SCHLAG DAS SCHICKSAL!
500.000 Follower auf TikTok –Rollstuhltennis - Profi Giuliano Carnovali ist der Mutmacher der Nation
LINDSEY VONN / CHARLOTTE GAINSBOURG / KALLE ROVANPERÄ / MICHAEL JORDAN
Contributors
LOU BOYD
Die Nova Twins, bestehend aus Sängerin & Gitarristin Amy Love und Bassistin Georgia South, stellen Musik-Stereotypen in Frage und schaffen sich so ihren eigenen Platz in der Alt-Rock-Szene. Unsere Autorin Lou Boyd hat die Band in Südlondon getroffen, um herauszufinden, wie ihr kompromissloser Ansatz ihnen Fans wie Elton John oder Tom Morello eingebracht hat. Seite 54
SEI DABEI!
LUKAS MAEDER
Fotograf und Regisseur Lukas Maeder hat schon mit Superstars wie Kendrick Lamar oder Billie Eilish gearbeitet. Für diese Ausgabe hat er den querschnittsgelähmten Schweizer Tennisspieler Giuliano Carnovali fotografiert. Beide haben einen SkateboardHintergrund und kennen einander schon länger. Dass sie sich gut verstehen, sieht man auch an den starken Bildern. Seite 34
Es ist wieder so weit! Die Welt läuft für jene, die es selbst nicht können: Am 7. Mai 2023 fällt der Startschuss für die zehnte Auflage des Wings for Life World Run. Das Prinzip ist einfach: Startschuss, alle laufen los. 30 Minuten später nimmt das Catcher Car die Verfolgung auf. Es wird schneller und schneller –bis es dich einholt. Erster ist, wer als Letzter noch läuft. Obwohl, ganz stimmt das nicht: Gewonnen hast du eigentlich schon, sobald du antrittst.
«Meine Teilnahme verstehe ich als Zeichen der Dankbarkeit», sagt Giuliano Carnovali, 24, der seit einem Unfall im Rollstuhl sitzt. In unserer Coverstory ab Seite 34 redet er über seinen Weg zurück ins Leben und wie er heute tausende Menschen inspiriert. Und warum er kein Mitleid braucht, aber Akzeptanz.
Die besten Tipps zur Laufvorbereitung kommen ab Seite 90 von Freeskierin Fanny Smith, 30, und Bergläuferin Judith Wyder, 34.
BRATISLAV MILENKOVIĆ
Der Illustrator aus Belgrad behübscht unsere Biohacking-Serie mit Tipps für ein optimiertes Leben – das Thema diesmal: die Kraft des Grinsens. Bratislavs künstlerisches Motto: «Strong colors, bold shapes». Zuletzt werkte der Kreative unter anderem für Nike, BMW, Google, «The New York Times», «Esquire» und «Wired». Sein liebster Gefährte im Studio: Hund Vito. Seite 88
Ebenfalls an einem grossen Ziel arbeitet Nils Frei, 50, der Cheftrainer von Alinghi Red Bull Racing. Er will nämlich den America’s Cup gewinnen. Wie er das anstellt? Alles dazu auf Seite 20.
Bis hierher war Alltag – ab hier ist Abenteuer! Die Redaktion
EDITORIAL
THE RED BULLETIN 3
LUKAS MAEDER (COVER), RAISA DURANDI
Der
PORTFOLIO
Frankie Perez schaffte den Sprung vom B-Boy zum Fotokünstler –und zeigt uns seine besten Shots. TENNIS
INHALT 01/2023 GALLERY 6 ZAHLEN, BITTE! 12 FUNDSTÜCK 14 HEROES CHARLOTTE GAINSBOURG
Schauspielerin
Stärke. LINDSEY VONN 18
sich die Skirennläuferin in ihrem «Ruhestand» neu erfand. NILS FREI 20
16 Die
macht aus ihrer Schwäche eine
Wie
Binnen-Seebär
will den America’s Cup in die Schweiz holen.
BREAK
AND KLICK 22
SPIEL, SATZ, SIEG
und Sportler
Carnovali
Mut. RALLYE COOLER CHAMP 44 Kalle Rovanperä fährt in klirrender Kälte Erfolge ein. ROCK DER TWIN PEAK 54 Die Nova Twins erfnden den Alternative-Rock neu. BERGSTEIGEN IHR LANGER MARSCH 62 Saray Khumalo ist
erste schwarze Afrikanerin,
Mount Everest bestieg. TRIATHLON WOHIN SO EILIG? 68 Kristian Blummenfelt hat noch eine Rechnung offen. 54 AMERICA’S CUP DAS POKAL- WUNDER 76 Wie eine Siegestrophäe zum Mythos wurde. UND JETZT DU! REISEN 81 DENKEN 84 HÖREN 86 BIOHACKING 88 TRAINIEREN 90 ERLEBEN 92 MICHAEL KÖHLMEIERS BOULEVARD DER HELDEN 94 IMPRESSUM 96 CARTOON 98 68 4 THE RED BULLETIN DANIEL TENGS/RED BULL CONTENT POOL, STEPHANIE SIAN-SMITH
34 Rollstuhlfahrer
Giuliano
macht uns
die
die den
B A B C D E F G Volvo EX90, Twin Performance AWD Electric, dual motor 517 PS/380 kW. Stromverbrauch gesamt: 21,1 kWh/100 km, CO₂-Emissionen: 0 g/km. Energieeffizienz-Kategorie: B. Der Volvo EX90. volvocars.ch/EX90 Entdecken Sie den Volvo EX90 mit Safe Space Technology und klarem skandinavischen Design. Unser neuer vollelektrischer SUV.
GALLERY
Oberstdorf, Deutschland
WELLE ÜBER DEN WELTEN
Unten die verschneiten Zacken und Gipfel der bayerischen Bergwelt, ganz unten die Nebel der Täler – und oben, am nächtlichen Himmel: eine Welle in hellem Blau und sanftem Violett. Und Paragleiter Michael Lacher, dessen Schirm sie zieht. Fotograf Adi Geisegger hatte zuvor 320 LEDLichter am Drachen montiert. Ein Geistesblitz, der Adi einen Semifinalplatz bei Red Bull Illume, dem weltweit grössten Bewerb für Actionfotografie, bescherte. geisegger.com; redbullillume.com
THE RED BULLETIN 7 ADI GEISEGGER/RED BULL ILLUME DAVYDD CHONG
Mentawai-Inseln, Indonesien
ER FÄHRT IN DEN URLAUB
Hollow Tree, Greenbush, The Hole: Wer dabei an Rockbands aus den 90er-Jahren denkt, ist womöglich kein Surfprofi. Denn hier auf den MentawaiInseln – einer Inselkette 150 Kilometer vor der Küste Sumatras – bekommen die legendärsten Wellen legere Namen. Im vergangenen Mai lud Red Bull neun Top-Boarder, darunter den Kalifornier Dimitri Poulos (Bild), zum Get-together. Erst wurde gefilmt – dann ein paar Tage blaugemacht. Mehr dazu: Staffel zwei, Episode eins von «People Watching» auf Red Bull TV
GALLERY
MARCELO MARAGNI/RED BULL CONTENT POOL, BRIAN CHING SEE WING/RED BULL CONTENT POOL DAVYDD CHONG
Hongkong
UND ER BRENNT FÜR SEINEN JOB
Fast könnte man meinen, dass die Karriere des Timothy Ho Chu-Ting aus Hongkong am seidenen Faden hängt. Fast, denn Timothy ist Seilspringer und hält einen Weltrekord: In nur drei Minuten schaffte er nicht weniger als 500 Jumps. Und da einem bei so einem Auf-und-ab-Stakkato ohnedies heiss wird, begann er, beim Springen auch noch mit dem Feuer zu spielen. Heisser Tipp: Das Video zu seinem sogenannten «Fire Dragon»-Trick ist ab sofort auf dem YouTube-Kanal Glxbal Labz verfügbar.
THE RED BULLETIN 9
Jokkmokk, Schweden
K- K- KALT, ABER COOL
Eigentlich ist der deutsche Wakeboarder Dominik Gührs ja kuschelige Badetemperaturen und knappe Boardshorts gewohnt. Aber da cool ja doch irgendwie von Kälte kommt, performt er diesmal nördlich des Polarkreises. Wir sehen ihn von oben auf einem Parcours, der eigens aus dem Eis eines Sees gefräst wurde. Er überwindet mit Highspeed eine gefrorene Mauer. Und die Kälte. Demnächst auf Red Bull TV, redbull.com
GALLERY 10 THE RED BULLETIN
LORENZ HOLDER DAVID MAYER
Der Frühling erwacht, die Gefühle blühen auf, und Tinder rotiert – hier die heissesten Daten hinter der Datingplattform.
14.600
Matches in nur zwei Jahren brachten dem Engländer Stefan-Pierre Tomlin neben zahlreichen Dates auch den Spitznamen «Mr. Tinder» ein.
75
Milliarden Mal erschien bereits auf den Bildschirmen der User: «It’s a match!»
Die erste Milliarde erreichte die App bereits 2014.
0
Matches – das ist die ernüchternde Tinder-Ausbeute von Hollywood-Schönling Zac Efron. Sein Problem: Man hielt seinen Account für einen Fake.
190
Länder gehören derzeit zu den «United Nations of Tinder»: In diesen Staaten ist die Plattform verfügbar.
MAKE A WISCH 2012
gründeten Jonathan Badeen, Sean Rad und Justin Mateen Tinder – und erleichterten damit das Leben von Millionen Singles.
30
10.000.000
Dollar soll der Hochstapler Simon Leviev zwischen 2017 und 2019 von seinen Tinder-Dates ergaunert haben. Netflix widmete ihm dafür sogar eine eigene Doku: «Der Tinder-Schwindler».
20
Uhr am Montagabend ist die beste Zeit, um nach dem Traumpartner oder der Traumfrau zu wischen. Da sind die meisten Menschen auf Tinder aktiv.
1,5
Prozent der Tinder-User sind in Wahrheit verheiratet – sagt jedenfalls eine Studie von Global Web Index. Dazu kommen noch mal zwölf Prozent, die in einer Beziehung sind. 2
Background-Checks können Tinder-Userinnen und -User in den USA kostenlos durchführen lassen: Dabei wird überprüft, ob ein Match vorbestraft oder verurteilt ist.
Millionen Tinder-Dates finden jede Woche statt. 2017
war die Partnersuche per Daumenwischer bereits so verbreitet, dass es das Wörtchen «tindern» in den Duden schaffte.
ZAHLEN, BITTE!
12 THE RED BULLETIN GETTY IMAGES, GETTY IMAGES PREMIUM HANNES KROPIK CLAUDIA MEITERT
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Das teuerste Trikot der Sportgeschichte – Basketball-Ikone Michael Jordan
Einmal noch, ein letztes Mal, machte sich der 1,98-Meter-Gigant auf: Die Saison 1997/98 ging als Michael Jordans «letzter Tanz» in die Geschichte ein und wurde in der Netfix-Serie «The Last Dance» dokumentiert. Auf dem Weg zu seinem sechsten und letzten NBA-Titel traf «His Air-
ness», wie der Shooting Guard der Chicago Bulls genannt wurde, in der Finalserie auf Utah Jazz. Das Jersey, das er im ersten Spiel durchschwitzte, wurde in seiner Geburtsstadt New York versteigert: Ein Fan zahlte 10,1 Millionen Dollar (9,8 Millionen Euro) – Rekord für Sportler-Reliquien.
trug es zu seinem letzten Saisonfnale.
Michael Jordan, 60, galt als weltbester Basketballer. Er wurde sechsmal NBAChampion.
FUNDSTÜCK 14 THE RED BULLETIN PICTUREDESK.COM, GETTY IMAGES
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CHARLOTTE GAINSBOURG
ist eine Schauspielerin, deren Leben nicht immer ganz einfach verlief. Bis sie lernte: Es befreit, wenn man schreit! Und macht sogar glücklich.
TEXT RÜDIGER STURM
mich», gibt sie zu. «Ich habe den Trauerprozess unterdrückt, indem ich nichts in seinem Haus veränderte – nicht mal den Inhalt seines Kühlschranks.»
Das Leben der Charlotte Gainsbourg: Selbstzweifel, Traumata, Trauer, schwärzer als jeder Film noir, möchte man meinen – au contraire! Denn ihr gelang es, ausgerechnet aus ihren vermeintlichen Schwächen und Krisen Vitalität und Kraft zu schöpfen. «Da ich weiss, dass ich sehr schüchtern bin, pushe ich mich genau deswegen vorwärts. Ich darf es mir nicht erlauben, mich gehen zu lassen. Aus diesem Grund gehe ich ständig an meine Grenzen – und je extremer die Grenze, desto besser.»
Ein Crash, eine OP, ein Happy End Schnitt, Rückblende ins Jahr 2007. Ein Unfall beim Wasserskifahren. Diagnose: Gehirnblutung. Eine komplizierte OP rettete Gainsbourgs Leben, doch psychisch sei sie, wieder einmal, «absolut am Ende» gewesen. Doch dann waren es ausgerechnet die aufreibenden Dreharbeiten zum skandalträchtigen «Antichrist» ein Jahr danach, bei denen sie wieder ihre innere Balance fand: «All das Leiden und Schreien in den Szenen war enorm befreiend. Es war das Beste, was mir passieren konnte.»
Nur wenige Schauspielerinnen beweisen so viel darstellerischen Mut wie Charlotte Gainsbourg. Mit Regie-Enfant-terrible Lars von Trier brachte sie in Filmen wie «Antichrist» oder «Nymphomaniac» extreme Sex- und Gewaltvisionen auf die Leinwand. Und auch sonst wagt sich die 51-jährige Französin oft in düstere Welten –zuletzt in dem Thriller «Der denkwürdige Fall des Mister Poe», der derzeit auf Netfix läuft. Doch wer ihr ganz real begegnet, staunt zunächst: Denn diese Madame Gainsbourg wirkt ziemlich schüchtern – scheuer Blick, fragile Erscheinung, auch die Stimme brüchig.
Sie verleugnet ihre Unsicherheit auch gar nicht gross. «Ich habe mich in meiner Haut nie wohlgefühlt, mochte meinen Körper nicht», sagt sie. Ihre Bühnenauftritte als Sängerin «fühlen sich nicht natürlich an». Wenn sie ihre Musik – meist persönlich gehaltene und dennoch charttaugliche Pop-Nummern – produziert, sei das «eine Herausforderung», weil sie «keine hohe Meinung» von ihrem Talent habe.
