ELISA MONACO studierte Geschichte, Deutsche Philologie und
Alte Geschichte in Basel. Sie war als wissenschaftliche Mitarbei-
terin am Landesmuseum Zürich tätig und forschte am Histori-
schen Seminar der Universität Zürich zum Gedächtnis bei Dante
Alighieri. Nach einem Forschungsaufenthalt in Florenz wurde sie
2020 in Zürich promoviert.
www.schwabe.ch
ELISA MONACO
Mit dem Aufkommen der christlichen Redekunst und den Überlegungen zum Wesen des Menschen tun sich neue Blickpunkte auf das Gedächtnis auf, die der Dichter Dante Alighieri auf beispiellose Weise in seinem Werk verarbeitet. Elisa Monaco rekonstruiert in ihrem Buch die philosophischen sowie anthropologischen, aber auch literaturtheoretischen Dimensionen des Gedächtnisses bei Dante. Sie analysiert die Idee des Gedächtnisses als Buch, die als Brennpunkt für das neue Selbstverständnis des Dichter-Autors dient, und untersucht die ambivalente Deutung des Ruhmes und die Idee vom Gedächtnis als Raum in Dantes Texten. Ebenso geht ihr Buch der Frage nach, wo Dante Gedächtnis und Erinnerung innerhalb des ‹ Seelenkörpers › verortet. Damit zusammenhängend beschreibt sie Dantes Vorstellung des Erinnerungswegs, die im körperlichen Gedächtnis und in der liturgischen Performanz Ausdruck findet.
DANTE und das Gedächtnis
DANTE UND DAS GEDÄCHTNIS DANTE und das Gedächtnis
ELISA MONACO
DANTE und das Gedächtnis
Eine interdisziplinäre Studie
Elisa Monaco
Dante und das Gedächtnis Eine interdisziplinäre Studie
Schwabe Verlag
Publiziert mit Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Diese Doktorarbeit wurde durch ein Mobilitätsstipendium des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) unterstützt.
Erschienen 2021 im Schwabe Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel, Schweiz Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International (CC BY-NC-ND 4.0) Abbildung Umschlag: Brunetto Latini, Li Livres dou Tresor, Bibliothèque nationale de France, BNF, Ms. Français 12581, fol. 139v, Photo: BNF. Cover: icona basel gmbh, Basel Layout: icona basel gmbh, Basel Satz: 3w+p, Rimpar Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN Printausgabe 978-3-7965-4427-9 ISBN eBook (PDF) 978-3-7965-4428-6 DOI 10.24894/978-3-7965-4428-6 Das eBook ist seitenidentisch mit der gedruckten Ausgabe und erlaubt Volltextsuche. Zudem sind Inhaltsverzeichnis und Überschriften verlinkt. rights@schwabeverlag.de www.schwabeverlag.de
Inhalt
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
1. Vorbemerkungen zur Terminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
1.1
Perspektiven in der Erforschung von Gedächtnisvorstellungen . .
16
1.2
Wie Gedächtnis und Erinnerung in Dantes Texten zu untersuchen sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
23
1.3
Gedächtnisbegriffe in der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
1.4
Dantes Wortwahl: Ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
32
2. Erfahrungsräume und Denkhorizonte in der Dantezeit . . . . . . . . .
43
2.1
Dantes Bildungsweg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
2.2
Mündliche, visuelle und zeremonielle Formen des Wissenstransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
3. Das Gedächtnis als Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
3.1
Autorität, Autorschaft und Verfassertätigkeit in der Zeit Dantes .
