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LEITARTIKEL | VON MICHAEL GNEUSS
Deutschland hinkt bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems hinterher. Seit Jahren verhindern Bürokratie, Gerangel um Zuständigkeiten und fehlende digitale Infrastrukturen den technologischen Wandel eines der wohl wichtigsten Sektoren der Gesellschaft. Doch nun tut sich was in der Bundesrepublik. Die durch Corona offengelegten Schwachstellen sollen mit neuen Gesetzesinitiativen zügig behoben werden. Es ist eine App für alles: Omakanta, die Gesundheits-App der finnischen Regierung, speichert Diagnosen und Rezepte, Bluttests und Röntgenbilder, Impfungen und Organspende- oder Patientenverfügung. Kurzum: In der App sind alle relevanten Patienteninformationen gespeichert. Einloggen können sich Nutzerinnen und Nutzer mit dem elektronischen Identitätsnachweis (ID), der ab 2030 europaweit gelten soll, in Finnland aber schon seit Jahren verfügbar ist. Die Datenhoheit liegt bei den Bürgerinnen und Bürgern, doch auch Ärzte, Apotheken, Krankenhäuser oder Krankenkassen haben Zugriff. „Die Menschen wollen ja, dass beim Besuch in einer Praxis oder im Krankenhaus die Behandelnden die ganze Krankengeschichte kennen und nicht unnütz weitere Untersuchungen gemacht werden“,
iStock / Vitalii Petrushenko
UND K ATHARINA LEHMANN
erklärt Teemupekka Virtanen, der die App für die finnische Regierung entwickelt hat. Rund 40 Millionen Euro hat die Entwicklung gekostet, bezahlt habe der Staat. Die laufenden Kosten für den Betrieb, etwa 15 bis 20 Millionen Euro pro Jahr, zahlen jetzt Krankenkassen, Apotheken und Anbieter von Gesundheitsdiensten – im Schnitt sind das ein paar Cent pro Nutzung. In Finnland klappt, was in Deutschland unmöglich erscheint: die konsequente und umfassende Digitalisierung des Gesundheitswesens. „Wir haben smartere Gesetze und weniger Bürokratie“, erklärt Timo Harakka, Minister für Verkehr und Digitalisierung in der finnischen Regierung, gegenüber dem „Handelsblatt“. Das locke Investoren und Forschende an. Zudem vertrauten Bürger, Behörden und Unternehmen den neuen Technologien. Denn Finnland habe von Anfang an alles für Netzsicherheit und Datenschutz getan und heute „die effizientesten Netze der Welt“, erklärt Harakka. Zur Wahrheit
Fokusinterview
„Digitale Prozesse beschleunigen” Durch die Nutzung Künstlicher Intelligenz sowie die modernen Möglichkeiten der Darstellung und Auswertung von Bildern sind bei der Erkennung von Tumoren bessere Ergebnisse möglich. Dipl.-Ing. Frank Klägel, PreSales Consultant Medical Systems bei Fujifilm, erklärt, wie davon sowohl Diagnostiker als auch Patienten profitieren. Welche Rolle spielt die digitale Pathologie im Gesundheitswesen? Die digitale Pathologie ist eindeutig auf dem Vormarsch. Klar ist: Die Digitalisierung der konventionellen Mikroskopie durch Scanner und die Befundung an Bildschirmen in Verbindung mit dem Management von Daten versprechen eine Reihe von Vorteilen. Dabei muss zwischen Pathologie und Histopathologie unterschieden werden. Was ist der Unterschied? Die klinische Pathologie kümmert sich um
Dipl.-Ing. Frank Klägel, PreSales Consultant Medical Systems
die labortechnische Untersuchung von Körperflüssigkeiten, Blut und Gewebe sowie die mikroskopische Untersuchung von Zellen. Die Histopathologie kümmert sich um die mikroskopische Untersuchung von Gewebe. Wir bei Fujifilm fokussieren uns auf die Histopathologie. Sie ist bisher nur in geringem Maße digitalisiert und das letzte fehlende Glied zwischen Hausarzt, Therapie und Genesung.
gehört aber auch: Die finnische Gesellschaft ist mit ihren 5,5 Millionen Einwohnern bedeutend kleiner als die deutsche – und damit auch agiler und flexibler. Digitalisierung verbessert die Versorgung Nichtsdestotrotz: Deutschland muss sein Gesundheitssystem digitalisieren. Nur so kann die Gesundheitsversorgung in der Bundesrepublik auch in Zukunft mit den technologischen Innovationen mithalten und gleichzeitig bezahlbar bleiben. „Digitale Technologien können die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessern. Zudem eröffnet die zunehmende Verfügbarkeit von Gesundheitsdaten in Verbindung mit modernen digitalen Analyseverfahren neue und weitreichende Möglichkeiten für eine stärker personalisierte Diagnostik und Therapie“, erklärt Irene Bertschek, Professorin für „Ökonomie der Digitalisierung“ an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Forschungsbereichsleiterin am ZEW in Mannheim
Wie sieht der Weg von der entnommenen Zellschicht bis zum Befund aus? Zunächst werden die Objektträger mit der Zellschicht in einem hochauflösenden Scanner digitalisiert. Anschließend folgt die Untersuchung des Präparates in Form von hochauflösenden Bildern am Monitor sowie parallel dazu die Interaktion und Integration mit dem gewünschten Laborinformationssystem. Dringende oder kritische Fälle werden im Workflow automatisch angezeigt, KI-Module helfen im Prozess stets beim Detektieren und bei der Diagnose. Dank der Bilddigitalisierung und der Interoperabilität unserer Systemlösung sind dabei der fachliche Austausch unter Pathologen als auch das Heranziehen einer zweiten Meinung problemlos möglich. Am Ende des Prozesses wird dann der Befund in einem lokalen digitalen Archiv oder in der Cloud abgespeichert. Wie wird sich die digitale Pathologie weiterentwickeln? Die
Bedeutung wird stark zunehmen. So gibt es bereits heute ein jährliches Wachstum der untersuchten Zellpräparate von sechs Prozent. Zudem erfordern 70 Prozent aller klinischen Eingriffe die Mitarbeit der Histopathologie, bei Krebsfällen sind es sogar 99 Prozent. Ohne einen weiteren Ausbau der Kapazitäten im Bereich der digitalen Pathologie ist es bald nicht mehr möglich, sämtliche Untersuchungen durchzuführen. Wird die digitale Pathologie eines Tages den Pathologen ersetzen? Ganz sicher nicht, die letzte Entscheidung muss der Mensch treffen. Aber die digitalen Möglichkeiten werden den Prozess beschleunigen. Dadurch sind mehr Diagnosen pro Tag und gleichzeitig ein schnelleres Feedback für den Therapeuten möglich. Schnellere Prozesse sind auch deswegen geboten, weil es wenig Nachwuchs in diesem Bereich gibt. 59 Prozent der Pathologinnen und Pathologen sind derzeit älter als 50 Jahre.
Weitere Informationen unter www.digitale-gesundheit-info.de
Diagnose: Systemfehler
Digitalisierung – im deutschen Gesundheitssystem noch nicht angekommen