Im Jahr 2020 beschloss sie ausserdem, sich den «Geistern der Vergangenheit» zu stellen. Sie verliess mit ihrer Familie New York – obwohl sie sich dort wohlfühlte – und kehrte nach Paris zurück, um ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten: Sie drehte eine Dokumentation über ihre Mutter Jane Birkin. Gleichzeitig setzte sie sich mit dem Vermächtnis ihres Vaters Serge auseinander, indem sie dessen Haus, das sie bislang verschlossen dahindösen liess, als Museum «Maison Gainsbourg» der Öffentlichkeit zugänglich machte.
Instagram:
@charlottegainsbourg
Sie spricht auch ganz offen über ihre Verletzlichkeit: Als ihre Halbschwester Kate Barry im Jahr 2013 in Paris unter nicht restlos geklärten Umständen starb, war das für sie so traumatisch, dass sie mit ihrer Familie fast fuchtartig nach New York zog: «Nur so konnte ich überleben.» Ein Schock, mit dem sie jahrzehntelang fertig zu werden versuchte, war der Tod ihres Vaters, des legendären französischen Singer-Songwriters Serge Gainsbourg, im Jahr 1991. «Es ist immer noch schwer für
Gainsbourg geht mit ihren eigenen Schwächen auch deswegen so offen um, weil sie in ihrer Kindheit enorm viel Freiheit erfahren hat. Speziell durch ihre Eltern, die auch dank Chansons wie «Je t’aime … moi non plus» das aufsehenerregendste Paar der französischen Showbranche waren. Aus heutiger Sicht fndet Charlotte Gainsbourg manches aus der damaligen Zeit zumindest hinterfragenswert, aber sie betont: «Ich liebe die Freiheit, zu der ich erzogen wurde. Je mehr Beschränkungen wir bekommen, desto furchteinfössender ist das.»
Deshalb stellt sie sich weiter allen Erfahrungen des Lebens, so schwierig sie auch sein mögen. Dazu gehört es, Sprachnachrichten geliebter Menschen, etwa ihres Vaters, zu archivieren. «Einerseits ist es grausam, wenn du seine Stimme hörst, als wäre er noch am Leben, aber gleichzeitig ist es ein grosser Schatz.»
Eine Stimme der Kraft für eine Frau, die ihre Stärke aus den eigenen Schwächen schöpft.
HEROES
16 THE RED BULLETIN NATHANIEL GOLDBERG/TRUNKARCHIV
«Da ich sehr schüchtern bin, pushe ich mich einfach vorwärts.»
THE RED BULLETIN 17
Charlotte Gainsbourg, 51, über die Radikalkur gegen ihre Schwächen
LINDSEY VONN
hat ihr Leben komplett auf den Kopf
gestellt: Als Ski-Superstar raste sie mit 130 km/h hinunter ins Tal. Nun lernt sie den langsamen Aufstieg.
TEXT LAURA URRUTIA FOTO SEBASTIAN MARKO
Wie sieht ein typischer Lindsey-Tag aus?
Ich starte sehr früh mit einem Workout, darauf folgen Telefonate, EMails und ZoomMeetings. Wenn ich Glück habe, kommt danach noch ein zweites Workout. Und dann die Erholung: Ich gehe auch gerne eine Runde mit meinen Hunden und schaue fern, während das Feuer im Kamin knistert.
Stellst du uns deinen Zoo kurz vor?
Ich bin eine crazy dog lady. Ich habe drei: Leo ist elf, ein Boxer mit 43 Kilo, Jade ist eine MalinoisHündin, die smarter ist als ich, und dann gibt es da noch Lucy, meine KingCharlesSpanielDame, die mit mir auch auf Reisen geht. Sie ist mein einziger Boss.
Was ist die schönste Seite am «Ruhestand»? Mit welchen Dingen beschäftigst du dich?
Ich habe fast jede Sportart ausprobiert: Wakesurfen, Windsurfen, Polo, Mountainbiken, ich war in Italien Rennrad fahren, habe viel Tennis gespielt, und ich gehe gerne Berge runter. Raufzugehen ist immer noch nicht ganz mein Ding! (Lacht.) Aber meine Hunde lieben es, und ich lerne das jetzt auch.
Instagram:
@lindseyvonn
Lindseys StreifAbenteuer kannst du hier anschauen:
redbull.com/
LVStreif
Viermal gewann die AlpinAllrounderin mit Schwerpunkt Abfahrt den Gesamtweltcup. Dazu kommen – um nur die Höhepunkte zu nennen – OlympiaGold in der Abfahrt und zwei WeltmeisterschaftsGoldmedaillen. Erst im Jänner erfüllte sich Lindsey Vonn, 38, noch einen Wunsch und bezwang als erste Athletin bei Nacht und mit Tempo 130 die Kitzbüheler Streif. Aber – was folgt auf so eine AthletinnenVita, was vermag den dritten Durchgang des Lebens beglückend zu füllen? Lindsey will weiterhin ihre Grenzen verschieben, sich physisch verausgaben, muss berufliche und private Verluste verarbeiten – und Neues probieren.
the red bulletin: Spürst du nach deiner Traumkarriere eine Art Pensionsschock?
lindsey vonn: Auch wenn ich nicht mehr in Wettbewerben stehe, bleibe ich im Herzen eine Athletin. Trotzdem war der Rückzug aus dem Profsport schwierig. Du hast das Adrenalin und den Wettkampf nicht mehr. Ich habe mental damit gekämpft und eineinhalb Jahre gebraucht, um damit klarzukommen. Ohne Skifahren zu leben war eine Herausforderung.
Wie hast du dein Leben neu gestaltet? Die Arbeit an meiner Sonnenbrillenkollektion und Modelinie hat geholfen. Ich riskiere jetzt nicht mehr mein Leben, wenn ich Skikleidung designe, aber mir gefällt’s auch mit weniger Nervenkitzel. Ich sehe jetzt einen Sinn in diesem neuen Kapitel.
Wie schwierig ist es, im Alltag mit der Erwar tungshaltung der anderen umzugehen und mit sich selbst zufrieden zu sein, wenn man bisher den Job «Siegen» hatte?
Ich setze mir höhere Ziele, als andere von mir erwarten würden, und ich bleibe mir und meinen Zielen immer treu. Als ich Rennen gefahren bin, hat es immer viele Erwartungen gegeben: was ich können oder machen sollte, was andere von mir wollten. Das kann einen verwirren und ablenken. Ich habe mir ein dickes Fell zugelegt – gegenüber den Medien und gegenüber irgendwelchen Trollen im Internet.
Vor vier Jahren hast du gesagt, dein Körper habe dich angebrüllt, mit dem aktiven Skisport aufzuhören. Wie geht es dir aktuell?
Leider bin ich körperlich immer noch angeschlagen. Da braucht es wohl mal ein neues Knie. Mental fühle ich mich aber nach der Therapie, die ich gemacht habe, wirklich so stark wie noch nie. Und das, obwohl ich nach meiner Grossmutter und meinem Hund Bear im August vergangenen Jahres noch meine Mutter verloren habe – das ist immer noch sehr hart. Aber ich habe Bewältigungsstrategien, und meine Familie ist auch als Unterstützung da.
Was ist dein Rat an die Generation Z? Immer an sich zu glauben. Wenn du es nicht tust, wer dann? Und wenn es dich wirklich mal aufstellt, sammle deine Einzelteile wieder zusammen und mach weiter! (Lacht.)
HEROES
18 THE RED BULLETIN RED BULL CONTENT POOL
«Boss habe ich keinen – bis auf einen: Lucy, meine King - CharlesSpaniel - Dame.»
THE RED BULLETIN 19
Lindsey Vonn, 38, über ihre fixe Weg- und Reisebegleiterin
NILS FREI
ist der proflierteste Seebär der Schweiz –auch ganz ohne Rauschebart. Als Cheftrainer von Alinghi Red Bull Racing will er nun den America’s Cup gewinnen.
nils frei: Seine Tradition. Man hat all diese historischen Bilder vor Augen – von berühmten Segelbooten und wichtigen Persönlichkeiten –, dazu unglaubliche Geschichten von Comebacks und Booten, die gesunken sind: Für einen Segler ist es das Grösste, hier dabei zu sein.
Wenn man die Geschichte des Schiffsbaus betrachtet – wo stehen wir heute?
Wir sind in einer Ära, die sportlich top ist und gleichzeitig voller Hightech. Seit einigen Jahren sprechen wir vom Foiling (Foilboards werden durch ein am Rumpf befestigtes Hydrofoil aus dem Wasser gehoben; Anm.), hier gibt es viele Annäherungen an die Flugtechnologie. Segler sind immer noch Segler, aber die Voraussetzungen sind anders als vor zwanzig Jahren. Die Aerodynamik ist unglaublich wichtig geworden, da proftieren wir von der Zusammenarbeit mit dem Formel-1-Team Red Bull Racing. Man muss immer noch den Wind spüren und interpretieren, aber die Art, wie man das Boot ins Gleichgewicht bringt, ist eine andere.
Früher gingen die Wettläufe über Stunden, das war im Vergleich zu heute fast gemächlich. Was hat sich an Bord verändert?
Heute geht alles sehr schnell, das sind kleine Sprints von zwanzig Minuten, da bleibt von Manöver zu Manöver sehr wenig Zeit. Ich habe das Glück, lange dabei zu sein und verschiedene Boote miterlebt zu haben, die ganze FoilingRevolution. Das macht es spannend.
Die Schweiz ist als erstes Binnenland mitgesegelt, es gibt keine HochseeSegeltradition. Woher kommt der Erfolg?
Dass die Schweiz vor zwanzig Jahren den America’s Cup gewann, hat eine grosse Dynamik in die Szene gebracht. Es gibt viele Seen und gute Segelbedingungen, gerade wenn es um Foiling geht. Dann wurde viel investiert –und natürlich haben wir auch gute Segler.
Sie sind seit 2022 Cheftrainer von Alinghi Red Bull Racing. Wie sind Sie in die Aufgabe hineingewachsen?
Nils Frei holte als aktiver Segler bereits zweimal den America’s Cup.
Mit sechs Jahren segelte Nils Frei auf dem Schweizer Bielersee – und verlor sich an den Sport. Mit Erfolg. Der Fünfzigjährige ist eine der Grössen im Schweizer Segelsport, wurde etwa Dritter bei der Weltmeisterschaft 1995. Und er gewann mit dem Alinghi-Team bereits 2003 und 2007 den America’s Cup. Ein Triumph, den er 2024 als Cheftrainer wiederholen will.
the red bulletin: Der America’s Cup ist die älteste Segelregatta der Welt, gegründet im Jahr 1851. Hier segelt die Weltelite. Was macht seine Besonderheit aus?
Es geht vor allem darum, die richtigen Segler an den richtigen Positionen zu haben: Die Driving Group, die die Segel und Foils richtig einstellt, und die Power Group, also die Leute, die die Energie bringen, müssen gut miteinander kommunizieren. Sie müssen sich fast blind verstehen. Das ausreichend zu trainieren ist viel Arbeit.
Was ist Ihr Ziel?
Ganz klar: zu gewinnen. Wenn man die beiden Marken Alinghi und Red Bull sieht, dann weiss man, dass unsere Ziele ungeachtet der riesigen Herausforderung gross sind.
HEROES
20 THE RED BULLETIN SAMO VIDIC/RED BULL CONTENT POOL
TEXT SASKIA JUNGNIKL- GOSSY
RED BULL MIT DEM GESCHMACK VON APRIKOSE-ERDBEERE.
BELEBT GEIST UND KÖRPER.
BREAK AND KLICK
Am Anfang war die Bewegung. Und aus ihr entstand ein Gefühl für bewegende Bilder: Frankie Perez, 33, schaffte den Sprung vom legendären B-Boy zum Fotokünstler. Hier sein Tanz mit der Kamera.
TEXT NORA O’DONNELL 22 THE RED BULLETIN
BIEGSAMER TITAN
New York, 2021
Dieses Foto schoss Perez am Tag nach seinem Sieg beim Red Bull BC One Cypher. Es zeigt die B-Boys Mike the Titan (links) und Nebz bei einer Aufwärmübung. «Ich hielt mich mit Anweisungen ganz bewusst zurück und liess die beiden einfach machen, was ihnen gerade einfiel», erinnert sich Perez.
DER FOTOGRAF
FRANKIE PEREZ
Frankie Perez, 33, erinnert sich lebhaft an den Tag, als er – damals ein 13-jähriges Kid aus Queens, New York – zum ersten Mal jemanden breaken sah: «Ich war hin und weg. Das war wie eine neue Welt für mich.» Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Bewegte Geschichte: Perez arbeitete an seinen eigenen B-Boy-Skills und gewann Battles auf der ganzen Welt, darunter das Red Bull BC One Cypher 2021 in New York. Neuerdings steht er lieber hinter der Kamera als davor und kombiniert dafür die eigene Erfahrung als Tänzer mit seinem scharfen Blick für fotogene Bewegungsabläufe.
Im vergangenen Jahr veröffentlichte Perez sein erstes Buch. «See Me Up? It’s ’Cause I’ve Been Down» ist eine Fotosammlung, die die Welt des Street Dance direkt und ungefltert zeigt. «Mit meiner Kunst will ich Breakdance an einen prominenteren Platz in der Popkultur rücken», sagt er. «Ich möchte etwas schaffen, auf das die Leute aus meiner Szene stolz sein können.»
Frankie Perez auf Instagram: @pluralist_
ZWISCHEN MAUER UND BLÜMCHEN
Montreal, Kanada, 2021
«Diese Blumen sind mir als Requisiten übrig geblieben, ich habe einfach damit herumgeblödelt», sagt Perez über sein Selbstporträt. Sein Gesicht zeigt der Künstler grundsätzlich nicht auf seinen Bildern.
24 THE RED BULLETIN
AM SCHWERTPUNKT
Orlando, Florida, 2022
«Manchmal ploppen die Ideen für Bilder einfach so in meinem Kopf auf», sagt Perez. Warum zum Beispiel nicht mal einem B-Boy ein Schwert in die Hand drücken? Und schon stand B-Boy Omen für Kollegen Perez kopf. Und zwar bewaffnet.
etwas schaffen,
die Leute aus meiner Szene stolz macht.»