81
3.2
Der Dichter als Sprachrohr Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
3.3
Erzähltes Erinnern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
3.4
Der schreibende Dichter der Commedia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
3.5
Ein Buch für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.1 Der Adressat des Gedächtnisbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.2 Vom «falschen» und «richtigen» Lesen . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.3 Der Autor des Gedächtnisbuches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.5.4 Das Gedächtnisbuch als Kopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
127 129 133 137 144
6
Inhalt
4. Die zwei Gesichter des Ruhmes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
4.1
Gottesvergessenheit und Namenstilgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
4.2
Ehre und Schande im irdischen Gericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167
4.3
Vana gloria . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185
4.4
Der Ruhm des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
5. Das Gedächtnis als Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
5.1
Ordnung und Logik: Dantes Rezeption der Ars memoriae . . . . . . 220
5.2
Die Bilder der Gedächtnishalle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236
5.3
Das göttliche Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
6. Der Weg der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
6.1
Die göttliche Spur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.1 Gott im Gedächtnis erkennen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Erinnerung als Suche nach Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Beatrices Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
6.2
Den Weg verkürzen: Gebet und Gedenken im Fegefeuer . . . . . . . 292 6.2.1 Die Fürbitte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 6.2.2 Das körperliche Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 304
6.3
Paradiso: Durch Lethe zu den Engeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
256 256 259 278
Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333
Edierte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Werk und Leben Dante Alighieris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Andere Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349
Einleitung
Die Ideen und Vermutungen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, sind aus meiner Beschäftigung mit Dantes Menschenbild entsprungen. Ein wichtiger Teil jener Vorstellung, so wurde mir bald klar, nimmt das Gedächtnis ein. Gleichzeitig musste ich einsehen, dass eine Untersuchung des Gedächtnisses bei Dante ein grösseres Unterfangen darstellen würde. Die Herausforderungen, die sich schliesslich dabei ergeben haben, sind in der Heterogenität des Gegenstands begründet: Das Gedächtnis kann einerseits als ein individuelles Seelenvermögen verstanden werden, andererseits bezeichnet es auch ein kommunales Gedenken. Abgesteckt auf einem Spektrum der Deutungsmöglichkeiten, die sich von einer philosophie- und theologiegeschichtlichen bis hin zu einer sozialgeschichtlichen Perspektive erstrecken, umfasst die Gedächtnisvorstellung bei Dante verschiedene zu seiner Zeit bekannte Ideen – wie das Gedächtnis als Buch oder das Gedächtnis als Raum –, aber auch neue Vorstellungen, die sich aus den neuen Bearbeitungen der Thematik in der Theologie speisen. Auch wenn immer wieder am Rande erwähnt wird, dass das Gedächtnis von grosser Bedeutung für Dante gewesen sein muss,1 so liegt bis heute lediglich eine Monografie zu dieser Thematik vor.2 Diese Arbeit von Luigi de Poli aus dem Jahr 1999 liefert allerdings aufgrund eines unzureichenden Quellenstudiums und der Heranziehung von veralteter Forschungsliteratur unbefriedigende Ergebnisse.3 Die Forschung hat sich demnach bisher kaum mit der Wie bereits bei De Robertis, Domenico: Il Libro della «Vita Nuova», seconda edizione accrisciuta, Firenze 1970, S. 170. 2 Gemeint ist hier De Poli, Luigi: La structure mnémonique de la Divine Comédie. L’ars memorativa et le nombre cinq dans la composition du poème de Dante, Bern 1999. 3 In De Polis Arbeit bleiben die wichtigen Studien zum Gedächtnis bei Dante von Karl August Ott (1987), Harald Weinrich (1994) und Maria Corti (1993) unberücksich-
1
8
Einleitung
Gedächtnisthematik bei Dante jenseits der antiken Gedächtniskunst befasst.4 Insbesondere hat die Vita Nova in Bezug auf das Gedächtnis noch nicht die Aufmerksamkeit erhalten, die sie verdient. Daneben weisen einige der Forschungsarbeiten zum Gedächtnis bei Dante durch ihre einseitige Methodik Irrtümer auf, die es zu bereinigen gilt. Neben der bereits erwähnten Arbeit von De Poli sei hier auch auf die Untersuchung der damnatio memoriae von Harald Weinrich verwiesen, der die unterschiedlichen Deutungsebenen im Text vernachlässigt und dadurch eine problematische Interpretation der Verdammten im Inferno liefert, wie unter anderem im Kapitel zum Ruhm zu zeigen sein wird. Während der Fokus der Forschung auf Dantes Anwendung der antiken Gedächtniskunst insbesondere im Inferno lag, liefere ich in meiner Arbeit ein umfassendes Bild davon, wie Dante Gedächtnis und Erinnern verstanden hat. Somit beinhaltet meine Perspektive sowohl das gemeinschaftliche Erinnern, das sich im Ruhm und in der Liturgie zeigt, als auch das Gedächtnis des Einzelnen,5 das sich im schreibenden Erinnern und im Gedächtnistraining ausdrückt. Allerdings liegt jeweils nicht das Phänomen selbst, sondern die Vorstellung davon im Zentrum meines Interesses. Mir geht es also darum, im Spezifischen Dantes Idee des Ruhmes oder Dantes Vorstellung vom schreibenden Erinnern darzulegen. Wie diese Themen in seinem Umfeld beschrieben und bewertet wurden und welche Vorbilder für seine Ideen anzutigt. Zudem fehlt bei dieser Arbeit eine Reflexion darüber, in welcher Form die Schriften zum Gedächtnis für Dante zugänglich waren. In der Annahme, Dante habe die Gedächtnistraktate entweder in Bologna oder in Florenz bei den Dominikanern zu Gesicht bekommen, stützt sich De Poli auf Renucci, Paul: Dante disciple et juge du monde grécolatin, Paris 1954. Zur Kritik an De Poli siehe auch Klinkert, Thomas: «Das Schmerzgedächtnis in der Commedia», in: Bannasch, Bettina/Butzer, Günter (Hg.): Übung und Affekt. Formen des Körpergedächtnisses, Berlin 2007, S. 71–98, hier S. 76, Fussnote 6. 4 Am Leeds International Medieval Congress 2019 in Grossbritannien wurden im Rahmen der Dante-Sektion am 4. Juli 2018 auch Beiträge zum Gedächtnis bei Dante präsentiert; Es ist noch abzuwarten, ob die Vorträge in umfangreicheren Forschungsarbeiten münden. Am Leeds Centre for Dante Studies wird im Moment keine Forschung zum Gedächtnis bei Dante durchgeführt. 5 Im Sinne einer besseren Lesbarkeit verwende ich in dieser Arbeit jeweils nur die grammatikalisch männliche Form. Jenseits der Grammatik möchte ich die infrage stehenden Formulierungen allerdings stets als geschlechtsunspezifisch verstanden wissen.
