozietät heraus, um als Subjekt oder gar als Individuum neu seinen Platz inner-
halb der sich wandelnden Gesellschaft zu finden. Die Suche nach der Glückseligkeit des Menschen geschah in zahlreichen Frageprozessen, die über eine breit geführte Kommunikation nicht mehr im gelehrten Latein, sondern in der eigenen Sprache geführt wurde und damit weitere Bevölkerungsschichten mit einbezog. Diese Selbstreflexion, die innerhalb der Gemeinschaft stattfand und lange auch christlich konnotiert blieb, charakterisiert das Zeitalter der Aufklärung und gilt als Hinwendung und Wandlung des Subjektes auf ein bewusstes und in der eigenen Verantwortung stehendes Selbst.16
Für eine aufgeklärte Reformtheologie prägend waren die Gedanken von Johann Joachim Spalding. In dessen Werk über die Betrachtung der Bestimmung des Menschen fand in präzis gehaltener deutscher Sprache die Suche nach der menschlichen Glückseligkeit im Einklang zwischen rechtschaffener Vernunft und innerer moralischer Empfindung statt. Die glückselige Bestimmung des Menschen beinhaltet in Spaldings Werk implizit auch das Zusammenspiel zwischen dem gegenwärtigen Leben als einem »Vorbereitungszustand« auf das künftige Jenseits und steht als ein Ganzes in Verbindung zwischen natürlicher und geoffenbarter Religion.17
In seinem Beitrag vom Dezember 1783 in der Berlinischen Monatsschrift zur Frage, ob es ratsam sei, »das Ehebündniß nicht ferner durch die Religion zu sanciren 18 «, stellte der Berliner Prediger Johann Friedrich Zöllner am Ende seiner Ausführungen in einer Anmerkung die Frage: »Was ist Aufklärung?« und hielt gleich fest, dass diese Frage beinahe so wichtig sei wie jene nach der Wahrheit. Da er jedoch noch keine Antwort auf diese Frage gefunden habe, sollte diese »wol beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfinge«.19
1783 hatte die geheime Gesellschaft der Freunde der Aufklärung (Berliner Mittwochsgesellschaft), der Zöllner angehörte, dem in Berlin tätigen Philosophen Moses Mendelssohn die Mitgliedschaft angeboten, die Mendelssohn ablehnte, daraufhin jedoch zum Ehrenmitglied dieser auf 24 Männer begrenzten Vereinigung 20 ernannt wurde und sich bald auch selbst zur Frage: »was heißt aufklären?« explizit öffentlich äußerte. Im September 1784 antwortete Mendelssohn auf die von Zöllner ein Jahr zuvor gestellte Frage, was Auf-
einleitung
3 — Anton Graff; Moses Mendelssohn, 1771.
klärung implizit bedeute. Zu Beginn seiner Ausführungen in der Berlinischen Monatsschrift hält er fest, dass die Worte Aufklärung, Kultur und Bildung in der deutschen Sprache neu und vorerst noch der Büchersprache vorbehalten seien. In seiner Abhandlung »Ueber die Frage: was heißt aufklären?« definiert Mendelssohn eingangs die drei von ihm angeführten Termini. Bildung stehe dabei als Oberbegriff der beiden sich dialektisch bedingenden Bereiche Kultur und Aufklärung, wobei für Mendelssohn Kultur den praktischen Teil von Bildung ausmacht, Aufklärung demgegenüber den theoretischen Bereich abdecke. Die für die Bildung notwendige Sprache werde im Bereich der Aufklärung durch die Wissenschaften erlangt und erweitere sich damit zu theoretischen
4 — Johann Gottlieb Becker; Immanuel Kant, 1768.