PAUSENCLOWN
Austin, Texas, 2019
Bei der Motivsuche für sein Buch stiess Perez auf eine Gruppe rastender, snackender Skater. Dabei entstand dieses Foto mit Jay, einem Mitglied seiner Supreme Beingz Crew. «Eine echte Spontanaktion», sagt Perez. Ein TanzClown, extra für die Mittagspause.
«Ich wollte
das
THE RED BULLETIN 27
Frankie Perez über seine Bilder
FELDSTUDIEN
Montreal, Kanada, 2022
Perez’ Familie stammt ursprünglich aus der Dominikanischen Republik, Anspielungen darauf ziehen sich durch seine Arbeiten.
Zu diesem Foto inspirierte ihn das Bild eines dominikanischen Bauern am Feld. Es stammt aus derselben Serie wie das Bild rechts.
BRÜCKE RÜCKWÄRTS
Montreal, Kanada, 2022
Dieses Bild ist ein Brückenschlag – denn das Fotomodell kommt eigentlich vom zeitgenössischen Tanz.
«Ich wollte meine BreakingPerspektive auf jemanden projizieren, der gar kein Breaker ist», erklärt Perez. «Die ausufernde Bewegung gab mir die Möglichkeit, meine eigene Perspektive in das Foto einfliessen zu lassen.» Was für ein starker Einfluss!
28 THE RED BULLETIN
SCHUH - SHOOT
Montreal, Kanada, 2020
Bei jedem Shooting für eine grosse Kampagne versucht Perez, Breaker unterzubringen. Hier posiert B-Boy Fate von der Ground Illusionz Crew für Converse’ Herbstkollektion 2020.
ZWISCHENZEITEN
New York, 2022
«Ich möchte auch die Augenblicke zwischen den Posen einfangen», sagt Perez über seine Bilderserie mit dem New Yorker B-Boy Nebz. Sie entstand im Astoria Park in Queens, einige der Szenen sind Screenshots aus einem Video vom selben Tag. Perez: «Mir ist wichtig, Breakdance aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu zeigen.»
THE RED BULLETIN 31
EIN FLUG ZERFLIESST
Montreal, Kanada, 2020
Dieses Bild schoss Perez im Rahmen einer internationalen Kampagne für die britische ModePlattform Depop. «Das war ein Riesending für mich», sagt Perez, «denn ich sehe es als meine Mission, BBoys mehr Aufmerksamkeit innerhalb der Popkultur zu verschaffen.»
SPIN CITY
New York, 2019
Manhattan, nicht weit vom Astor Place: Hier fotografierte Perez seinen Kindheitsfreund B-Boy Spinnerak, mit dem er in New York aufgewachsen ist. Das Foto ist auch auf dem Cover seines Buches zu sehen und «eines meiner liebsten Fotos überhaupt».
KÜHLER DREIER
Seattle, Washington, 2022
Das Triptychon zeigt Anna Banana Freeze von den Massive Monkees, einer legendären Crew aus Seattle. Sie trat 2001 bei Lords of the Floor an, dem ersten von Red Bull gesponserten BreakdanceWettbewerb.
THE RED BULLETIN 33
EIN MANN STEHT AUF
Nach einem Unfall sitzt Giuliano Carnovali im Rollstuhl – und steht dennoch auf. Gegen die Resignation, für ein selbstbestimmtes Leben. Und für eine Karriere als Tennisprofi.
TEXT CHRISTOF GERTSCH
FOTOS LUKAS MAEDER
34 THE RED BULLETIN
Eine Rückhand wie ein Rückhalt: Giuliano Carnovali beim Fotoshooting in den Traglufthallen Frauental in Zürich
LOCATION: TRAGLUFTHALLEN FRAUENTAL ZURICH
anchmal bleibt Giuliano Carnovali nach dem Aufwachen noch ein wenig im Bett liegen und stellt sich vor, dass er mit seinem alten Skateboard einen Kickflip macht. Sprung in die Höhe, platzierter Tritt gegen das Board, sodass es sich in der Luft dreht. Giuliano hat eine klare Idee, wie es sich anfühlen muss, und sieht die Bewegungen vor sich. Doch wenn er unter der Decke dann an seinen Beinen hinunterblickt, weiss er wieder: Die Imagination ist schöner als die Realität. Carnovali, 24 Jahre alt, ist querschnittsgelähmt.
Das war er nicht immer. Carnovali – aufgewachsen und wohnhaft in Zürich – spielte Beachvolleyball, war Fussballgoalie im Quartierverein FC Wiedikon, fog mit dem Skateboard von hohen Treppen. Er liebte sein Leben und verschwendete keine Sekunde an den Gedanken, es könnte irgendwann anders sein. Warum auch? Niemand denkt über so etwas nach. Niemand fragt sich, wie es wäre, wenn man im Rollstuhl sässe. Und wenn wir es uns doch einmal vorzustellen versuchen, beruhigen wir uns schnell selbst: Uns wird das nicht passieren, uns ganz bestimmt nicht. «Ich will euch nicht Angst machen», sagt Giuliano Carnovali, «aber früher dachte ich auch so.»
Nein, Angst will Carnovali nicht machen. Er möchte aufmerksam machen. Er will aus seinem Leben erzählen, von seinem Unfall, der Diagnose. Vor allem aber von dem Kampf zurück. Menschen wie er sind nicht hilflos, sie brauchen kein Mitleid.
THE RED BULLETIN 37
Der Aufschlag Giuliano wirft mit der rechten Hand den Filzball in die Luft –ein motorischer Fortschritt.
Wenn er vor den Augen wildfremder Menschen aus dem Rollstuhl fällt, fühlt sich das nicht gut an – doch weniger aus Scham, sondern vor allem wegen der Reaktion der Leute. Was Giuliano Carnovali widerfahren ist, ist brutal. Aber er ist kein verbittertes Opfer, er ist jemand, der Mut aufgebracht und sich durchgekämpft hat. Davon handelt seine Geschichte. Er teilt sie mit uns, um zu inspirieren.
Die Stufen der Verarbeitung
Es war eine einzige Nacht, ein Moment nur, der für ihn alles verändert hat. Giuliano Carnovali erinnert sich daran nur bruchstückhaft. Aber das Gefühl, das ihn durchströmte, als er einige Tage später auf der Intensivstation des Universitätsspitals Zürich langsam wieder zu Bewusstsein kam, wird er sein Leben lang nicht vergessen.
Manche Menschen sind voller Bedauern, wenn ihnen ein schwerer Schicksalsschlag widerfährt, sie sind hoffnungslos und verlieren sich im Nichts. Andere Menschen entwickeln in einem solchen Moment eine ungeahnte Energie. Giuliano Carnovali sollte diese Stufen der Verarbeitung auch noch durchmachen, doch zunächst empfand er nur eines: Hass auf sich selbst. Er hasste sich dafür, dass er in der Silvesternacht auf das Jahr 2019 Alkohol getrunken hatte und gestolpert war. Hingefallen vor einen abfahrenden S-Bahn-Zug. Oder in der Fachsprache: schlimmes Überrolltrauma.
Die Diagnose: komplette Paraplegie ab dem ersten Lendenwirbel. Er war vom Bauchnabel abwärts vollständig gelähmt. Dazu die Ungewissheit, ob der rechte Unterarm je wieder zu etwas nütze sein würde. Beim Unfall war er vom Oberarm abgetrennt worden, Kollegen von Carnovali lasen ihn vom Boden auf und gaben ihn den Sanitäterinnen und Sanitätern mit in die Ambulanz. Im Spital wurde er wieder angenäht, in einem viele Stunden währenden
Kampf gegen die Zeit, nachdem man zuerst die Wunden und den Rücken versorgt hatte. Doch ob die Nerven je nachwachsen würden und Carnovali wenigstens das Handgelenk wieder würde bewegen können, wusste niemand vorauszusagen. Niemand wusste irgendetwas. Oder sagte irgendetwas. In diesen ersten Tagen der Intensivversorgung ging es nur darum, dass Giuliano Carnovali überlebt. Zehnmal lag er im Operationssaal. Mitte Februar, sechs Wochen nach dem Unfall, wurde er auf die Reha-Station der Universitätsklinik Balgrist verlegt. Anfangs war er überzeugt, es habe eh keinen Zweck, sich Mühe zu geben. «Ich dachte, komplett gelähmt ist komplett gelähmt. Was sollte ich da tun? Ich gab mich auf.»
Nach einem halben Jahr kam zwar noch nicht die Zuversicht zurück, aber doch sein alter Sportlerwille: Wenn er schon ein Leben lang im Rollstuhl sitzt, will er wenigstens ein ftter Rollstuhlfahrer sein. Im Kraftraum des Reha-Zentrums setzte er sich an die Geräte und trainierte seinen Oberkörper. Und dann, ein Dreivierteljahr nach dem Unfall, geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: Giuliano Carnovali spürte ein Zucken im Bein. Wie konnte das sein? Fragt man Carnovalis damaligen Arzt Björn Zörner, ob da ein Wunder geschehen sei, sagt er: «Nein.» Dann zögert er, überlegt kurz. Und sagt: «Na ja, vielleicht ein bisschen.»
Zwischen Diagnose und Prognose
Etwa 80 Prozent aller Patientinnen und Patienten mit der zu Beginn gestellten Diagnose «komplette Paraplegie» bleiben tatsächlich ein Leben lang vollständig gelähmt. Bei etwa 20 Prozent kehren gewisse motorische oder sensible Funktionen zurück. Es sind Prognosen, und auf Prognosen sollte man sich nie ganz verlassen, aber es ist so, dass man heutzutage recht gut voraussagen kann, in welche Richtung
Zuerst war da Selbsthass.
Doch dann entwickelte Giuliano ungeahnte Energien. Und einen neuen Plan für ein neues Leben.
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Kurze Erholung
Eine Trainingspause: Giuliano lehnt sich lässig ans Netz und entlastet dabei den Rücken.
Die Vorhand Giuliano smasht mit der Linken – und hält mit der Rechten das Gleichgewicht.
die Genesung geht. Nicht am Tag des Unfalls, aber nach vier bis sechs Wochen. Die grössten Fortschritte geschehen im ersten halben Jahr. Tritt bis dahin keine Besserung ein, gibt es normalerweise nicht mehr viel Grund zur Hoffnung.
Aber bei Giuliano Carnovali war alles anders. Erstens deuteten anfänglich keine Signale darauf hin, dass sich die Nerven erholen könnten. Zweitens trat die Verbesserung ungewöhnlich spät ein, nicht ein halbes, erst ein Dreivierteljahr nach dem Unfall. Und drittens machte er danach auch noch eine selten gute Entwicklung durch: Er hat, wie es Björn Zörner ausdrückt, «wieder eine relativ gute Kontrolle über die Beine». Das heisst, er kann aufrecht stehen und mit Gehhilfen sogar ein paar Schritte machen. So weit schaffen es nur etwa vier Prozent der Patientinnen und Patienten, die die Diagnose «komplette Paraplegie» erhalten. Einer von 25.
Ein erarbeitetes Glück «Ich hatte Riesenglück», sagt Giuliano Carnovali, «aber ich habe auch hart dafür gearbeitet.» Tatsächlich ist die Erholungswahrscheinlichkeit bei hochmotivierten jungen Sportlern besser als bei älteren Menschen mit vielleicht noch mehreren anderen Erkrankungen. Gleichzeitig ist es wichtig, den Eindruck zu vermeiden, dass jemand selbst schuld sei, wenn keinerlei Besserung eintritt. «Gegen gewisse Schäden kann auch der stärkste Wille nichts ausrichten», sagt Björn Zörner.
Mit dem Zucken im linken Bein fasste
Giuliano Carnovali wieder Mut. Demut klingt vielleicht ein wenig zu religiös –doch eigentlich ist damit eine Ergebenheit im Hinnehmen der Gegebenheiten gemeint. Vielleicht ist es das, was Giuliano Carnovali in jener Anfangszeit seiner Genesung entwickelte: Demut – kombiniert mit der Absicht, sich vom Rollstuhl nicht
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Nein, der Rollstuhl würde ihm nicht seine Selbständigkeit nehmen.
Schmerzen im Bein interpretiert wird. Das heisst, nicht das Bein löst die Schmerzen aus, der Schmerz entsteht in den gestörten Leitungsbahnen. Viele gelähmte Menschen haben Nervenschmerzen, aber nicht bei allen sind sie so stark wie bei Giuliano Carnovali. Sie übermannen ihn in der Nacht und verschwinden oft für viele Stunden nicht, sie durchzucken ihn wie Stromstösse etwa alle dreissig Sekunden. «Jede Nacht mit diesen Schmerzen ist ein Gang durch die Hölle», sagt er.
die Selbständigkeit, nicht die Freude, nicht die Aufmüpfgkeit nehmen zu lassen.
Ganz im Gegenteil, der Rollstuhl hat ihm ein völlig neues, völlig überraschendes Stück Leben gegeben. Oder ihn zumindest hingeführt. Giuliano Carnovali hat Rollstuhltennis entdeckt, eine der am schnellsten wachsenden Rollstuhlsportarten. Es gibt Leute, die von diesem Sport leben, einen internationalen Turnierkalender, man kann alle Grand Slams spielen: Australian Open, Wimbledon, French Open, US Open. So weit ist Carnovali noch nicht – aber dort will er hin. Dafür trainiert er dreimal pro Woche, kürzlich ist er ins Schweizer Nationalteam aufgenommen worden. Er schlägt mit der linken Hand, seiner einstmals schlechteren, und pusht mit der rechten den Rollstuhl. Denn auch da ist die Genesung besser vorangeschritten als prognostiziert: Feinmotorische Bewegungen kann er mit der Hand zwar nicht ausführen, aber er kann das Handgelenk bewegen und das Rad des Rollstuhls greifen. Er freut sich auf den Wings for Life World Run, bei dem er heuer bereits zum dritten Mal mitmacht. «An diesem Tag liegt immer etwas Positives in der Luft», sagt er (siehe Kasten auf Seite 42).