Einleitung
nehmen sind, habe ich auf die Frage hin, wie sich die Vorstellung bei ihm konkret ausformuliert, berücksichtigt. Bei der Gliederung meiner Arbeit habe ich mich an den verschiedenen Gedächtnisideen orientiert, die einen bedeutenden Platz in Dantes Werk einnehmen. In der Commedia drücken sich diese Ideen in den unterschiedlichen Funktionen aus, die dem Gedächtnis in den drei Jenseitsreichen zugeschrieben werden. Wenngleich ich mich in meiner Argumentation nicht allzu stark auf die Chronologie gestützt habe, versucht meine Kapitelgliederung in gewisser Weise eine chronologische Entwicklung in Dantes Gedächtnisvorstellung nachzuzeichnen. So ging es am Ende auch darum, Aussagen darüber machen zu können, wie sich Dantes Gedächtnisvorstellung zwischen der Niederschrift seines Jugendwerks der Vita Nova und der Vollendung der Commedia kurz vor seinem Tod verändert hat. Die ersten beiden Kapitel liefern einige grundlegende Überlegungen, die zur Beantwortung der darauffolgenden Fragen dienen sollen. In den «Vorbemerkungen zur Terminologie» biete ich einerseits einen kurzen Überblick zu den Forschungsarbeiten, die sich mit dem Gedächtnis aus historischer Perspektive auseinandergesetzt haben. Darauf folgt eine erste Einführung in die von Dante verwendeten Gedächtnisbegriffe, wobei ich diese in den Kontext der bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem Thema setze. Ebenso kläre ich hier die Probleme, die sich bei einer Auseinandersetzung mit der historischen Gedächtnisterminologie ergeben, und lege darauf basierend fest, welche Begriffe ich selbst bei meiner Untersuchung anwende. Das Kapitel «Erfahrungsräume und Denkhorizonte in der Dantezeit» befasst sich mit Dantes Bildungsmöglichkeiten und den Formen der Wissensvermittlung zu seiner Zeit. Hier gehe ich der Frage nach, in welchem Kontext die Entstehung seiner Gedächtnisvorstellung zu betrachten ist, welche Werke er gekannt hat und welche weiteren Möglichkeiten sich ihm boten, um die antiken Texte und die Werke der Theologie zu studieren. Den ersten Teil der Gedächtnisvorstellung Dantes behandle ich im Kapitel «Das Gedächtnis als Buch». Hier geht es nicht nur um die Idee des Gedächtnisbuches und das Schreiben als Akt des Erinnerns, sondern damit zusammenhängend um das Bild des Autors. Hier erarbeite ich die Vorstellung eines schreibenden Dichters, der sich als Sprachrohr Gottes sieht und sich selbst dadurch neue Autorität verschafft, und die Rolle, die das Gedächtnis hierbei spielt. In diesem Kapitel werden zudem die wesentlichen erzähltech-
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Einleitung
nischen Termini evaluiert und die für eine Arbeit mit Dantes Texten geeigneten festgelegt. In «Die zwei Gesichter des Ruhmes» untersuche ich Dantes Beschäftigung mit dem Ruhm. Da dieser in zwei Formen existiert – der gloria und der fama –, werden hier die negativen und positiven Aspekte desselben beleuchtet. Zudem werden hier auch die Fragen nach dem Ruhm des Dichters und danach, wie sich das Vergessen im Inferno ausdrückt, beantwortet. Bei der Untersuchung der strafenden Funktion des Gedächtnisses wird gezeigt, wie wichtig es ist, die Ebene des erzählenden und jene des erzählten Dantes auseinanderzuhalten. Das Kapitel «Das Gedächtnis als Raum» greift die Anweisungen der antiken Gedächtnistraktate auf und beleuchtet, inwiefern Dante diese angewendet und rezipiert hat. Es analysiert im Speziellen die räumliche Vorstellung des Gedächtnisses. Dabei schenke ich den Bildern und deren Ordnung besondere Aufmerksamkeit. Zudem wird hier die Idee des Gottesgedächtnisses untersucht. Das letzte Kapitel