Formulierungen; die Sprache der Kultur gewinne man durch den praktischen Gebrauch im gesellschaftlichen Umgang wie auch über die Poesie und die Beredsamkeit. Eine eigentliche Bestimmung des Menschen sieht Mendelssohn in seiner Abhandlung gegeben durch eine Unterscheidung der »Bestimmung des Menschen als Mensch« und durch die »Bestimmung des Menschen als Bürger«. Bei der Bestimmung als Mensch zählen nach Mendelssohns Ausführungen Standesunterschiede nicht; bei jener als Bürger werde jedoch durch Stand und Beruf differenziert. Der Mensch bedürfe als solcher keiner Kultur; er benötige jedoch der Aufklärung. Deren Missbrauch könne jedoch zu einer Schwächung des moralischen Gefühls, zu Egoismus, Irreligion, »Hartsinn« und Anarchie
führen; Kultur falsch angewendet erzeuge Üppigkeit, »Gleißnerei«, »Weichlichkeit«, Aberglauben und ermögliche auch die Sklaverei.21
Drei Monate später, im Dezember 1784, mischte sich Immanuel Kant mit seiner Antwort auf die Frage, was Aufklärung bedeute, ebenfalls in der Berlinischen Monatsschrift in diese Diskussion öffentlich mit den bekannten und oft zitierten Worten ein: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«. Der in Königsberg als Professor für Logik und Metaphysik tätige Kant rief in seiner Antwortschrift »Was ist Aufklärung?« mit dem Horaz-Zitat »Sapere aude!« den Menschen dazu auf, sich mutig seines eigenen Verstandes zu bedienen, lässt jedoch das von Horaz beigefügte »incipe!« weg und damit die Bedingung, dies nun gleich zu tun.22 Wie Mendelssohn es in seinen von Kant noch nicht eingesehenen Ausführungen getan hatte,23 so unterscheidet auch der Königsberger Philosoph zwischen theoretischer Vernunft (»öffentlichem Gebrauch«) und praktischer Anwendung. Der öffentliche Gebrauch der Vernunft, »den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt« mache, sollte »jederzeit frei sein« und bringe dem Menschen die Aufklärung. Der »Privatgebrauch«, den jemand »in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft« mache, müsse jedoch »öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern«. Nach Kant lebe man 1784 noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, jedoch »wohl in einem Zeitalter der Aufklärung« und dürfe daher als Mensch so viel »räsonnieren«, wie man wolle und worüber man wolle, doch müsse man als Bürger weiterhin gehorchen.24
Johann Caspar Lavater hatte Immanuel Kants Werke bereits in jungen Jahren gelesen 25 und sie auch seinen Freunden als Lektüre empfohlen.26 Zehn Jahre vor Kants Diktum zur Aufklärung richtete er 1774 sein Wort nun direkt an ihn, seinen »Lieblingsschriftsteller Kant«, und fragt ihn in seinem ersten Schreiben an, warum er in »dieser neüen Zeit« des Umbruchs denn schweige, obschon gerade er doch reden sollte.27 Lavater schätzte Kants Metaphysik und dessen Art und Methode zu denken und wollte von ihm erfahren, ob er in
seiner geplanten und von ihm ersehnten »Kritik der reinen Vernunft« 28 den Fokus seiner Beobachtungen auf den Menschen richte, denn man irre sich, wenn man außer sich suche, was allein im Menschen sei.29 Lavater erhoffte sich, dass Kant – »epochenmachend« – seine Gedanken zur reinen Vernunft bald niederschreiben werde, denn Kant sei der Mann dazu. Dessen bis dahin verfasste und von Lavater gelesene Schriften zeugten für ihn von Einsicht, Gelehrsamkeit und Geschmack und zeigten »jenes Menschliche, das unzähligen Schriftstellern« fehle und das »die heütige Kritik« kaum mehr in Betracht ziehe. Das »Licht auf einen Punkt gerichtet« entflamme jedoch jenes »Arcanum«, das nur wenige Schriftsteller besäßen.30