Übervolle Tage, durchwachte Nächte Und was macht Giuliano vor dem ersten Aufschlag und nach dem letzten Matchball? Er jobbt im Rahmen eines 50-Prozent-Praktikums in der Marketingabteilung einer Crypto-Firma, erledigt den Haushalt, mobilisiert jeden Morgen seine Beine, nimmt reihenweise PhysiotherapieTermine wahr. Seine Tage sind übervoll. Und die Nächte nicht immer so erholsam, wie er es sich wünschen würde. Giuliano Carnovali hat Nervenschmerzen. Sie entstehen dadurch, dass die Nerven, die im Rückenmark durchtrennt wurden, ein falsches Signal ans Hirn senden, das dann als
Seit er einen TikTok-Kanal mit Namen Castagul98 (tiktok.com/@castagul98) eingerichtet hat, um von seinen Fortschritten, aber auch von der alltäglichen Mühsal zu berichten, ist seine Followerschaft auf fast eine halbe Million angewachsen. Häufg flmt er sich einfach dabei, wie er aus dem Rollstuhl aufsteht. Ein Querschnittsgelähmter, der ein paar Schritte geht – es sind Videos mit Symbolkraft.
«Nach dem Unfall zog ich mich zunächst komplett von den sozialen Medien zurück», erzählt er. «Ich bemitleidete mich, war wütend. Ich hatte genug mit mir selbst zu tun. Mit der Zeit habe ich aber gemerkt, dass ich den Menschen Mut machen kann, indem ich auf TikTok meine Geschichte erzähle. Ich kann den Alltag von Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrern sichtbar machen.» Auch weil er damit eine Zielgruppe erreicht, die mit Menschen mit Behinderung normalerweise wenig zu tun hat – und wenn, dann auch damit alleine gelassen wird. So viele Menschen würden sich unglaublich schwertun, wenn sie jemandem wie ihm begegnen, sagt er, sie verhalten sich unnatürlich und steif. Aber er ist nicht hilflos.
Raus aus dem Optimierungswahn
Auf den Rollstuhl, das scheint klar, wird Giuliano Carnovali immer angewiesen sein. «Die Beine», sagt er, «werden nie wieder zu hundert Prozent funktionieren, dafür wurden einfach zu viele Nerven verletzt.» Ohnehin bekommt er wegen der Versteifung des Rückens höllische Schmerzen, wenn er zu lange aufrecht steht. «Die Wirbelsäule ist für immer kaputt, mein Rücken fühlt sich jeden Tag an, als wäre er erst gestern gebrochen.» Giuliano Carnovali möchte raus aus diesem Optimierungswahn, in den man schnell geraten kann, wenn man merkt, dass der Körper unerwartet Fortschritte macht. «Ich habe Angst, dass ich unzufrieden werde, wenn ich ständig etwas verbessern will. Lieber will ich im Leben ankommen und zufrieden sein mit dem, was ich erreicht habe.»
Dazu gehört, dass er den Rollstuhl auch mal zu Hause lassen kann, wenn er mit dem Auto in ein Café fährt, um Freunde zu
Manuell mobil Mit der rechten Hand lenkt Giuliano seinen Rollstuhl kreuz und quer über den Tenniscourt.
Und nicht die Aufmüpfigkeit.
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treffen. «Es bleiben Ausnahmen, doch es fühlt sich gut an, ohne Rollstuhl unterwegs zu sein», sagt er. «Mit Stöcken werde ich ganz anders wahrgenommen als im Rollstuhl, weniger bemitleidenswert, weniger hilfsbedürftig.»
Das ist der Moment im Gespräch, in dem Giuliano Carnovalis Stimme plötzlich lauter wird. Er ist hin- und hergerissen, fndet es einerseits schön, dass die Leute helfen wollen. Auf gar keinen Fall möchte er, dass man ihn für undankbar hält. Doch wahr ist auch, dass es ihn belastet, wenn man ihm hundert Mal am Tag den Vortritt lässt und die Tür aufhält. «Ich kann das selbst!», will er dann immer rufen.
Er sagt: «Menschen im Rollstuhl haben ihre Methoden. Sie kommen klar. Und
HOFFNUNGSLAUF
Die Wings for Life Stiftung fördert die Rückenmarksforschung.
«Meine Teilnahme verstehe ich als Zeichen der Dankbarkeit», sagt Giuliano Carnovali, der am 7. Mai zum dritten Mal mit seinem Rollstuhl beim Wings for Life World Run (WfLWR) am Start ist. 2004 gründete die Motocross-Legende Heinz Kinigadner nach dem Unfall seines Sohnes Hannes die Wings for Life Stiftung, eine gemeinnützige, staatlich anerkannte Stiftung für Rückenmarksforschung. Das Ziel: eine Heilung für Querschnittslähmung zu finden. Dazu fließen alle Startgelder und Spenden gesamt in die Rückenmarksforschung.
wenn nicht, sind sie es, die um Unterstützung bitten.» Pusht er sich mit dem Rollstuhl durch die Stadt, kommt er sich vor wie Moses, vor dem sich das Meer teilt, weil die Leute ihm so übervorsichtig und überbemüht aus dem Weg gehen. Wenn er stürzt oder aus dem Rollstuhl fällt, rennen sie auf ihn zu, stellen seinen Rollstuhl auf, ziehen ihn hoch.
«Das ist lieb gemeint», sagt Giuliano Carnovali, «aber ich möchte nicht ungefragt von wildfremden Menschen berührt werden. Ich falle täglich um, das macht mir nichts. Ich bin als Skater aus ganz anderen Höhen zu Boden gefallen.»
Man könnte auch sagen: Fallen hat das Leben von Giuliano Carnovali geprägt. Aufstehen aber auch.
Anita Gerhardter, CEO der Wings for Life Stiftung, sagt: «Je mehr Geld wir sammeln, desto mehr Studien können wir finanzieren – und desto schneller erreichen wir unser Gesamtziel.» Derzeit suchen Forscherinnen und Forscher weltweit in verschiedenen Bereichen nach Lösungen. So arbeitet Professor Michael Kilgard von der University of Texas an der Stimulation des Vagusnervs, was es Menschen mit Rückenmarksverletzungen ermöglichen würde, ihre Hände wieder zu bewegen. Oder Grégoire Courtine von der École Polytechnique Fédérale de Lausanne (EPFL) in der Schweiz, der mithilfe der Elektrostimulation Menschen mit Rückenmarksverletzungen wieder in die Lage bringt, ein paar Schritte zu gehen. Insgesamt wurden bisher 276 Projekte gefördert.
Die Vorbereitung, die Anmeldung – alle Details zum Wings for Life World Run: Seite 90.
Da sind diese Momente, die Giuliano an Moses erinnern – und das Meer, das sich vor ihm teilt.
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Ein Lächeln für die Kamera – und doch von ganz innen: Giuliano ist in seinem neuen Leben angekommen.
7. MAI 2023 - ZUG
DEIN LAUF. DEINE DISTANZ. DEINE ZIELLINIE.
LAUF MIT UNS.
WIR LAUFEN FÜR ALLE, DIE NICHT LAUFEN KÖNNEN.
100% ALLER STARTGELDER FLIESSEN IN DIE RÜCKENMARKSFORSCHUNG.
SWITZERLAND
EISKALT DURCH DEN WALD
Kalle Rovanperä ist mit seinen 22 Jahren der jüngste Rallye-Weltmeister. Aber abgebrüht wie ein alter Fuchs. Wir drifteten mit ihm durch die Wälder seiner finnischen Heimat. Ein Trip in die klirrende Kälte. Und zum Ursprung seiner Coolness.
TEXT WERNER JESSNER FOTOS OSSI PIISPANEN
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Ein Heimrennen Kalle Rovanperä beim Training nahe Jyväskylä. Auf dieser Strasse war er bereits als Kind unterwegs.
OUNINPOHJA. RUUHIMÄKI. PÄIJÄLÄ.
Wörter wie Sonderprüfungen. Für unsereins rein phonetisch, doch für die Finnen gnadenlos wahrhaftig. Denn das hier sind Wörter, die Sonderprüfungen der Rallye Finnland benennen. Und die wird seit 1951 Jahr für Jahr ohne eine einzige Unterbrechung ausgetragen und stellt eine Art nationalen Heiligtums dar: Wenn sich die besten Rallye-Fahrer der Welt auf den verwinkelten Schotterpisten entlang der Seeufer, durch die Birkenwälder und kreuz und quer über die weiten Wiesen messen, wenn sie es dabei auf eine Durchschnittsgeschwindigkeit von bis zu 130 km/h bringen und mit ihren bunt gesprenkelten Karossen mehr als 50 Meter springen – dann ist das ganze Land auf den Beinen und feuert seine Helden an. Es dauerte genau vierzig Jahre, bis der erste Nicht-Skandinavier im Land der tausend Seen gewinnen konnte, und wenn es nach den Finnen ginge, hätte es bei diesem Intervall bleiben können.
Doch wir wissen, was geschah: Die beiden Franzosen mit dem gemeinsamen Vornamen Sébastien, nämlich die formidablen Monsieurs Loeb und Ogier, bremsten die Nordländer aus und machten sich den Rallye-WM-Titel über Jahre mehr oder weniger untereinander aus. Und die Finnen, die sahen ihr Glück zerrinnen. Bis, ja bis …
In den Wäldern rund um die Stadt Jyväskylä, Mittelfnnland, war damals ein Knirps, der zuerst seinen Vater Harri, später gemeinsam mit seinem Vater die anderen fnnischen Star-Piloten anfeuerte wie hunderttausend andere Fans auch. Sein Name: Kalle Rovanperä. «Ich hatte nie Idole», erinnert er sich. «Doch zu meinem Vater habe ich immer aufgeschaut und war bei den meisten seiner Tests dabei.» Rund um die Jahrtausendwende, als Kalle zur Welt kam, gehörte sein Vater Harri Rovanperä zu den Schnellsten seines Fachs. Er war Werkspilot für Peugeot, Mitsubishi, Seat
und Škoda, gewann den WM-Lauf in Schweden. Doch für den ganz grossen Durchbruch reichte es nicht, seine Karriere blieb unvollendet, das gibt er heute auch ganz offen zu. Die Gründe? «Ich habe immer wieder Crashs gebaut. Und später gab es Hierarchien im Team, die ich respektieren musste.» Mit anderen Worten: Sein Teamkollege Marcus Grönholm sollte Weltmeister werden, Harri war als sein Unterstützer abgestellt, und im Grunde wusste er, was wahre Champions ausmacht.
Der Max-Verstappen-Boost
Zu diesem Zeitpunkt hatte Harri Rovanperä parallel bereits ein anderes Projekt gestartet: Genau wie Jos Verstappen seinen kleinen Sohn Max setzte Harri sein Söhnchen Kalle sehr früh ins Kart. Und dann ging alles ganz schnell: Mit sechs Jahren durfte Kalle zum ersten Mal selbst Auto fahren. Vom Achtjährigen gibt es Videos, in denen er mit einem zum Rallye-Auto umgebauten Kleinwagen auf einem zugefrorenen See driftet, «sicherheitshalber auf Schnee und Eis wegen der geringeren Geschwindigkeiten». Dann kaufte Harri dem kleinen YouTube-Star das erste richtige Rallye-Auto. Damit fuhr er im benachbarten Estland Rallye-Sprints ohne Beifahrer. Während Vater Verstappen mit seinem Sohn von Kartrennen zu Kartrennen tourte, durfte Kalle ganz Kalle bleiben. Harri: «Ich musste ihn nie zum Rallye-Fahren überreden.» Doch dann passierte das scheinbar Unvermeidliche. Kalle: «Mit zwölf Jahren verlor ich komplett das Interesse am Rallye-Fahren. Neun Monate lang habe ich das Auto nicht einmal angeschaut. In dieser Zeit habe ich das gemacht, was andere Kinder machen.»
Improvisiert Die Toyota-Crew hat sich für die Tests in Finnland kurzerhand in eine Tischlerei eingemietet.
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Fokussiert Kalle während einer Trainingspause in seiner finnischen Heimat
Doch irgendwann vor Weihnachten, so Harri, kam Teenager Kalle zu ihm: Er wolle wieder einsteigen. Harri schleppte den Citroën C2, der so lange geparkt war, nach Lappland, Kalle stieg ein – und seither nie wieder aus. Eine Sondererlaubnis des lettischen Verbandes erlaubte es ihm, mit 15 Jahren in der dortigen Meisterschaft zu starten. Auf den Verbindungsetappen übernahm mangels Führerschein der Beifahrer, nur auf den gesperrten Sonderprüfungen durfte Kalle selbst hinters Steuer. Müssig zu erwähnen, dass Kalle Rovanperä dreimal den lettischen Titel holte. «Da konnte man schon sehen, dass er das gewisse Etwas hatte. Er war mit 15, 16 Jahren bereits schneller, als ich es je gewesen war», sagt Harri. Doch nicht nur das. Rovanperä junior war der jüngste Fahrer in der Geschichte des Rallye-Sports, der es in die WM-Punkteränge schaffte, Jüngster auf dem Podium, jüngster Sieger eines WM-Laufs und seit 2022 auch jüngster Rallye-Weltmeister – mit 22 Jahren und einem Tag. (Es ist schwer, jetzt nicht wieder an Max Verstappen zu denken.) In einer Sportart, in der Erfahrung alles ist, war er um fünf (!) Jahre schneller am grossen Ziel als der bisherige Rekordmann Colin McRae.
Zwischen Revolution und Diskretion
Das «Revolution» in Jyväskylä ist eine Mischung aus Bar und Restaurant, an einem Tisch sitzt ein auffallend zart gebauter junger Mann mit einem Kumpel und isst einen Burger. Hier herinnen ist es wohlig warm, doch draussen herrscht grimmiger Winter. Temperaturen im zweistelligen Minusbereich, sämtliche Strassen reine Schneepisten, kurze Tage, kaum Licht. Nur im «Revolution» glänzt ein Star. Man merkt an den Blicken der anderen Gäste, dass sie in ihm den Rallye-Weltmeister erkennen, doch mehr passiert nicht. Kalle, der inzwischen in Monaco wohnt wie so viele Rennfahrer, schätzt das an seinen Landsleuten: «Sie werden nie zudringlich. Doch auch daheim in Monaco umgebe ich mich mit normalen Menschen, nicht mit Promis.»
Dass er Geschichte geschrieben und den WM-Titel bereits zwei Läufe vor dem Finale eingefahren hat, macht ihn zum Volkshelden: «Rallye fahre ich, um zu gewinnen. Mir ist egal, mit wie viel Vorsprung.» Darin unterscheidet er sich von vielen Legenden seines Sports wie dem Deutschen Walter Röhrl, dem Perfektion in der Fahrt stets wichtiger war als Resultate. Vater Harri: «Kalle ist eine ganz andere Generation als wir damals. Viel schlauer, zielorientierter und unglaublich reif für
Vater und Sohn Harri Rovanperä und Sohn Kalle schnappen zwischen zwei Tests (ziemlich frische) Frischluft.