ist der Idee des Erinnerungsweges gewidmet. In «Der Weg der Erinnerung» analysiere ich die Kontexte einer neuen Gedächtnisidee, die sich in der Vorstellung der erinnernden Suche als ein Verfolgen einer göttlichen Spur und im körperlich ausgeführten gottesdienstlichen Akt ausdrückt. Besondere Aufmerksamkeit schenke ich hier der im Purgatorio auftretenden Fürbitte sowie der Idee der reinigenden Erinnerung in Purgatorio und Paradiso. Schliesslich wird hier das Vergessen und die Qualität der Erinnerung im Paradiso beleuchtet. Die einzelnen Teile der Commedia und die Vita Nova werden jeweils schwerpunktmässig in einem Kapitel behandelt; so geht es im Kapitel zum Ruhm hauptsächlich um das Inferno und im Kapitel zum Buch in erster Linie um die Vita Nova, während das letzte Kapitel vor allem das Purgatorio und das Paradiso in den Blick nimmt. Es wird aber immer wieder erforderlich sein, auf die anderen Teile zu verweisen, um Unterschiede klarzumachen. Dem Vergessen habe ich kein eigenes Kapitel gewidmet; es wird als komplementäres Phänomen in den jeweiligen Kapiteln verhandelt. Aufgrund der Komplexität der Gedächtnisvorstellung gehe ich das Thema aus jeweils unterschiedlichen Perspektiven an, um ein möglichst vollständiges Bild von Dantes Idee wiedergeben zu können. Die Blickpunkte umfassen dabei sowohl die Bedeutung von antiken und zeitgenössischen sowie
Einleitung
weltlichen und theologischen Schriften für Dantes Werk als auch die soziale Realität, auf die Dante in seinen Texten ununterbrochen Bezug nimmt – sie beurteilend und kritisierend. Im Zentrum meiner Untersuchung stehen die Commedia und die Vita Nova, wobei ich allerdings immer wieder auf andere Werke Dantes referiere, um ein umfängliches Bild des Gegenstands vermitteln zu können. Dabei bezeichne ich mit Inferno, Purgatorio und Paradiso die jeweiligen Werkteile, wohingegen ich jeweils «Hölle» oder «Paradies» schreibe, wenn ich den Jenseitsort meine. Daneben dient mir der Bezug auf andere Schriften, seien es theologische Traktate, dichterische Werke, Konzilsdekrete oder antike Rhetorik-Abhandlungen, dazu, Dantes Vorstellungen kontextuell einzuordnen. Auch Bildquellen nutze ich in diesem Sinne. Mein im Kern geschichtswissenschaftliches Vorgehen ordnet sich zudem bewusst an der Schwelle zu einer anderen Disziplin ein; so war es zum Beispiel in Bezug auf meine erzähltheoretischen Überlegungen zu Dantes Werk meine Absicht, von den Vorzügen der literaturwissenschaftlichen Methodik Gebrauch zu machen. Der Beginn meiner Arbeit mag den Eindruck vermitteln, dass diese hauptsächlich auf der Analyse und dem Vergleich von Begriffen basiere. Dies stimmt zum Teil; ich muss meiner Arbeit daher die Bemerkung voranschicken, dass Dante – ähnlich wie Albert der Grosse – die Begriffe nicht konsequent und einheitlich verwendet hat. So beschreibt fama nicht immer negativ konnotierten Ruhm, sondern dafür kann auch ein Wort wie vanagloria stehen. Der Grund hierfür ist in der Tatsache zu finden, dass Dante seine Wörter in erster Linie in den Dienst des Reimes gestellt hat. Mit diesem Sachverhalt hängt auch die Metaphernproblematik zusammen, auf die ich an verschiedenen Stellen eingehe. Ein stures Verfolgen der wörtlichen Formulierungen ist daher in Dantes Fall sinnlos. Meine Untersuchung der Begriffe beschränkt sich daher auf einen Einbezug in die übergeordnete Argumentation – denn gleichwohl vermögen die von Dante verwendeten Termini eine grobe Tendenz aufzuzeigen. Dieses Vorgehen hat sich für mich als eines für den Gegenstand am besten geeignetes herausgestellt – sowohl für die Untersuchung der Commedia als auch der Vita Nova.