Als Schüler von Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger wurde Lavater im Geiste der bis dahin nicht näher definierten, jedoch in zahlreichen Schriften proklamierten und in großen Teilen der gelehrten Bevölkerung arrivierten Aufklärung in einem engen Freundeskreis am Collegium Carolinum in Zürich primär in Philosophie, Philologie und Theologie geschult. Der Philosoph, Pädagoge und Ästhetiker Johann Georg Sulzer führte ihn nach dem vom republikanischen Geist der Aufklärung geprägten sogenannten »Grebelhandel« 31 1763 auf ihrer gemeinsamen Reise durch Deutschland in die Gelehrtenwelt ein; während seines neunmonatigen Aufenthaltes in Barth in Schwedisch-Pommern wurde er vom aufgeklärten Reformtheologen Johann Joachim Spalding mit der europäischen Literatur und deren Gedankengut vertraut gemacht,32 das er nach seiner Rückkehr in eigener Manier in ersten Schriften umsetzte.33 In Kants explizit auf das »Menschliche« hin formulierten vernunftorientierten Schriften hatte der Zürcher Theologe und Philosoph bereits früh dessen fokussiertes Denken auf den einen »Epochemachenden Entscheidungspunkt« hin erkannt und auch bemerkt, dass sich Kant von andern Schriftstellern abhob, welche – nach Lavaters Einschätzung – zumeist aus einem vermeintlichen »Stillungsmittel des Autorbedürfnißes« heraus ihre Werke publizierten.34 Gut zehn Jahre später wird der Zürcher Theologe dem Mediziner und Schriftsteller Heinrich Matthias Marcard bezüglich Vernunft und Empfindsamkeit nach Hannover schreiben: »Sie können nicht glauben,
welch einen tiefen Eindruck kalte Vernunft auf mich macht – wie unendlich ich sie aller volatilen Empfindsamkeit vorziehe.« 35
Bereits in jungen Jahren hatte sich Lavater bei seinem Freund und Mentor Johann Georg Zimmermann beklagt, dass es im aufgeklärten Zürich in der sogenannten »Lichtzeit« um Philosophie, Gelehrsamkeit und um die Naturwissenschaften schlecht stehe,36 wie auch um die Theologie, die »Sprachkunde« und die bildenden Künste, denn die Zürcher seien wie die Deutschen in ihrem Denken immer noch Sklaven, »nur mit dem Unterscheide, dass wir es seyn wollen, und sie es seyn müssen«.37 Zimmermann hatte mit dem Lamento, dass man »in einer lichtscheüen, warheitscheüen Hundszeit« 38 lebe, begonnen, was Lavater mit den Worten bekräftigte, dass es doch unerhört sei, »wie abscheülich alles verhunzet, und die Welt mit vaden Nichtswürdigkeiten überschwemmt« 39 werde. Auch Johann Gottfried Herder gegenüber äußerte er sich entsprechend bezüglich seiner Heimatstadt, wo 1774 außer seinen Freunden Johann Conrad Pfenninger, Johann Jacob Hess und ihm selbst noch keine Seele das eigentliche Potenzial eines Schriftstellers wie Herder erkannt hätte.40 Daher sei es denn auch schade um die »Lichtzeit, die so wahr ich lebe, so finster – ist, dass man sie greifen« könne.41
Im Vertrauen auf Lavaters »menschenfreundliche Denkungsart« bat Moses Mendelssohn Lavater 1775 als nachhaltigen Freund und nun als Bürger eines restriktiven und Juden gegenüber abweisenden Stadtstaats Zürich, sich um seine Glaubensbrüder zu bemühen, da die Zürcher Obrigkeit trotz vorgezeigtem aufgeklärtem Geist beschlossen hatte, die jüdische Gemeinschaft noch stärker einzuschränken und ihnen nun gar das »fortpflanzen und Vermehren, das erste Gebot des Schöpfers an die Menschen«, zu verbieten.42 Johann Wolfgang Goethe ärgerte sich wenige Jahre später über die »dikhirnschaaligen Wissenschaftsgenossen« von Lavater in der Limmatstadt, welche »in der Schellenkappe ihres Eigendünkels sich ein wechselseitiges Concert vorrasseln«, in einem Klima, wo unter dem »republikanischen Druk in der Atmosphäre durchschmauchter Wochenschriften und gelehrten Zeitungen« jeder »vernünftige Mensch auf der Stelle toll« würde.43
5 — Johann Caspar Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, Titelkupfer, Bd. 1, 1768.