«Ich fahre Rallyes, um zu gewinnen. Mein Vorsprung ist mir völlig egal.»
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Wie auf Nadeln Kalles Spikes sind 20 Millimeter lang, sieben ragen aus dem Gummi.
seine 22 Jahre. Höchstens die Ruhe in Extremsituationen hat er von mir. Ich glaube nicht, dass sich Vater Rovanperä und Vater Verstappen ähnlich sind – aber die Söhne sind es. Sie wollen unbedingt gewinnen und investieren neben ihrem Talent unglaublich viel Arbeit.» Und Kalle fällt eine weitere Parallele zu seinem WeltmeisterKollegen auf: «Sowohl Max als auch ich sind unter schwierigen Bedingungen besonders stark. Starkregen – das ist genau unsere Witterung.»
Englisch-Evolution mitten in Finnland
Man kann die fnnische Evolution von Harri zu Kalle auch an der Sprache festmachen: Harri pfegt das typisch fnnische RennfahrerEnglisch seiner Generation, viele vereinfachende Infnitive und harte Aussprache prägen den Sound der fnnischen SisuRacer. «Sisu» kann man nicht übersetzen, es übersetzt sich von selbst in der Person von Harri Rovanperä und anderen RallyeFahrern aus den Weiten Finnlands: durchhalten, weitermachen, das Gaspedal so lange durchdrücken, bis die Welt kapiert, was man kann. Kalles Englisch ist füssig und weltgewandt. Und während Harri seine RallyeSkills halblegal in der Nacht verfeinerte, auf einsamen Strassen im Wald, und Freunde den Dorfpolizisten ablenkten, werden für Kalle offziell Strassen gesperrt, mit Sicherheitsposten und Rettungswagen auf Standby. Und nun bittet Kalle zur Testfahrt: Die Strecke hier bei Korpilahti, 30 Kilometer von Jyväskylä entfernt, ist tief verschneit. Es geht auf und ab, typisch fnnisch. Kalle sitzt in seinem Toyota Yaris, sechster Gang. Ein Blick auf den Tacho: 180 km/h. Die Bäume, die den
Strassenrand säumen, lässt Kalle – auch im Wissen um die 20 Millimeter lange Spikes an den Reifen – ziemlich fott und ziemlich nah an sich ran, nahezu beängstigend. Das Gefühl verstärkt sich, nähert man sich einer Kuppe, allerdings nicht geradeaus, sondern in einer leichten Linkskurve. Alle vier Räder heben vom Boden ab, kurz wird es still im Auto. Dann setzt es wieder auf, in einer einzigen, füssigen, sparsamen Bewegung rückt es Kalle gerade. Wie geschmeidig Kalle seinen Toyota bedient: Da ist keine Hektik, nichts Unrhythmisches. Dieser Kerl bespielt seinen Yaris wie ein Instrument.
Rad-Check Ein Servicemann überprüft nach der Trainingsfahrt Räder und Reifenprofil.
Kalle & Jonne
Der Beifahrer
Jonne Halttunen ist um 15 Jahre älter als der Pilot.
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Gewachsen zwischen Schnee, Schotter und Asphalt – schon mit sechs sass Kalle hinterm Steuer.
Der Rückhalt Vater Harri legte den Grundstein zu Kalles Karriere – ähnlich wie Jos Verstappen für seinen Sohn Max.
Das Geschoss Kalle startet zur Titelver teidigung wieder im Toyota Yaris WRC.
Instagram: @kallerovanpera
«Auf diesem Weg hier bin ich zum ersten Mal mit zwölf Jahren gefahren», holt er während der Fahrt aus. «Vielleicht erklärt das meinen frühen Erfolg: Ich mag zwar jung sein, aber ich bin erfahren.» Während seiner gesamten Karriere in der höchsten World-RallyChampionship-Kategorie hatte Kalle exakt vier Ausfälle, während die meisten seiner Kollegen jahrelang ihre Karossen schrotten, bevor sie wissen, wo ihr Limit liegt. «Vielleicht fahre ich eben mit Hirn», grinst Kalle, und das kommt überhaupt nicht hochmütig rüber.
Das Lob des dritten Mannes Jener Mann, der seit sechs Jahren professionell neben Kalle Rovanperä sitzt, heisst Jonne Halttunen und ist um 15 Jahre älter. Vater Harri vergleicht die beiden mit Brüdern, «allerdings weiss man oft nicht, wer von den beiden der Ältere ist». Jonne, warum hast du dich damals neben einen Teenager ohne Führerschein ins Auto gesetzt? «Ich war mehrfacher fnnischer Champion und wollte WM-Prof werden. An Kalles Seite sah ich diese Chance. Er war schon als Teenie sehr reif, er fährt materialschonend und ist generell ziemlich clever. Wir hatten noch nie Streit. Kalle weiss genau, wann er attackieren muss – und dann kennt er keine Gnade.»
Frage an seinen Teamchef Jari-Matti Latvala, der trotz einer durchaus erfolgreichen Karriere im Cockpit selbst nie Weltmeister war: Warum ist Toyota das Risiko, einen Teenager zu verpfichten, eingegangen?
«Kalle fuhr trotz seiner jungen Jahre wie ein Erwachsener – aber vor allem hat er die wenigen Fehler, die ihm
passiert sind, schnell und ehrlich aufgearbeitet.» Was ihn aus Sicht des Teamchefs auszeichnet? «Vier Dinge. Erstens: Er kann sich schneller als andere auf neue Autos einstellen. Zweitens: Er kann in entscheidenden Situationen mehr Risiko als andere nehmen und das Auto trotzdem auf der Strasse halten. Drittens: Unter harten Bedingungen, wenn andere zucken, blüht er auf. Viertens: Er ist resistent gegen Druck. Zwar versuche ich, im Team eine Kultur zu etablieren, in der alle mit einem Lächeln unterwegs sind, allem Druck zum Trotz. Als Fahrer ist das dann aber doch noch mal was anderes, das kenne ich aus eigener Erfahrung. Wenn es um die Wurst geht, wenn es die Chance gibt, zu gewinnen, macht das etwas mit der Psyche des Piloten. Kalle habe ich nur ein einziges Mal nervös erlebt: als es 2022 in Neuseeland um den WM-Titel ging.» Den sicherte sich das Duo Rovanperä/Halttunen dennoch mit einer abgeklärten Fahrt, direkt vor dem Teamkollegen und achtfachen Champion Sébastien Ogier.
Und was waren die ersten Worte, die Harri und Kalle Rovanperä als Weltmeister wechselten? Kalle: «Ich weiss es wirklich nicht mehr.» Harri: «Ich glaube, irgendwas in der Richtung von ‹Geschafft!›.» Co-Pilot Jonne mischt sich ein: «Ich weiss genau, was du zu mir gesagt hast, als klar war, dass wir Weltmeister sind: Perkele!»
Wieder eines dieser Wörter, die uns Mitteleuropäern wie eine Sonderprüfung von der Zunge gehen. Es bedeutet so viel wie «Teufel!». Doch mit dieser Emotion steht Kalle Rovanperä dann doch ziemlich allein da. Denn alle anderen heben ihn in den Rallye-Himmel.
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SIE ROLLEN …
Frischer Brit-Hit
Georgia South (links) und Amy Love bilden das Rock-Duo Nova Twins.
Ihr Sound ist rau und unpoliert – doch das war nicht immer so.
ÜBER DEN ROCK
…
TEXT LOU BOYD, MARC DECKERT FOTOS STEPHANIE SIAN SMITH
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or dem Electric Brixton in Brixton Hill, South London, hat sich eine rasch anwachsende Warteschlange gebildet. Der Mix aus Generationen und Styles lässt irgendein breit gefächertes Festival vermuten. Oder vielleicht eine Demo? Aber dass alle auf dasselbe Rockkonzert gehen, das überrascht dann doch. Und noch überraschender ist, welche Musik diese bunt schillernde Crowd da angelockt hat: Die Nova Twins, der LiveAct, auf den alle warten, spielen energiegeladenen Heavy Rock mit gerappten Lyrics. Und das praktisch in ihrem erweiterten Wohnzimmer, denn beide stammen aus dem Londoner Süden.
Nova – what? Der Sound der Twins erinnert an den Alternative-Rock- und Crossover-Trend der Neunzigerjahre – wer sich an Rage against the Machine und ihren Hit «Killing in the Name» von 1992 erinnert, ist schon ganz nah dran. Erstaunlich, dass
Vzwei in London aufgewachsene sehr junge Frauen – ihr genaues Alter verschweigen sie selbstmystifzierend – gerade diesen Stil für sich entdeckten. Und noch erstaunlicher: Nach einer Frischzellenkur wirkt das alles auch noch wie neu.
Sängerin Amy Love hat nigerianische und iranische Wurzeln, Bassistin Georgia South jamaikanische und australische. Und selbst wenn sie schwere Metal-Riffs spielen, schwingt all das mit und klingt deshalb absolut eigenständig. No doubt, diese Berufszwillinge schliessen die Lücke zwischen harter Rockmusik und den jungen urbanen Klängen Englands wie dem Grime – und sprechen eine Generation an, die mit ihnen gemeinsam harten Rock neu entdeckt. Kurzum: Den Nova Twins gelingt nichts Geringeres, als dem fast schon abgeschriebenen Genre Alternative Rock neues Leben einzuhauchen – und ihn für eine junges Publikum zu öffnen.
Poesie für Herz und Oberarm 2022 haben Amy und Georgia «Supernova», ihr zweites Album, veröffentlicht; und die Bands, die sie im vergangenen Jahr supporteten – unter anderem Enter Shikari, Skunk Anansie, Sleaford Mods – zeigen, dass sie in die verschiedensten Ecken der alternativen Musikszene vorgedrungen sind. Und aus all diesen Ecken kommt nun der Zustrom. Zu ihrem Homecoming-Gig sind aber auch einige der treuesten Unterstützer gekommen: Love und South hatten in den Clubs dieser Gegend ihre ersten Auftritte als Teenager.
Die Türen werden nicht vor 19 Uhr geöffnet, aber einige Fans harren, gut versorgt mit Sandwiches und Dosencider, seit Mittag aus. Amy, eine junge Frau, die ganz
Band & Bande Georgia South (links) und Amy Love funktionieren als Band – doch genauso stark sind die privaten Bande.
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Erst besuchte Amy Love aus South London noch brav die Musikschule – gemeinsam mit Ed Sheeran. Doch als es ihr zu langweilig wurde, bog sie scharf ab. Gemeinsam mit ihrer Freundin Georgia South gründete sie die Band Nova Twins: Zwei junge Frauen erobern die Welt des Rock – und ebnen den Weg für eine neue Generation.
Smile your style
Die Nova Twins entwerfen unter dem Label Bad Stitches ihre eigenen Looks und Styles.
vorn in der Schlange steht, ist besonders früh gekommen. Sie will die Band bitten, etwas auf ihren Oberarm zu schreiben –als Basis, auf der in den Tagen nach dem Gig ein monumentales Tattoo entstehen soll: «From Persia to Nigeria, London to Jamaica, our ancestors were sailors, crossed over the equator» – die Lyrics stammen aus dem Nova-Twins-Song «Cleopatra».
«Was für eine verrückte Zeit», stöhnt Sängerin und Gitarristin Amy Love und lehnt sich – in melodramatischer Erschöpfung – an die Schulter ihrer Bandpartnerin Georgia South. «Wir können es selbst nicht ganz begreifen.» An den vergangenen drei Abenden standen sie bis spätnachts auf der Bühne, erst in den frühen Morgenstunden sind sie nach London gereist für den krönenden Abschluss-Gig eines hektischen Jahres – 2022 spielten sie 90 Konzerte.
Ein Zebra im Minirock
Bei der Begrüssung ihrer Crew für den Abend zeigen die beiden aber keinerlei Anzeichen von Müdigkeit mehr. Sie tragen ihr opulentes Nova-Twins-Make-up, schwere schwarze Stiefel und selbst geschneiderte Miniröcke. Bassistin Georgia ist eingehüllt in einen XL-Kunstpelz mit Zebramuster.
Doch all die Extravaganz ist nur Fassade, dahinter herrscht tiefe Vertrautheit. Bereits als Teenager lernten sich die Twins über Georgia South’ Bruder kennen und stellten fest, dass sie gut miteinander können. «Du kamst einfach so reingeschneit», sagt South und strahlt. Sogleich wurde Amy Love der gesamten South-Family vorgestellt. Sie erinnert sich: «Ich bin gleich über Nacht geblieben und dann einfach nicht mehr weggegangen.» Die Musik war von Anfang an
das Bindeglied zwischen den beiden. «Jeder in Georgias Familie ist musikalisch», sagt Love. «Ist doch so! Deine Mum, dein Dad, deine Brüder – alle Musiker!»
Doch zunächst hatten die beiden gar nicht vor, selbst eine Band zu gründen. Und schon gar keine so ungehemmt exaltierte. Love studierte an der British Academy of New Music Seite an Seite mit Ed Sheeran, dem Folk-Popper oder, wenn’s hoch hergeht, Soft-Rocker. Doch dann kam Georgia, die sich nach langem Hin und Her endlich von ihrer alten Formation losgeeist hatte. «Immer hiess es: Ihr solltet was zusammen machen», sagt sie, «und wir antworteten immer nur: ‹Nein, geht nicht.› Irgendwie war es jedem sofort klar – ausser uns selbst.»
2014 ergaben sie sich schliesslich der Vernunft der anderen und gründeten doch eine Band. Sie nähten ihre eigenen BühnenOutfts und flmten Musikvideos mit ihren Smartphones, unter freundlicher Mithilfe von Georgias Mutter. Bald tingelten die Teenager durch die Open-Mic-Szene South Londons. «Unser Sound war von Anfang an da», sagt South. «Als wir unseren allerersten Song schrieben, waren da nur mein verzerrter Bass und Amys punkige Stimme.»