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1. Vorbemerkungen zur Terminologie
Die Auseinandersetzung mit historischen Gedächtnisvorstellungen erfordert eine sorgfältige Analyse und einen vorsichtigen Umgang mit den Begriffen, die zur Beschreibung des Phänomens genutzt werden, sowie deren Inhalten. Ein Wort, oder im weiteren Sinne ein Text, funktioniert als Kommunikation nie nur in eine Richtung: Genauso wie ich als Autorin genaue Vorstellungen davon habe, wie ein Begriff zu verstehen ist, so weckt dieser auch bei meinem Leser spezifische Assoziationen. Natürlich gibt es eine Schnittmenge, da sonst Sprache als Kommunikationsmittel nicht funktionieren kann – aber die Variationen tendieren in jedem Austausch dazu, Missverständnisse hervorzubringen. Die Problematik spitzt sich zu, wenn wir es mit vormodernen Texten zu tun haben. Denn gerade die von den mittelalterlichen Autoren angewandte Terminologie ist heute ohne Kontext nur noch schwer nachzuvollziehen, und selbst nach einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit der Herkunft eines Wortes scheint es oft schwierig, dessen tatsächlich intendierte Bedeutung zu eruieren. Es ist also zunächst unbedingt nötig, sich von modernen Erwartungen an die verwendeten Begriffe zu lösen. Beim Wort «Gedächtnis» denken wir heute unweigerlich an die Leistung unseres Gehirns, aber auch an dessen Unzuverlässigkeit oder Anfälligkeit für Manipulation, sowie an Alzheimer und Blackouts. Der Verweis auf das Gedächtnis ist immer begleitet vom Vorwurf der Korruption: Erinnerungen, so wissen wir heute, sind nicht statisch, verändern sich ständig und können sogar in grossem Masse verfälscht sein. Aber der Begriff erinnert auch an elektronische Festplattenspeicher und an Smartphone-Erinnerungsfunktionen, die uns als ein Mahnmal unseres als verkümmernd wahrgenommenen Erinnerungsvermögens erscheinen. Das Gedächtnis ist entweder etwas Technisches oder Teil der Psychologie. Der moderne Mensch sammelt zwar auch Memorabilien und verewigt sich in Fotoalben, aber selbst diese Nostalgie hat nichts mehr mit Sehnsucht nach Gott
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1. Vorbemerkungen zur Terminologie
zu tun. Der Gedanke, dass das Gedächtnis mit unserem Seelenheil zusammenhängen sollte, mag uns heute sehr fernliegen. Und dass gerade dieses unverlässliche Vermögen des Gehirns zu jenem Teil des Menschen gehören soll, der mit der göttlichen Vollkommenheit verbunden ist, ist wohl schwer nachvollziehen. Umso wichtiger scheint es mir deshalb, bei der Auseinandersetzung mit vormodernen Gedächtnisvorstellungen eine klar definierte Terminologie anzuwenden. Dem Versuch, Begriffe eindeutig zu definieren, steht das Bewusstsein über die Wandelbarkeit der Sprache gegenüber. Als Historikerin wird man bei einer begriffsgeschichtlichen Analyse unweigerlich daran erinnert, dass historische Zeugnisse auch in Bezug auf die Sprache einer Momentaufnahme gleichkommen. Das Grundprinzip unserer Kommunikation besteht darin, dass Worte auf etwas verweisen: im einfachen Fall auf einen Gegenstand, im schwierigen Fall auf ein Gefühl oder eine Idee oder eine Vorstellung. Die Semantik ist sowohl diachronen als auch synchronen, also geografischen, Veränderungen unterworfen. Der Bedeutungsinhalt eines Begriffs wird bestimmt durch den jeweiligen kulturellen und situativen Kontext und wird im Gegenzug auch vom Wort selbst mitgeformt. Das heisst aber nicht, dass wir nur jene Ideen zu denken vermögen, für die es auch ein Wort gibt. Beim Umgang mit Dantes Texten muss man sich zudem bewusst sein, dass es nicht nur unterschiedliche Abschriften (und später auch Drucke) des Texts gibt, sondern dass dessen Entstehung selbst auch von einem Arbeitsprozess geprägt war. So liegen die Entstehungszeiträume der einzelnen Teile der Commedia, wenngleich das Werk als eine Einheit gilt, weit