6 — Johann Caspar Lavater, Geheimes Tagebuch, Titelkupfer, 1771.
In diesem Klima wissenschaftlichen Aufbruchs und republikanisch verankerter rigider orthodoxer Tradition verfasste Lavater in seinem Drang nach Wissen erste literarische und physikotheologische Schriften und machte sich bald schon mit seiner zunehmend Christus-zentrierten Theologie in der Gelehrtenwelt des 18. Jahrhunderts über die Grenzen von Zürich hinaus einen Namen. Von 1768 bis 1778 erschien sein vierbändiges Werk Aussichten in die Ewigkeit in fünfundzwanzig fiktiven Briefen an den bekannten Arzt und Freund Johann Georg Zimmermann. Erste Versuche zu seinem utopischen Blick ins Jenseits hatte Lavater bereits in Versen 1766 in der Moralischen Wochenschrift Der Erinnerer platziert.44 Das Werk Aussichten in die Ewigkeit richtete er nun aber nicht mehr an die Bevölkerung von Zürich; es war der »verehrungswürdigen Schaar großer Männer« in Europa gewidmet und damit den »Depositairs des gesunden Verstandes, des guten Geschmakes, der wahren Weltweisheit, und der apostolischen Gottesgelehrsamkeit«.45 Mit dieser Publikation wurde Lavater schlagartig in der europäischen Gelehrtenwelt bekannt.
7 – Johann Caspar Lavater, Unveränderte Fragmente, Titelkupfer, 1773.
Auf den Januar 1769 datiert, erschien 1771 in einer Auflage von tausend Exemplaren als teure Editio princeps das Geheime Tagebuch. Von einem Beobachter Seiner Selbst.46 Das Manuskript dieses fiktiv gehaltenen Tagebuchs gelangte über einen Freund nach Leipzig, wo es bei Weidmanns Erben und Reich – angeblich ohne die Zustimmung des Autors – von einem Freund publiziert wurde.47 Damit umging Lavater die strenge Zürcher Zensur und täuschte in der Anonymität des gedruckten Textes lange auch vor, nicht der Verfasser dieses Werks zu sein,48 in welchem er den moralisch verpflichteten sündhaften Menschen mit dem selbstbewussten, entwicklungsfähigen verbindet, der in seinem Handeln ein »freyes«, »selbstthätiges«, mit »empfindenden, denkenden, moralischen und physischen Kräften« ausgestattetes Wesen sei, wie Lavater dies im gleichen Jahr im zwölften Brief seiner Aussichten in die Ewigkeit im Februar 1769 formulierte.49
Die »Fortsetzung des Tagebuches« 50 erschien gedruckt 1773 als Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst gleich-
zeitig in Leipzig bei Philipp Erasmus Reich wie in Bern im Verlag Emanuel Haller.51 Herausgeber war erneut der in Leipzig tätige Theologe Georg Joachim Zollikofer. Wie bei dem vom Lesepublikum viel beachteten Geheimen Tagebuch, so steht auch in den Unveränderten Fragmenten Sterben und Tod eines geliebten Menschen im Zentrum. In seinem ersten, dem Geheimen Tagebuch hatte sich Lavater literarisch im Januar 1769 noch fast vollständig auf die genaue Beobachtung der innersten Regungen seiner eigenen Seele anlässlich der zentralen Erfahrung des Verlustes seines engsten Freundes Johann Felix Hess konzentriert. Er umfasste mit diesem Werk exemplarisch die Literarisierung und Individualisierung der Gesellschaft im Europa des 18. Jahrhunderts 52 und damit auch die zentrale Frage nach der Bestimmung des Menschen und dessen Glückseligkeit.