Schwere Powerchords, verzerrte Basslinien, Sprechgesang: Was hier zusammenkommt, ist neu und klingt doch irgendwie vertraut. In den Neunzigern kamen MetalGitarren durch den Grunge aus Seattle wieder in Mode. Gleichzeitig war Hip-Hop am Höhepunkt, N. W. A. füllten Arenen. Weisse Kids aus der Mittelschicht kauften die Alben – eine riesige Zielgruppe. Dort, wo sich beides traf, Metal und Rap, wurde der entstandene Sound in Ermangelung eines besseren Begriffs «Cross-
Amy Love über die Anfänge der Nova Twins
«Ich bin gekommen, über Nacht geblieben – und nicht mehr weggegangen.»
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over» genannt. Crossover lebte von harten Riffs, hatte aber eben auch ein rhythmisches, funkiges Element. Rage Against the Machine luden ihren Sprechgesang mit elementarer Wut und Sozialkritik auf. Doch die Crossover-Herrlichkeit hielt nicht lange an. Genauso wie Alternative Rock nach dem x-ten Lollapalooza Festival irgendwann öde wurde, mündete Crossover in das doch etwas posenhaft-bemühte Nu Metal. Doch England ging während der Neunzigerjahre einen Sonderweg. Dort setzten die Britpop-Bands der amerikanischen Welle ein komplett anderes Image und einen eigenen Sound entgegen. Die harte US-Schule blieb eine Randerscheinung. Das könnte ein Grund dafür sein, dass die Nova Twins genau diese Musik heute so frisch spielen können – ganz ohne ausgeleierte Saiten und ausgetretene Pfade. Für das, was sie machen, gibt es ohnehin keine Blaupause, schon deshalb nicht, weil Alternative Rock früher reine Männersache war. Um das zu verändern, braucht es einen ganz neuen Ansatz – und eine neue Generation.
Schweizer Mundartboom
In der Schweiz nahm bereits in den 1980erJahren das Elektropop-Duo Yello die Zukunft der Popmusik vorweg. Die Band gehörte zu den prägenden Figuren der Musikvideo-Kultur, die dem Aufkommen von MTV Rechnung trug. Stellvertretend für die 1990er-Jahre dröhnten Techno, Hip-Hop, Eurodance und DJ Bobo durch die Kopfhörer. Und der Rockmusiker Gölä schrieb mit seinem Debütalbum „Uf u dervo“ Musikgeschichte, das Album verkaufte sich über 300.000 Mal und löste einen Mundartboom aus. Bis sich Anfang der 2000er-Jahre dieselbe Müdigkeit einstellte wie in den USA.
Die Labels und das Musikfernsehen wandten sich neuen Attraktionen zu. Doch dann kamen plötzlich die AlternativeZwillinge aus South London: Der Ansatz der Nova Twins ist aktueller und politischer – auch aufgrund ihres Status als POC-Band, also People-of-Color-Band, in einem von weissen Acts dominierten Rockgeschäft.
Während der Pandemie stellen sie eine Playlist auf ihr Spotify-Band-Profl, aus der sie später eine Interview-Serie machen: «Voices for the Unheard». Die beiden reden darin mit anderen Musikerinnen und Musikern darüber, wie man im Business wahrgenommen wird, wenn man aufgrund seiner Hautfarbe nicht in ein vermeintlich unverrückbares Genrebild passt: zum Beispiel als schwarzer Metal-Act.
Eigentlich sollte man darüber ja gar nicht gross reden müssen. Denn Rockmusik ist originär schwarze Musik, schliesslich hat sich Rock ’n’ Roll in den Fünfziger-
Georgia South über musikalische Freiheit
«Rockmusik und Afro, das schien nicht zusammenzupassen –ganz egal, wir feiern, wer wir sind!»
60 THE RED BULLETIN FREDERICA BURELLI
Feuer unterm Dach Die Nova Twins auf der Bühne des Electric Brixton in Süd-London: Flammen zu Beginn, Umarmung nach dem Schlussakkord
jahren des 20. Jahrhunderts aus dem Rhythm and Blues entwickelt. Doch in der Rock-Gegenwart werden oft seltsame Grenzen gezogen: «Ob in Amerika oder in Grossbritannien, die Künstler, mit denen wir sprachen, hatten allesamt ähnliche Erfahrungen. Zum Beispiel, dass man nur deswegen nicht zu einem Festival eingeladen wird, weil die schon einen POC-Act im Programm haben», sagt Georgia South. «Du kannst offenbar nicht Team Rock sein, wenn du einen Afro hast.»
Offenbar nicht – aber letztendlich doch: «Look me in the face, say you’ve never met someone like me», fordert Amy Love im Song «Antagonist». Und in «Cleopatra» feiern die Twins ihre Identitäten: «Blacker than the leather, that’s holding our boots together, if you rock a different shade, we come under the same umbrella», rappt Love. «Wir wollten feiern, wer wir sind, und Stolz auf unsere Herkunft ausdrücken», sagt Georgia. «Und wir hoffen, dass wir damit auch andere Menschen dazu ermutigen.»
Hüpfen zum Höhepunkt
Sieben Stunden nach ihrer Ankunft im Electric Brixton öffnen sich die Tore, und der Saal und die Balkone füllen sich rasch. Da sind Gangs von Teenagermädchen an den Absperrungen vor der Bühne, Väter und Söhne, Paare. Als endlich die Lichter ausgehen, brüllt der ganze Saal.
N-O-V-A! Vier grosse Leuchtbuchstaben hinter der Bühne blitzen nacheinander auf, als Love und South die Bühne entern. Dazu schiesst eine Feuerwand aus dem Boden. Schon im ersten Song teilt sich die Menge zum Moshpit. Beim zweiten Stück spielen beide Frauen vor der Bühne direkt zwischen den Fans. «Bei unseren Shows sind alle im Pit», hat Love vor der Show erzählt. Alle, das schliesst sie selbst mit ein.
Erlebt man das Duo vor Publikum, dann hat man den Eindruck, dass sie genau dort angekommen sind, wo sie hinwollen. Loves selbstbewusste Bühnenpräsenz und die Kraft ihrer Stimme bilden live eine Einheit, South lässt all ihre aufgestaute Energie heraus, fitzt während des gesamten Sets wie aufgezogen über die Bühne.
«Als wir im Lockdown Songs geschrieben haben, konnten wir uns nur vorstellen, wie wir sie live spielen», erzählt Georgia South. «In meinem Schlafzimmer dachte ich manchmal: Diese oder jene Stelle wird der Höhepunkt. Klar hüpfe ich jetzt dazu!» Und auch Amy, das Mädchen aus dem Publikum, hüpft: Sie hat ihre handgeschriebene Textzeile am Oberarm. Schon am nächsten Tag wird der Tätowierer zustechen.
Tourdaten und Infos: novatwins.co.uk, Instagram: @novatwinsmusic
THE RED BULLETIN 61
Saray Khumalo ist die erste schwarze Afrikanerin, die den Mount Everest und fünf der Seven Summits erklomm. Je höher sie klettert, desto mehr Spenden bekommt sie zusammen. Nicht für sich, sondern für bessere Schulbildung in Südafrika.
METER FÜR METER EINE MISSION
TEXT MARK JENKINS
COURTESY OF SARAY KHUMALO
Zwischenziel
Im Jahr 2014 bestieg Saray Khumalo den Elbrus im Kaukasus, einen der Seven Summits.
THE RED BULLETIN 63
Hoch hinaus Saray will als erste schwarze Afrikanerin die Seven Summits und die Pole bezwingen.
eiter weg von der Zivilisation kann man kaum sein. Wir befnden uns mitten in den Drakensbergen, «Drachenberge» auf Afrikaans, dem höchsten Gebirge hier im südlichen Afrika, und Saray Khumalo ist munter am Arbeiten. Jedenfalls, solange sie Handyempfang hat. Wenn es regnet, spannt sie ihren Schirm auf und stapft durch Pfützen. Abends höre ich, wie sie in ihrem Zelt arbeitet. Khumalo, 51, war einmal Bankerin und Versicherungsbeamtin. In Sambia geboren, lebt sie in Johannesburg. Und sie ist die erste schwarze Afrikanerin, die den Gipfel des Mount Everest erreichte.
2019 erklomm sie den Everest auf der klassischen Route über den Südostgrat. Drei schwierige und enttäuschende Versuche in den Jahren 2014, 2015 und 2017 waren dem vorausgegangen. Doch ihre Entschlossenheit ist beides, unaufdringlich und unerschütterlich. Auf der einen Seite hat Khumalo Geist und Stil (sie zierte etwa Titelseiten von Modemagazinen), ist weltgewandt und eloquent – auf der anderen Seite legt sie eine Leidensfähigkeit an den Tag wie jeder klassische Bergsteiger, sobald es sie in die Berge zieht. Khumalo versteht es, ihren sportlichen Erfolg für einen höheren Zweck zu nutzen, und beherrscht Vorstandssitzungen ebenso wie Presseaussendungen. Um Ruhm und Ehre geht es ihr bei ihren Abenteuern nicht – sie will Bibliotheken für schwarze Kinder in Südafrika bauen und deren Aufstiegschancen und Zukunftsaussichten verbessern. Für diese Kinder klettert Khumalo.
Unsere Wanderung in den Drakensbergen hätte gelinde gesagt besser beginnen können. Seit fünf Monaten organisiert Saray (ausgesprochen wie «Sarah», mit rollendem «r») Khumalo an den Wochenenden Bergtouren für Anfänger. Alle Teilnehmenden stammen aus Südafrika oder Indien und sind erfolgreich in ihren Unternehmen in der Geschäftsleitung oder Unternehmensführung tätig. Die Ausrüstung ist gut, und ihre Jobs sind so fexibel, dass sie sich problemlos eine Woche freinehmen können. Neben Saray Khumalo an der Spitze: Sibusiso Vilane, 52, der erste schwarze Afrikaner, der den Everest und die übrigen Seven Summits
Werklommen hat, also den jeweils höchsten Gipfel jedes Kontinents – den Aconcagua, den Denali, den Kibo (im Kilimandscharo-Massiv), den Elbrus, den Mount Vinson und die Carstensz-Pyramide.
Zitternd in die Schlafsäcke
Tag eins ist die reinste Katastrophe. Unser Ziel war es, einen Steilhang zu erklimmen, am späten Nachmittag sind wir aber nicht einmal annähernd oben angekommen. Wir sind gefangen in einer steilen, engen Schlucht, kalter Regen bläst uns von der Seite um die Ohren, und die Dunkelheit bricht herein. Wir hätten schon vor Stunden anhalten sollen, jetzt ist es zu spät. Nach Absprache mit Khumalo suche ich nach Übernachtungsplätzen, aber es gibt keine – das Terrain ist zu steil. Vilane wiederholt seine Vermutung, dass die Oberseite der Abbruchkante nicht weit sei. «Da ist sie doch schon!», ruft er und zeigt auf eine Kerbe in diffuser Ferne. Aber für die Neulinge ist das zu weit. Wie ich erfahre, haben wir uns die schroffen grünen Drakensberge in der falschen Jahreszeit vorgenommen. Der höchste Gebirgszug Südafrikas umfasst mehr als 1000 Kilometer monumentaler Steilwände und tiefer Schluchten. Wir haben November, also Sommeranfang, und es regnet unablässig. Wenn man auf über 3000 Meter aufsteigt, kommt häufg noch Schnee dazu.
Nach Einbruch der Dunkelheit sind wir gefährlich weit verteilt. Beim Blick nach unten zeigen unsere Stirnlampen – wie Sterne, die kaum zu erkennen sind –, dass einige Teammitglieder weiter auf dem glatten Geröll nach oben stolpern, während andere stehen geblieben sind. Als wir endlich unser Lager oben auf dem Steilhang aufschlagen, ist es Mitternacht. Am Ende sind alle in ihren Zelten untergebracht und zittern in ihren klammen Schlafsäcken vor sich hin, zu erschöpft, sich noch zu bewegen. Die beiden Träger, die wir auch als Köche dabeihaben, sind zu müde, um Wasser aufzusetzen, von der Zubereitung eines Abendessens ganz zu schweigen.
Einbruch der Dunkelheit waren wir weit verteilt –gefährlich weit. THE RED BULLETIN 65 ROSS GARRETT
Nach
Unser Tee aus Tauwasser
Am nächsten Morgen könnten wir Sonnenschein gebrauchen, aber es nieselt. Die Träger fabrizieren Instantnudeln, und ich organisiere Tauwasser, damit sie Tee zum Runterspülen kochen können. Vilane ist guter Dinge, Khumalo fest entschlossen, bei allen anderen entspricht die Stimmung dem trüben Wetter. Wir packen zusammen und machen uns auf den Weg entlang des Bergrückens.
Khumalo ist eine grosse, starke, auf fallende Frau. Ihre gebieterische Präsenz steht im Kontrast zu ihrer weichen Stimme. Man kann sie sich sehr gut in einem Hosenanzug vorstellen, wie sie mit ruhiger Präzision Unternehmensentscheidungen trifft. Ich versuche, ihr etwas über ihre Mount-Everest-Besteigung zu entlocken. «Der Everest ist nur eine Metapher», sagt sie und gibt zu, dass das Klettern, erst recht im Eis, nicht so ihr Fall sei. Sie besteige eben Berge, hohe Berge. Dann wechselt sie das Thema. Lieber möchte sie über die karitativen Einrichtungen sprechen, die sie mit ihren Touren fnanziert. «Bildung war immer schon mein Schwerpunkt», sagt sie.
Seit Beginn ihrer Bergsteigerkarriere war Khumalo immer für einen guten Zweck unterwegs – ja, sogar ihre Stiftung trägt den Namen «Summits With a Purpose». 2012 sammelte sie mit ihrer Kibo-Besteigung Geld für den Bau einer Bibliothek für Kids Haven, ein Heim für Strassenkinder in Benoni, einer Stadt in der Nähe von Johannesburg. Nach der Besteigung hielt sie bei Kids Haven einen Vortrag, danach sagte ein schwarzes Mädchen zu ihr: «Leute wie du machen so was nicht.» Khumalo war baff. «Sie meinte: Schwarze machen so was nicht. Und sie hatte recht. Sie hatte noch nie jemanden wie mich gesehen.» Dieses Kind veränderte Khumalos Leben. «Mir wurde klar, dass ich nicht in einer Welt leben kann, in der wir wegen unserer Hautfarbe eingeschränkt werden oder, schlimmer noch, uns selbst einschränken. Ich habe zwei Söhne, denen muss ich eine bessere Welt hinterlassen.»