auseinander: Zwischen 1306 und 1309 ist Dante mit dem Verfassen des Infernos beschäftigt; zwischen 1308 und 1309 entstehen die ersten Gesänge des Purgatorio, das er bis 1316 fertigstellt. Den letzten Teil, das Paradiso, vollendet Dante erst kurz vor seinem Tod im Jahre 1321.1 Zudem ist die Sprache, in der die Commedia und die Vita Nova geschrieben sind, eine gesprochene Sprache, die sich schriftlich manifestiert hat und uns heute nur noch in dieser Form zugänglich ist. Um nun angesichts der als unzulänglich empfundenen Sprache nicht zu kapitulieren und gleichzeitig die Erfindung neuer Wörter zu vermeiden, Santagata, Marco: Dante. Il romanzo della sua vita, Mailand 2016, S. 213, 218 und 322 f. 1
1. Vorbemerkungen zur Terminologie
müssen die vorhandenen mit teilweise oder völlig neuem Inhalt besetzt werden. Sender und Rezipient – in unserem Fall Autor und Leser – müssen sich demnach darüber einig sein, wie ein bestimmtes Wort zu verstehen ist. Das lässt sich nicht für alle Begriffe im Vorfeld sicherstellen, aber zumindest für die wichtigen. In diesem Kapitel möchte ich daher festlegen, wie ich die Begriffe «Gedächtnis» und «Erinnerung» zu verstehen und benutzen gedenke. Bei der Untersuchung der Gedächtnisidee in Dantes Werken hat man immer wieder das Gefühl, ein neues Wort für das, was er unter «Gedächtnis» oder «Erinnerung» versteht, erfinden zu müssen. Die entsprechenden Begriffe, die uns in seinen Texten am häufigsten begegnen, sind mente oder memoria, aber es gibt auch eine eindrückliche Zahl an Verben, die auf das Gedächtnis verweisen, wie ricordare oder rimembrare aber auch pregare, was auf das Beten als Gedenken verweist. Es tauchen auch umschreibende Formulierungen dafür auf, wie beispielsweise «im Gedächtnis erneuern» (nel pensier rinova la paura)2. Gedächtnis ist für Dante, so scheint es, etwas, das sowohl «sich rückbesinnen», «reflektieren» und «Intellekt» umfasst, aber auch «Seele» als den eigentlichen Sitz des Gedächtnisses. Um eine geeignete Terminologie festlegen zu können, gilt es zunächst, die bisher in der Forschung gebotenen Perspektiven auf die historischen Gedächtnisvorstellungen zu beleuchten. Im Spiegel der in der Forschung bisher verfolgten Interessen und angewandten Methoden möchte ich meine eigene Herangehensweise herauskristallisieren und dabei prüfen, welche von der Forschung erarbeiteten Ansätze für meine Arbeit geeignet sind und welche nicht. Die in der Forschung verfügbaren Arbeitsbegriffe sollen kritisch beleuchtet werden. Im Anschluss möchte ich die Begriffe, die der Beschreibung der Gedächtnisidee bei Dante dienen sollen, festlegen. Zum Schluss wird es das Ziel sein, in einem Überblick die von Dante verwendeten Gedächtnisbegriffe aufzulisten. Das daraus resultierende Inventar soll ebenso als Fundament für die folgenden Kapitel dienen. Inf. I, 6. Wenn nicht anders angemerkt werden folgende Ausgaben zitiert: Dante Alighieri: La Divina Commedia. Commento di Anna Maria Chiavacci Leonardi, Mailand 2011, und Dante Alighieri: Commedia, in deutscher Prosa von Kurt Flasch, Frankfurt am Main 2013. Es wird in der Fussnote jeweils nur der Originaltext zitiert, auf die Nennung der Edition und Seitenzahlangaben wird verzichtet. 2
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1. Vorbemerkungen zur Terminologie
Um die Manifestation einer Idee als Teil des Weltbildes einer Person zu untersuchen, soll der Gegenstand dieser Arbeit stets in seinem historischen Kontext betrachtet werden. Ziel wird es auch sein, zu zeigen, dass Dante das Gedächtnisthema ganz bewusst behandelt hat, obwohl er kein eigenes Traktat dazu geschrieben hat. Einen Hinweis darauf bietet seine Erfindung des Gedächtnisflusses Eunoè oder seine ausgeprägte Anwendung von Gedächtnistermini. Meine Arbeit soll demnach aufzeigen, dass Dantes Werk eine Fülle an Überlegungen über das Gedächtnis aufweist.
