Schuldlos schuldig Schuld ist ein höchst seltsames Konstrukt. Einerseits verdrängen wir Schuld so gut es geht, andererseits benötigen wir Schuld, um die Ordnung in der Gesellschaft zu wahren, und drittens besteht die berechtigte Frage, ob es Schuld überhaupt gibt. von Mag. Christian Sec „Schuld zu haben ist die Regel, das Bewusstsein von Schuld ist jedoch eher die Ausnahme als die Regel“, meint der bekannte österreichische Psychotherapeut Raphael Bonelli in einem Vortrag bereits vor einigen Jahren. Gerade in heimischen Politikerkreisen kann man diese Regel mit der Prognosesicherheit eines Sonnenaufgangs am nächsten Tag beobachten. In diesen Kreisen herrscht das Prinzip Zurückweisung von Beschuldigung bis zum bitteren Ende. Reue oder Eingeständnis eines Fehlers wird als Schwäche gesehen. Es scheint eine Grundvoraussetzung politischen Erfolgs zu sein, die Fähigkeit zu besitzen Schuld abgeben bzw. abstreifen zu können und zu beschuldigen, um sich dabei vom unangenehmen Schuld- und Schamgefühl zu befreien. Dies beweist auch ein Blick auf den Büchermarkt. Die Buchtitel sprechen dabei eine eindeutige Sprache: „Ein Leben ohne Schuldgefühle“, „Schuldgefühle auflösen“, „Schuldgefühle loslassen“ usw. Wenn es aber wichtig ist Schuldgefühle los zu werden, so müssen wir in einem Universum, in der wir die Existenz von Schuld annehmen fragen, wohin damit?
Wohin mit der Schuld? Jeder Mensch ist unschuldig, solange die Schuld nicht bewiesen ist, heißt einer der wichtigsten Grundsätze unseres Rechtssystems. Daher kommt der Zuordnung von Schuld auch besondere Bedeutung zu. Gebe es keine Schuld, so müsste
man sie erfinden. Denn die Existenz von Schuld bedeutet auch die Legitimierung von Strafe und gehört zu den wichtigsten Mitteln, um Ordnung in der Gesellschaft zu gewährleisten. Aber nicht nur für Gerichte oder Versicherungsgesellschaften ist die Zuordnung von Schuld zentraler Bestandteil ihrer Arbeit. Schuld und Sündenböcke werden in allen Lebensbereichen gesucht und gefunden und haben eine karthasische Wirkung auf das Wohlbefinden jedes Einzelnen. Wer lebt schon gerne mit Schuldgefühlen? Die Schuldigen können Ehepartner genauso sein wie Ausländer oder die eigene Mutter. Auch in den politischen Systemen jeglicher Art sind Sündenböcke schnell gefunden. Für die Revolutionäre Frankreichs waren es die Adeligen für die Bolschewisten Russlands wiederum das Bürgertum, das sich durch die Französische Revolution gebildet hat und in der Demokratie westlicher Prägung wird es den Menschen gestattet, frei zu entscheiden, wer an allem oder an seinem persönlichen Leid Schuld trägt. Die Schuld verhält sich dabei, wie der Schwarze Kater im gleichnamigen Kartenspiel, wo derjenige verliert, der den Schwarzen Kater nicht mehr weitergeben kann. Der „Schwarze Kater“ verbleibt dann meistens bei den Minoritäten bzw. ökonomisch oder sozial benachteiligten Gruppen. Schuld ist also ein Instrument, das Gesellschaften teilt und separiert, so wie wir es in den USA sehen, wo sich Demokraten und Republikaner gegenseitig für die gleichen Missstände beschuldigen. rC 01/2021 | 40 | KOLUMNE
Was ist Schuld? Aber was ist Schuld eigentlich? Entscheidend für die Existenz von Schuld ist der freie Wille und das bedeutet: Jeder kann in dem Moment, in dem er handelt, immer auch anders handeln und sich anders entscheiden. Wenn sich also der Mensch für das Schlechte entschieden hat, wenn er auch das Gute tun hätte können, dann ist das Schuld. Die Existenz von Schuld überträgt uns daher Verantwortung. Dostojewski schreibt in „Die Brüder Karamasov“: „Jeder Mensch ist für alle und alles verantwortlich“. Ein Bekenntnis also für ein selbstbestimmtes Leben, dass in universelle Verantwortung mündet. Ähnliches gilt für die christliche Moralethik, die sehr stark die individuelle Verantwortung betont. Als Edward Snowden die US-amerikanischen Spionagepraktiken mit der Öffentlichkeit teilte, rechtfertigte er sich mit den Nürnberger Prinzipien: „Der Einzelne hat eine internationale Verantwortung, die höher steht als nationale Gehorsamspflichten. Daher haben Bürger die Pflicht, nationale Gesetze zu brechen, um Verbrechen gegen Frieden und Menschlichkeit zu verhindern“. Erstmals wurde in Nürnberg nach dem Zweiten Weltkrieg die individuelle Schuld der Angeklagten untersucht. Nationale Gesetze oder das Innehaben eines staatlichen Amtes bieten seit den Nürnberger Prozessen keinen Schutz mehr vor Verfolgung durch das Völker-