Der Eisbruch kollabierte
2014 versuchte es Khumalo zum ersten Mal mit dem Mount Everest. Sie sammelte für den Lunchbox Fund, ein Programm, das Schulessen zur Verfügung stellt. Die jüngste nationale Studie zur Einkommensdynamik in Südafrika aus dem Jahr 2021 ergab, dass sich viele Menschen kein Essen leisten können. Etwa 2,3 Millionen Haushalte meldeten chronischen Hunger bei ihren Kindern, und 40 Prozent der südafrikanischen Bevölkerung leiden an Mangelernährung. «Man kann nicht lernen, wenn man Hunger hat», sagt Khumalo.
Am 18. April 2014 war sie im Basislager, als der Khumbu-Eisbruch kollabierte und sechzehn Sherpas unter sich begrub. Das bedeutete das Ende für die Expedition, dennoch hatte Khumalo genügend Geld aufgestellt, um 60.000 Schulmahlzeiten über den Lunchbox Fund sicherzustellen.
Im nächsten Jahr kehrte sie zum Everest zurück, diesmal, um für das Nelson Mandela School Library Project zu sammeln, das über 200.000 Kinder beliefert. Am 25. April 2015 wurde Nepal von einem Erdbeben der Stärke 7,8 erschüttert. 22 Menschen starben durch Lawinen auf dem Everest. Wieder hatte sie den Gipfel nicht erreicht – aber eine Summe akquiriert, die ausreichte, um ihre erste Bibliothek zu bauen. «Saray war ganz bei der Sache», sagt Robert Coutts, Geschäftsführer des Mandela-Projekts. «Sie hat es versprochen und niemals aufgegeben.»
In Südafrika leben rund 48 Millionen Schwarze und 4 Millionen Weisse. Nur 14 Prozent der schwarzen Schülerinnen und Schüler schliessen die Highschool ab, gegenüber 65 Prozent der weissen. Fast 80 Prozent der Schulen in Südafrika verfügen über keine Bibliothek, und mehr als 14 Prozent der Schwarzen können weder lesen noch schreiben – das sind 45-mal so viele wie in der weissen Bevölkerung.
Hagel, Sonne, Trockenfeisch Zurück auf die Drachenberge. Wir gehen schon den ganzen Tag im kalten, peitschenden Regen einen schlammigen Pfad hinunter. Das Team ist nicht weniger missmutig als morgens um fünf, als wir losgewandert sind. Nachdem wir unser Lager aufgeschlagen haben, koche ich Wasser, während die Träger Kartoffelpüree zubereiten. Niemand will im Regen stehen und plaudern – wir sind sowieso bis auf die Knochen durchnässt –, also ziehen wir uns in unsere Zelte zurück und beten für Sonnenstrahlen. Tatsächlich kommt am nächsten Morgen die Sonne zum Vorschein. Prompt sieht man die Wandernden lächeln, plötzlich sind alle gesprächig. Einigen Teilnehmerinnen und Teilnehmern ist anzusehen, wie sie behutsam ihre Meinung über das Bergsteigen ändern.
Vilane versammelt uns im Kreis, um über die Bedeutung eines Wortes zu sprechen: grit – Mut, Durchhaltevermögen, Charakterfestigkeit. Wir alle werden gebeten, zu sagen, was wir darunter verstehen. Als die Reihe an Khumalo ist, tritt sie vor, mustert die Runde und sagt nur: «Nicht aufgeben.»
Wie aufs Stichwort ziehen sich dicke Wolken am Horizont zusammen, und es beginnt leicht zu regnen. Nach den letzten Erfahrungen sind alle frustriert, aber immerhin wird es nicht schlimmer. Zur Mittagspause sind uns wieder ein paar vereinzelte Sonnenstrahlen
Überlebenskünstlerin Khumalo (links) mit einem Sherpa am Rückzug vom Everest nach dem Unglück von 2015
66 THE RED BULLETIN COURTESY OF SARAY KHUMALO
Sie tritt vor und mustert die Runde. «Mut bedeutet, nicht aufzugeben.»
vergönnt. Sabelo Myeza, ein Techniker und der Einzige, dem stets ein Lächeln auf den Lippen sitzt, schneidet Scheiben von Biltong (Trockenfeisch) für alle ab. Wir planen, den Thabana Ntlenyana zu überqueren, mit 3482 Metern die höchste Spitze im ganzen südlichen Afrika. Myeza reisst zumindest die verbale Verantwortung an sich und dröhnt: «Wir packen den Stier bei den Hörnern!» Am Gipfel angekommen, jauchzt er vor Freude, obwohl uns die Hagelkörner ins Gesicht prasseln. Mir wird bewusst, dass Khumalo es wieder geschafft hat: Einer wie Myeza ist bekehrt. Er wird wieder herkommen – und wieder zahlen.
Die entscheidende Nacht
Den knirschenden Schnee unter den Füssen, bringe ich mich auf den neuesten Stand, was Khumalo und ihre Everest-Geschichte betrifft. Ungerührt von den Niederlagen 2014 und 2015 kehrte Khumalo 2017 erneut zu ihm zurück. Diesmal wollte sie Geld für drei Bibliotheksneubauten des Mandela-Projekts aufstellen. «Ich klettere nicht für mich», sagt sie, «ich klettere für jedes einzelne schwarze Kind in Südafrika.» Damals schaffte sie es fast bis zum Südgipfel, als starke Winde sie zur Umkehr zwangen. Irgendwo unterhalb des sogenannten Balkons, auf etwa 8200 Metern, brach sie zusammen und verlor das Bewusstsein. Ihr Sherpa alarmierte ein paar andere, und gemeinsam gelang es ihnen, Khumalo in ein Zelt zu legen. Auf sich gestellt, musste sie die Nacht ohne Schlafsack auf gefrorenem Schnee verbringen. Am nächsten Morgen fand sie ein Sherpa namens Lakpa im Zelt. Als er sie berührte, bewegte sie sich. «Oh, du lebst ja!», rief Lakpa überrascht. «Na sicher lebe ich», antwortete Khumalo. Mithilfe einiger Sherpas schaffte sie es bis ins Lager, allerdings mit schweren Erfrierungen an den Fingern, weil sie ihre Fäustlinge verloren hatte. Mittel- und Ringfnger ihrer rechten und die Mittelfngerspitze der linken Hand mussten in einem Krankenhaus in Katmandu amputiert werden. «Seitdem war das etwas Persönliches zwischen dem Everest und mir», sagt Khumalo. «Wir waren noch nicht fertig miteinander.» Immerhin: Das Geld für die drei Bibliotheken hatte sie beisammen. Nach drei gescheiterten Versuchen war Khumalo besser vorbereitet, sowohl körperlich als auch geistig. Sie hatte ihre Lektion gelernt und kannte die notwendige Strategie für den Erfolg auf einem heillos überlaufenen Berg. «Wir sind immer vor den Massen aufgestanden und losgegangen. Am 16. Mai haben wir den Gipfel ab dem Lager IV binnen elf Stunden erreicht», erinnert sie sich. Beim Abstieg gefror ihre Sauerstoffmaske, und sie litt unter akutem Sauerstoffmangel, schaffte es aber gesund bis nach unten.
Der Everest war für Saray Khumalo nur der Anfang. Jetzt ist sie fest entschlossen, die erste schwarze Afrikanerin zu werden, die alle Seven Summits erobert. Everest, Aconcagua, Kibo, Denali und Elbrus hat sie schon, Vinson und Carstensz-Pyramide fehlen noch. Und sie will die erste schwarze Frau Afrikas werden, die den Adventurers Grand Slam absolviert: die Seven Summits, dazu noch Nord- und Südpol. Den Südpol hat sie im Dezember 2019 erreicht, der Nordpol steht für April 2023 in ihrem Kalender. Dann macht ihr Beispiel wieder Schule. Zumindest ein bisschen. Zumindest für die Kinder Südafrikas.
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Als ihr ein paar Finger gefroren, nahm sie die Sache wirklich persönlich.
Das Leben als langer gerader Weg: Triathlet Kristian Blummenfelt trainiert in den Bergen nahe der Stadt Bergen.
WOHIN SO EILIG?
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TEXT BRAD CULP FOTOS EMIL SOLLIE
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Kristian Blummenfelt gewann bereits einmal OlympiaGold und den WM-Titel. Aber blickt so etwa jemand, der sich damit zufriedengibt?
er Name deutet es bereits dezent an: Das Zentrum der norwegischen Stadt Bergen ist von stattlichen Anhöhen umgeben, sieben, um genau zu sein. Vom Stadtkern kriecht eine Bergbahn, die jede Stunde hunderte Kreuzfahrtpassagiere nach oben transportiert, auf den Fløyen. Kristian Blummenfelt, 29, Ironman-Weltmeister und Olympiasieger im Triathlon, kennt den Gipfel besser als jeder Schaffner – auch wenn er noch nie in die Bahn gestiegen ist. Während der vier oder fünf Wochen, die er jährlich in seiner Heimatstadt verbringt, ist er täglich laufend oder auf seinem Fahrrad am Berg unter wegs. Und praktisch immer regnet es. «Training kann eine wunderbare Balance zwischen Schmerz und Freude sein», sagt Blummenfelt. Und auch so symbolschwer.
In Gipfelnähe steht eine kleine Scheune, die einer Handvoll Ziegen Unterkunft bietet. Und immer, wenn Blummenfelt daran vorbeiläuft oder vorbeistrampelt, grüsst er den unscheinbaren Verschlag mit «Jan Frodenos Haus» – in Anspielung auf den 41-jährigen Deutschen, der weltweit als grösster Triathlet aller Zeiten
gilt, the Greatest of All Time, kurz: GOAT. Wie das englische Wort für Ziege. Und Ziege, das ist auch Blummenfelts grosses Ziel. Einfach nur besser als Frodeno zu sein reichte ihm nicht. Wer der Beste sein will, muss den Besten schlagen. Nicht nur abstrakt in Sekunden, sondern direkt, Meter um Meter, Mann gegen Mann. Bis zum Mai des Vorjahres war Frodeno der einzige Triathlet in der Geschichte dieses Sports, der sowohl die olympische Goldmedaille als auch den Weltmeistertitel im Ironman gewonnen hat. Wegen der divergierenden Distanzen und des unterschiedlichen Rennstils hielt man das einst für unmöglich. Der olympische Wettbewerb erfordert 1500 Meter Schwimmen, 40 Kilometer Radfahren und 10.000 Meter Laufen. Beim Ironman müssen 3,86 Kilometer schwimmend, 180,2 Kilometer auf dem Rad und eine Marathonstrecke (42,2 Kilometer) laufend bewältigt werden. Frodeno gewann den olympischen Triathlon in Peking (2008) und den Weltmeistertitel im Ironman sieben Jahre später beim zweiten Versuch.
DIn den meisten Sportarten mögen sieben Jahre wie eine Ewigkeit erscheinen, im Triathlon wird diese Zeitspanne als bemerkenswert kurz angesehen – um einen Wettbewerb zu meistern, der nahezu viermal so lang wie der ursprüngliche dauert. Es galt als unwahrscheinlich, dass so ein Kunststück jemals wiederholt wird. Zumindest bis Mai 2021. Denn da gewann Blummenfelt den Weltmeistertitel im Ironman bereits beim ersten Versuch – und das nur neun Monate nachdem er in Tokio die olympische Goldmedaille errungen hatte. Ein immenser Kraftakt, der noch keinem zuvor gelungen war. Doch trotz der Siege bleibt Frodeno die Ziege.
Brutal steil, brutal hart – aber nicht Hawaii Wegen der Sorgen in Sachen Covid und einer stark begrenzten Anzahl von Krankenhausbetten in Kona, Hawaii, dem Zuhause des Wettbewerbs seit 1978, hatten die Ironman-Macher einen der härtesten Kurse ihrer 65 Rennstrecken als Ersatz gewählt – und trugen den Wettbewerb im Mai 2021 in St. George, Utah, aus. Dabei sind Ironman und Kona praktisch untrennbar miteinander verbunden, ähnlich wie die Masters im Golf mit Augusta, Georgia. Und: In St. George fehlte ausgerechnet Frodeno, der beim Training für die Weltmeisterschaft einen Achillessehnenriss erlitten hatte.
In der Zeit nach Tokio hat Blummenfelt den Triathlonsport dominiert. Der Goldmedaille folgten sein erster Titel in der World-Triathlon-Serie und der Erfolg beim Ironman. Er ist der einzige Athlet, der die Goldmedaille und den Weltmeistertitel im selben Jahr gewann. Aber beim Ironman gilt eben: Entweder hast du es in Kona geschafft, oder du hast es nicht geschafft.
Es ist egal, dass Blummenfelts Zeit von sieben Stunden und 49 Minuten in St. George um zwei Minuten schneller war als Frodenos Kursrekord in Kona und dass
Olympia-Gold hat er, Weltmeister im Ironman ist er. Nun steht auch noch sein ewiger Rivale vor dem Rücktritt. Top-Triathlet
Kristian Blummenfelt, 29, braucht ein neues Ziel. Wir suchten mit.
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es in St. George beim Lauf doppelt so lange bergauf ging. Vom analytischen Standpunkt aus war Blummenfelts Leistung besser als alles, was Frodeno je auf Hawaii geschafft hatte. Allerdings in dessen Abwesenheit.
Doch auch im vergangenen Oktober, als der Ironman wieder heimkehrte nach Kona, gab’s für Blummenfelt nur einen schwachen «Trost Hawaii»: dritter Platz, drittbeste Ironman-Zeit, die jemals auf den Blumeninseln gemessen wurde. Allein, Jan Frodeno war wegen der langwierigen Folgen eines Trainingsunfalls wieder nicht im Starterfeld; und heuer fndet wegen Terminkollisionen kein Herren-Bewerb auf Hawaii statt; und Frodeno, der siegessatte Rekonvaleszent mit seinen insgesamt drei Hawaii-Triumphen, avisiert im «Spiegel» für kommendes Jahr sein Karriereende: «Ich will nicht der nächste alte Mann sein, der nicht den Absprung fndet.»
Aber was tun, fragte sich nun Blummenfelt, wenn die Ziege vom Dienst keinen Bock mehr hat? Der Gipfel des Fløyen und seine Scheune liegen zwar weiter auf Blummenfelts täglicher Tour, doch Ziel musste schleunigst ein neues her. So funktioniert Blummenfelt, so funktioniert seine Heimatstadt Bergen, wo, so scheint es, jeder seinen eigenen Berg versetzt.