Die Unveränderten Fragmente oder – wie Lavater sie im Innentitel nach den einleitenden Schreiben an und vom Herausgeber bezeichnete – die Unausgesuchten Fragmente aus meinem Tagebuche halten sich nun an ein genaues Tagesgeschehen und beginnen mit dem Eintrag des Empfangs von Johann Gottfried Herders erstem, seit langem von Lavater erwartetem Brief. Neben täglich stattfindenden Ereignissen beschreibt Lavater als Autor im ersten Teil der Unveränderten Fragmente analytisch und ohne seine Gefühle im Text explizit auszudrücken das Sterben und den Tod seiner Mutter, fokussiert sich jedoch in diesem Werk über seine darin publizierten Briefe auf seine Stellung innerhalb der theologischen Aufklärungsbewegung. Obschon er beim Briefeschreiben die Welt vergesse, ziele er »auf den Verstand und das Herz dessen«, an den er schreibe, und denke dabei nicht an ein Publikum.53 In den Unveränderten Fragmenten zeigt sich über die darin abgedruckten Briefe und Brieffragmente sein Widerstreben gegen das »emporbrausende Christusleere Christenthum auf der einen, und die vernunftlose Schwärmerey« 54 auf der andern Seite. Dieses Werk zeugt als Ganzes von Lavaters individuellem Bemühen um eine Positionierung zwischen unmündigem Pietismus und rationaler Aufklärung. Der junge Zürcher Theologe stellt sich damit einerseits mit seiner eigenen Suche nach einem personalen Gott bewusst gegen das vom Pietismus geprägte Bild des sündhaf-
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ten, in sich gefangenen und auf die jenseitige Glückseligkeit ausgerichteten Menschen und wehrt sich mit seiner Christologie auf der andern Seite vehement gegen die in Deutschland über Deismus und Neologie immer populärer werdende »kalte Vernünfteley so mancher Lichtköpfe« 55 . 56
8 — Johann Caspar Lavater, Von der Physiognomik, Titelkupfer, 1772.
Weiterhin auch an naturwissenschaftlichen Themen interessiert, hielt Lavater Ende 1770 – »da die Reihe mich traf« 57 – vor der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich den Vortrag »Von der Physiognomik«. Das Manuskript gelangte in die Hände des in Hannover tätigen Arztes Johann Georg Zimmermann, der es anonym 1771 mit Anmerkungen versehen im Hannoveranischen Magazin und ein Jahr später bei Philipp Erasmus Reich in Leipzig drucken ließ. Ein zweiter Vortrag Lavaters folgte im Mai 1771. Dieses »Skelet zu einem Entwurf einer Physiognomik« 58 gab Lavater nun jedoch gleich selbst als »Zweyte Vorlesung« mit einer Einleitung zum Plan der »Physiognomik« 1772 in Leipzig in Druck und sah sich so »auf einmal als Vertheidiger der Physiognomik in die offne Welt gestellt«.59
Von 1775 bis 1778 erschienen in vier prächtigen Folianten auf Deutsch in Leipzig und Winterthur Lavaters Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Der Erstauflage folgten bis weit über Lavaters Tod 1801 hinaus überarbeitete Neuauflagen wie Übersetzungen in Deutschland, Frankreich, England und Italien sowie in Amerika und Russland.60 Mit Gen 1,27 (»Gott schuf den Menschen sich zum Bilde«) geht der Zürcher Theologe und Philosoph in den Physiognomischen Fragmenten als ein der Aufklärung verpflichteter Philanthrop von der immanenten Göttlichkeit des Menschen aus und prägte in diesem in enger Zusammenarbeit mit Johann
9 — Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. 1, Titelkupfer, 1775.