1.1 Perspektiven in der Erforschung von Gedächtnisvorstellungen Angestossen von dem Unbehagen, das ein sich anbahnendes Vergessen des Holocaust am Ende des vergangenen Jahrhunderts hervorgebracht hatte, wurde das Gedächtnis schon vor einiger Zeit in der Forschung aufgegriffen: Jan Assmann reagierte mit seinen Überlegungen zum kulturellen Gedächtnis auf frühere Theorien zum kollektiven Gedächtnis wie diejenigen von Maurice Halbwachs oder Pierre Nora.3 Neben der kollektiven Erinnerung bildete die Untersuchung der Gedächtniskunst bzw. des praktischen Nutzen der Erinnerung einen weiteren Trend in der Forschung. Der Vielseitigkeit des Themas entsprechen die zahlreichen Möglichkeiten der Untersuchung und der Perspektiven in der Herangehensweise, wie Lucie Doležalová und Tamás Visi angemerkt haben.4 Die unterschiedlichen Blickpunkte in der Erforschung historischer Gedächtnisvorstellungen reichen von der Betrachtung der Erinnerung als soziales Phänomen, welche in der Forschung unter Memoria firmiert,5 bis hin zur Analyse der Rezeption, welche die aus der Antike überlieferten Ratgeber zum Gedächtnistraining erlebt haben. 3 Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2002; Halbwachs, Maurice: La mémoire collective, Paris 1950; Nora, Pierre: Les Lieux de Mémoire, Paris 1984–1992. 4 Doležalová, Lucie und Visi, Tamás: «Revisiting Memory in the Middle Ages (Introduction)», in: Doležalová, Lucie (Hg.): The Making of Memory in the Middle Ages, Leiden und Boston 2010, S. 1–8, hier S. 1. 5 Oexle, Otto Gerhard: Memoria und Memorialüberlieferung im früheren Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien, Bd. 10 (1976), Heft 1, S. 70–95, hier S. 80.
1.1 Perspektiven in der Erforschung von Gedächtnisvorstellungen
So umfassen die verschiedenen Interessensbereiche der kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorie gemäss Nicolas Pethes die soziologischen, historischen, philosophischen oder künstlerischen Aspekte des Phänomens «Gedächtnis».6 Mit den soziologischen Aspekten und dem Gedächtnis als Gedenken hat sich Jan Assmann befasst. In diesem Sinne haben Assmanns Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis gezeigt, welche Bedeutung das gemeinschaftliche Erinnern in vormodernen Gesellschaften eingenommen hat. Im Gegensatz zum individuellen Gedächtnis ist die «Erinnerungskultur», die Assmann untersucht, «auf die Gruppe bezogen».7 Assmann behandelt sowohl das «kollektive Bindungsgedächtnis», das vor allem der Stiftung politischer Identität dient, als auch die beiden weiter gefassten Termini «kommunikatives Gedächtnis» für das Generationengedächtnis und «kulturelles Gedächtnis» für ein Gedächtnis, das für die «Überlieferung des Sinns» zuständig ist und sich auf «Ereignisse in einer absoluten Vergangenheit» bezieht.8 Patrick Geary hat darauf hingewiesen, dass Assmann, Halbwachs, aber auch Pierre Nora das Gedenken ausschliesslich aus der Sicht der Soziologen betrachtet haben. Was es brauche, so Geary, sei die Sicht des Historikers.9 Dieser Aufgabe hat er sich selbst in seinem Buch Phantoms of Remembrance angenommen. Geary hat auch betont, dass es für eine geschichtswissenschaftliche Untersuchung sinnvoller ist, einzelne Autoren zu untersuchen, als von Gruppenphänomenen auszugehen. Für ihn gibt es zwei Arten der «History of Memory»: Erstens die Geschichte der Historiografie und zweitens die Geschichte der intellektuellen Tradition, innerhalb derer Gedächtnis verstanden und gepflegt wurde.10 Geary behandelt auch das Vergessen, indem er untersucht, wie durch das bewusste Auslassen von Namen dieselben der Vergessenheit überlassen werden. Im Allgemeinen gibt es im Bereich der Entwicklung philosophischer Gedächtnistheorien im Mittelalter, wie Jörn Müller festgestellt hat, nur weni6 Pethes, Nicolas: Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien. Zur Einführung, Hamburg 2008, S. 9. 7 Assmann 2002, S. 30. 8 Assmann, Jan: Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2007, S. 34 und 37– 38; Assmann 2002, S. 50–56. 9 Anlässlich eines Vortrags am 3. 11. 2016 in Zürich. 10 Geary, Patrick: Phantoms of Remembrance. Memory and Oblivion at the End of the First Millenium, Princeton, New Yersey 1994, S. 9.
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1. Vorbemerkungen zur Terminologie
ge «übergreifende problemgeschichtliche Betrachtungen».11 Eine ideengeschichtliche Perspektive auf das Gedächtnis liefert die Arbeit The Art of Memory der britischen Historikerin Frances A. Yates.12 Sie hat die Geschichte jener Techniken, die der Gedächtnisausbildung und dem Gedächtnistraining dienen, basierend auf den darüber zwischen Antike und Renaissance verfassten Texte untersucht.13 Ihr Buch zur Geschichte der Gedächtniskunst kommt damit einer «Theorie des Gedächtnisses» näher, die nicht fragt, «was das Gedächtnis ‹ist›, sondern wie es zu unterschiedlichen Zeiten […] verstanden wurde […]», wie es Pethes in Bezug auf die Kulturwissenschaften formuliert hat.14 Patrick H. Huttons Eintrag Memory im New Dictionary of the History of Ideas zufolge gehen die Informationen zu den vormodernen Gedächtnisvorstellungen nicht über die der antiken Werke der Rhetorik, Platons und Aristoteles’ sowie die Arbeit von Frances A. Yates hinaus.15 Die Britin habe als Erste eine Geschichte der intellektuellen Anwendungen der mnemonischen Techniken geschrieben.16 Tatsächlich hat sich aber schon Helga Hajdu im Jahr 1936 der Thematik angenommen, und zwar in ihrem Buch Das mnemotechnische Schrifttum des Mittelalters. Der überwiegende Teil des oben genannten Lexikonartikels ist der Moderne gewidmet, und auch in Bezug auf Yates’ Werk wird das Mittelalter übergangen, da sie sich in ihrer Arbeit auf die Renaissance fokussiert hat. Mit einem einzigen Satz wird im Artikel das Mittelalter zwar erwähnt, aber lediglich in Bezug auf die Bedeutung der Gedächtniskunst. Was also tatsächlich fehlt, ist eine umfassende Geschichte der Gedächtnisvorstellungen des Mittelalters. Dabei lässt sich an den Überlegungen zum Gedächtnis, die das Mittelalter hervorgebracht hat, eine tiefgreifende Umdeutung und Neubehandlung des Themas beobachten, welche Yates im Detail nachzeichnet. Zudem war
Müller, Jörn: Albertus Magnus über Gedächtnis, Erinnern und Wiedererinnerung, Eine philosophische Lektüre von De memoria et reminiscentia mit Übersetzung, Lectio Albertina 17, Münster 2017, S. 8. 12 Yates, Frances A.: The Art of Memory, London 1966. 13 Assmann 2002, S. 29; Yates 1966, S. 11. 14 Pethes 2008, S. 14–15. 15 Hutton, Patrick H.: «Memory», in: Cline Horowitz, Maryanne (Hg.): The New Dictionary of the History of Ideas, 6 Bde., New York 2005, Bd. 4, S. 1418–1422. 16 Ebd. 11
1.1 Perspektiven in der Erforschung von Gedächtnisvorstellungen
sie die Erste, die über Dantes Inferno als eine Art Gedächtnissystem nachgedacht hat: That Dante’s Inferno could be regarded as a kind of memory system for memorizing Hell and its punishments, with striking images on orders of places, will come as a great shock […] its three parts can be seen as memoria, remembering vices and their punishments in Hell, intelligentia, the use of the present for penitence and acquisition of virtue, and providentia, the looking forward to Heaven.17
Damit hat sie, auch wenn sie Dante nur kurz erwähnt, ein gesteigertes Interesse der Dante-Forscher am Gedächtnisthema ausgelöst. Aber auch jenseits von Dante bleibt ihr Buch das wichtigste Referenzwerk bezüglich der Geschichte der ars memoriae. Sie hat sich darin zahlreicher Texte, die zwischen Antike und Spätmittelalter entstanden sind und sich mit dem Gedächtnisthema befassen, angenommen. Es ging ihr es also nicht nur um die Geschichte der Techniken der ars memoriae, sondern auch um den Wandel, dem diese selbst und ihre Bewertung mit der Zeit unterlagen. Mit ihrer Geschichte der Gedächtniskunst begann sie, wie sie selbst schreibt, ausgehend von einer Auseinandersetzung mit Giordano Brunos De umbris idearum (1582).18 Ziel ihrer Arbeit war es demnach, Bruno in einen historischen Kontext zu setzen, aber gleichzeitig auch einen Überblick über eine spezifische Denktradition zu geben.19 Yates war sich bewusst, dass die Bewertung des Gedächtnisses ab dem 12. Jahrhundert eine tiefgreifende Veränderung durchläuft: Erinnerung wird nun zu einer moralischen und religiösen Pflicht.20 Ein Teil ihrer Arbeit widmet sich daher auch der Überführung des künstlichen Gedächtnisses von der Rhetorik in den Bereich der Ethik durch die Scholastik – ein Paradigmenwechsel, der, so Yates, eine andere Betrachtungsweise verlangt.21 Eine wichtige Veränderung in der Gedächtnisidee vollzog sich allerdings bereits mit Augustinus, der aus christlicher Perspektive eine theologische Dimension des Gedächtnisses beschrieb. Diesen sah Yates in erster Linie als 17 18 19 20 21
Yates 1966, S. 104. Yates 1966, S. 11. Ebd., S. 13. Ebd., S. 12. Ebd., S. 36 und 69.
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