Wolfgang Goethe entstandenen Werk 61 den anthropologischen Geniediskurs des Sturm und Drang sprachlich und stilistisch. Zwischen Rationalismus und Empfindsamkeit stehend, generiert Lavater mit seiner Physiognomik im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts ein diesseitig orientiertes christliches Weltbild, das den von Gott geschaffenen, in der Natur verankerten Menschen als Individuum ins Zentrum des wissenschaftlichen Diskurses rückt.62
Zwischen 1767 und 1786 publizierte Lavater unter stetem Druck zahlreiche weitere Werke, so seine Drey Fragen von den Gaben des heiligen Geistes, die er im Oktober 1769 exegetisch von »allen Freunden der Wahrheit« beantwortet haben wollte,63 wie er im gleichen Jahr auch mit seiner Übersetzung von Charles Bonnets Palingénésie eine Zueignungsschrift der Bonnetischen philo
sophischen Untersuchung der Beweise für das Christenthum an Herrn Moses Mendelssohn 64 richtete, auf welche im folgenden Jahr eine gedruckte Korrespondenz mit dem Berliner Philosophen folgte. 65 Neben Oden und Liedern erschienen Einige Briefe über das Basedowsche Elemenarwerk 66 (1771), ein Christliches Handbüchlein für Kinder 67 (1771) wie darin Gebether und Lieder für Kinder 68 (1771), erste Biblische Erzählungen für die Jugend 69 (1772) und Lieder zum Gebrauche des Waysenhauses zu Zürich 70 (1772), wo Lavater als Diakon seit 1769 in einer festen Anstellung wirkte. Ein Taschenbüchlein für Dienstboten 71 (1772) findet sich ebenfalls darunter,72 wie auch die gedruckten Predigten Ueber das Buch Jonas 73 (1773) und als Sammelwerk 1774 ein erster und 1781 ein zweiter Band Vermischte Schriften 74. 1776 publizierte Lavater als einziges Drama seinen Abraham und Isaak 75 , dem auch Goethe seinen »Würzruch drein« dampfte 76. 1777 erschienen die verschiedenen Schriften zu dem 1776 vergifteten Nachtmahlwein im Großmünster in Zürich 77 und ein Jahr darauf seine Abschiedspredigt vom Waisenhaus,78 wie seine AntritsPredigt zum Diakonate bei der Kirche zu St. Peter 79, wo Lavater bis 1786 als Diakon, danach bis zu seinem Tod als Pfarrer wirken wird. 1780 stand im Zentrum seiner Publikationen die Verurteilung zum Tod von Heinrich Waser.80 Es folgten Lavaters Poesieen 81 (1781) und ab 1782 bis 1785 bzw. 1786 in je vier Bänden dessen Pontius Pilatus. Oder die Bibel im Kleinen und Der Mensch im Großen 82 wie sein Jésus Messías 83. 1784 erschienen in zwei Bänden Sämtliche kleinere Prosaische Schriften vom Jahr 1763–1783 84 und 1786 seine viel beachtete Rechenschaft an Seine Freunde 85 sowie der Nathanaél. Oder, die eben so gewisse, als unerweisliche Göttlichkeit des Christenthums 86 . Dazwischen finden sich in den über vierhundert gedruckten Werken zahlreiche weitere theologische, philosophische, apologetische, erbauliche, lyrische, aphoristische und pädagogische Werke und Schriften,87 welche die vorgegebenen Disziplinen und Grenzen oft sprengen und sich auch den üblichen Kategorisierungen in ihrer Vielfalt und Originalität häufig entziehen. Als Autographen liegen neben den über 25 000 Einzelbriefen von und an Lavater 88 zusammengestellte Briefsammlungen und Zirkulare vor, Tagebücher und Reiseberichte,