Zwischen Sehnsucht und Selbstvertrauen
Mit knapp 300.000 Einwohnern ist das an der Südwestküste gelegene Bergen Norwegens zweitgrösste Stadt –und grösste Kuriosität. Es gibt hier eine skandinavische Lebenshaltung, die als «hygge» bekannt ist. Das Wort beschreibt die Sehnsucht, ein Leben in Zufriedenheit zu leben, ohne je laut oder pampig oder egoistisch zu sein. Skandinavier posaunen nicht herum, dass ihre Heimat der beste Platz auf Erden ist, wenngleich ihr das Prädikat «lebenswert» nach vielerlei Kriterien beständig anhaftet. In Bergen ertönt vor internationalen Fussballspielen des SK Brann Bergen zunächst die Hymne der Stadt, dann erst die Nationalhymne. «Wir reden, als wären wir die tollsten Menschen der tollsten Stadt auf Erden», sagt Gustav Iden, Blummenfelts Freund und Rivale im norwegischen Triathlon-Team, über die gemeinsame Heimatstadt. «Unser Fussballteam ist wirklich grottenschlecht, gerade noch gut genug für die zweite Liga. Aber wir sagen alle, dass es die grösste Fussballmannschaft der Welt ist. Das ist typisch Bergen. Wir haben immenses Selbstvertrauen.»
Und das hat auch Blummenfelt. Auch wenn er eher introvertiert ist und behauptet, dass Dates mit Frauen
das Einzige sind, wovor er Angst hat. «Wenn ich auf ein Date gehe, bin ich nervöser als vor dem Start zu einer Weltmeisterschaft», sagt er. Am wohlsten fühlt er sich, wenn er voll in seinem Sport abtaucht. Das wären also drei Trainingseinheiten täglich – und in den wenigen freien Stunden die Netzsuche nach allem verfügbaren Triathlon-Content: Denn er liebt Social Media, liest fast alles, was über ihn gepostet wird, und führt sogar Buch darüber, wer an ihn glaubt und wer nicht. Er nimmt das als Motivation. Es verhilft ihm zu seinem TriathlonTunnelblick. Und zu seiner Triathlon-Härte verhilft ihm die Erfahrung der eigenen Biografe.
Der Kleine von der harten Seite Blummenfelt ist das jüngste von drei Kindern, die alle, so scherzen die Teamkollegen, auf der harten Seite von Bergen gross geworden sind. Der Vater war Bauarbeiter, die Mutter Krankenschwester. Beide waren nicht sonderlich sportlich, seinen Vater erlebte der Sohn als starken Raucher. Aber wie bei den meisten norwegischen Familien wurde die Freizeit ausser Haus verbracht, mit Wandern, Skifahren und Camping. Schwimmen war der Grund, weshalb sich Kristian in den Leistungssport verliebte. Er war ein guter, wenn auch kein herausragender Schwimmer.
Seine bescheidene Grösse begrenzte seine Möglichkeiten im Wasser, aber an Land war er ausgesprochen stark. Im Alter von zwölf Jahren lief er zehn Kilometer in 36 Minuten – eine Weltklassezeit für einen Jungen, der gerade einmal ein Teenager war. Nachdem ein Coach Kristians Talent erkannt hatte, schlug er ihm vor, an einem der ersten Triathlons in Westnorwegen teilzunehmen. Mit vierzehn war er der jüngste der 32 Teilnehmer, holte sich aber dennoch den Sieg. Im chronisch selbstbewussten Bergen erregte das Resultat die Aufmerksamkeit der heimischen Sportakademie.
Roger Gjelsvik kommt auch aus Bergen und ist, einmal geht’s noch, ein Berg von einem Mann. Mit dröhnender Stimme – und einem Auge für talentierte Athleten. Eine seiner vielen Aufgaben war, Athleten mit olympischem Potenzial für die Toppidrett(= Spitzensport)-A kademie im Stadtteil Tertnes zu rekrutieren. «Es war nicht etwas Körperliches, was uns an Kristian auffel – sondern wir erkannten auf den ersten Blick, dass er da oben anders drauf war», sagt Gjelsvik und deutet auf seinen Kopf. «Er wurde mit einer Hartnäckigkeit geboren, die du nicht lernen kannst. Er ist ein Wikinger.»
Eisernes Training: Kristian Blummenfelt bei einer Laufeinheit am Rande seiner Heimatstadt Bergen
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«Er ist ein Wikinger, geboren mit einer Hartnäckigkeit, die du nicht lernen kannst.»
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Ehe Blummenfelt im Jahr 2010 auftauchte, hatte Gjelsvik keine Triathleten an der Schule. Auch hatte Norwegen noch nie einen Triathleten zu den Olympischen Spielen entsandt. Aber es gab Schwimmer, Radfahrer und Läufer, also passte Blummenfelt, der kleine Wikinger, perfekt. Das Ziel war einfach, aber ambitioniert: der Gewinn einer Medaille bis spätestens 2020.
Der Sportwissenschaftler und Triathlet Arild Tveiten wurde engagiert, der mit einem schnell wachsenden Trainerstab ein Programm entwickelte, das sich streng an wissenschaftliche Daten und Tests hielt. Was nicht gemessen werden konnte, fog aus dem Programm. Wickie wurde mit einer Unmenge einfacher Rad- und Laufübungen eingedeckt. Nach drei Jahren Ausbildung war er in Europa die Nummer eins bei den Junioren und bereit, sich ganz dem Triathlon zu widmen.
Monumental niederschmetternd
Die Höhentrainingslager in den Pyrenäen und den Alpen erstreckten sich auf Monate, und auch hier säumten immer wieder Ziegen die Trainingsparcours. Vom GOAT war damals zwar noch nicht die Rede, dennoch erreichte die Professionalität im Triathlonbereich ein neues Niveau. Andere Athleten zahlten viel Geld, um internationalen Trainingsgruppen beitreten zu können, die von Trainern mit grossen Namen geleitet wurden. Norwegen hielt seine kleine Gruppe zusammen und gab ihr das nötige Geld. Bei den Spielen in Rio (2016) wurde der 22-jährige Blummenfelt Norwegens erster Triathlet, der sein Land bei Olympischen Spielen vertrat. Er erreichte den 13. Rang, als zweitjüngster Mann der 55 Teilnehmer. Für Aussenstehende war es die monumentale Leistung eines blutjungen Verbandes. Für Blummenfelt selbst fühlte es sich wie Totalversagen an. Die postolympische Depression, die so viele Athleten befällt, machte auch vor ihm nicht halt. Aber sie erschuf den Superathleten Kristian. In all seinen Dimensionen.
Was die Leute an Blummenfelt besonders verblüfft, ist seine Figur. Mit 173 Zentimetern Körpergrösse und 74 Kilo Gewicht ist er für einen ausserordentlichen Triathleten ausserordentlich schwer. Frodeno zum Beispiel ist 20 Zentimeter grösser, aber nicht einmal um ein Kilo schwerer. Blummenfelt hat mit dem lange etablierten Glaubenssatz aufgeräumt, dass lang und schlank der einzig ideale Körpertyp für den Ultra-Ausdauersport ist. Sowohl er als auch seine Trainer betonen, dass der Motor wichtiger sei als die körperliche Hülle.
Auf Blummenfelts Triathlon-Bike prangen in goldenen Buchstaben die Worte «It hurts more to lose» (Verlieren schmerzt noch mehr). Irgendwann nach Rio wurde es ein Mantra, das ihm zum unwahrscheinlichsten Jahr in der Geschichte des Triathlon-Sports verhalf. Doch zunächst brachten die fünf Jahre zwischen Rio und Tokio mehr Niederlagen als Siege, wie es eben häufg der Fall ist, wenn nur Sekunden über Sieg und Niederlage entscheiden. Sein einziger grosser Sieg bei den Vorbereitungen zu Tokio kam im letzten Rennen des Jahres 2019 – beim «World Triathlon Grand Final» in der Schweiz, bei dem er auf der grossen Strecke erstmals gewann. Er gehörte nun plötzlich zum kleinen Kreis der olympischen Favoriten.
Am Ende erreichten die drei Norweger im 50 Mann starken Starterfeld den ersten, achten und elften Platz. Als Blummenfelt verlautete, dass er nach seinem Olympiasieg auch Weltmeister im Ironman werden wolle, wurde er im Internet verspottet. In der 44-jährigen Geschichte des Sports hat nur ein Athlet bei seinem Debüt gewonnen. Und nie zuvor hatte einer bei den Olympischen Spielen und im Ironman im selben Jahr brilliert. Aber Blummenfelt und sein Team waren im Besitz wissenschaftlicher Daten, die zeigten, dass sie die drei Teildisziplinen auch über weit grössere Strecken als bei Olympia hinlegen könnten. Doch wie ohne ein direktes Duell mit the GOAT selbst zum Grössten werden? Da erkannte Kristian Blummenfelt: Seine einzige Chance ist der Weg zurück. Zurück zu kürzeren Distanzen. Und das binnen kürzester Zeit – bis 2024, zu den Olympischen Spielen in Paris.
«Es gibt bisher noch keinen Athleten, der vom Erfolg auf der Langstrecke wieder auf die Kurzstrecke zurückgekehrt ist», sagt Blummenfelt. «Innerhalb eines Jahres vom Titel in der Kurzdistanz zum Titel in der Langdistanz zu kommen, um dann bis zum kommenden Jahr wieder zur Kurzdistanz zurückzukehren – das wird die grösste Erfahrung meiner Karriere, das wird in absehbarer Zeit schwer zu schlagen sein.»
Es ist einer dieser Regentage. Und wieder passiert Kristian Blummenfelt beim Training am Fløyen, seinem Hausberg in Bergen, die unscheinbare kleine Scheune. Er zieht an den arglos wiederkäuenden Vierbeinern vorbei. Blummenfelt weiss: Es sind doch bloss Ziegen. Denn GOAT kann nur einer werden. Es ist einer dieser Regentage. Doch irgendwo hinter den schweren, düsteren Wolken leuchtet das neue Ziel.
in Bergen: Kristian ist für einen Spitzenschwimmer zu klein – dafür aber der Grösste im Triathlon. THE RED BULLETIN 75
Er ist kleiner und schwerer als der Rest. Doch was zählt, ist dieser innere Motor.
Schwimmtraining
HIER LIEGT DER
Countdown zum AMERICA’S CUP
Was wir hier sehen, ist der America’s Cup – die älteste Trophäe im Sport, die auch heute noch im Umlauf ist. Seit 1851 wandert der Pokal, informell auch «the Auld Mug», also alter Becher, genannt, von einem Sieger dieser glamourösen Segelregatta zum nächsten. Um den America’s Cup kämpfen jeweils zwei Yachtclubs: der Titelverteidiger und der Herausforderer. Die Yacht, die eine vorher festgelegte Anzahl von Freiwasserwettfahrten gewinnt, gewinnt den Cup. Ganz einfach. Aber nicht ganz billig. Die Summen, die heutzutage locker gemacht werden, um an dem legendären Rennen teilzunehmen, bewegen sich mitunter
jenseits der 100-M illionen-Dollar-Grenze. Stolze Summen, besonders angesichts der Tatsache, dass es kein Preisgeld gibt – nur das Prestige und den Stolz, auf Zeit diese Trophäe zu besitzen, sowie das Recht, das nächste Rennen auszurichten. OriginalKaufpreis des Pokals: 100 Pfund Sterling.
Es darf bezweifelt werden, dass die ehrenwerten Juweliere von Garrard & Co. im Jahr 1848 auch nur ansatzweise ahnten, was sie da in die Welt setzten. Das Londoner Unternehmen war hochoffziell für die Pfege der britischen Kronjuwelen zuständig und erledigte den trivialen Auftrag nebenbei: einen verzierten Krug aus versilbertem Britanniametall, wie sie damals in grossen Stückzahlen hergestellt wurden. Die
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Die Herausforderer 2024: das Team Alinghi Red Bull Racing beim Training vor Barcelona
SIEG
Dieser Wanderpokal heisst America’s Cup. Nach ihm ist die legendärste Regatta der Welt benannt. Auch um ihn selbst ranken sich unzählige Mythen.
Etwa jene, dass er nur im Louis-Vuitton-Koffer verreist.
100 Goldmünzen (Pfund Sterling), die dafür über den Tisch wanderten, wären heute etwa 19.000 Euro wert. Eine hübsche Summe, aber nichts Extravagantes. Der Käufer war Henry William Paget, ein Offzier der britischen Armee, der in der Schlacht von Waterloo mitgekämpft hatte.
Paget vermachte den Pokal dem Segelclub Royal Yacht Squadron (RYS), der ihn wiederum 1851 als Preis für seine jährliche Regatta auslobte. Das offen ausgetragene Rennen führte rund um die Isle of Wight vor der Südküste Englands. Der RYS hoffte, mit dem Bewerb das Interesse am Yachtsport neu zu entfachen und auch Mitstreiter aus Amerika anzulocken. Und die Rechnung ging auf.
MAKINGOF EINES FOTOS
Alarm um fiegende Kiste
Um dieses hochauflösende Foto des America’s Cup anzufertigen, erlaubte die Royal New Zealand Yacht Squadron dem Fotografen Rick Guest ausnahmsweise, deren Headquarter zu betreten. «Man geht die Stiegen hinauf und gelangt in ein grosses Atrium, und da steht er», berichtet Guest. «Er ist echt riesig.» Und für Guests fotografische Technik des multifokalen Compositing eine Herausforderung. «Man macht schichtweise viele Fotos mit optimaler Tiefenschärfe», erklärt der Fotograf. «Dann setzt man die Bilder zusammen, jeder der etwa 80 Frames ist gestochen scharf.» Das Ergebnis ist eine Abbildung der Trophäe, wie sie detailgenauer noch nie zuvor zu sehen war. Und es wäre nicht der America’s Cup, wenn es nicht auch hier eine Anekdote zu erzählen gäbe: Mitten im Shooting ging plötzlich eine Sirene los. «Ich dachte, es sei ein Feueralarm. Dann fiel aber plötzlich so eine Holzkiste von oben herunter und deckte den Pokal schützend ab, wie in ‹Mission: Impossible›. Ich habe sogar ein paar Aufnahmen, in denen dieses Teil den Frame durchschneidet.»
TEXT TOM GUISE & DAVID SCHMIDT FOTOS RICK GUEST
THE RED BULLETIN 77
Am 22. August 1851 versammelten sich 15 Yachten in der Meerenge Solent nahe dem Hafen Cowes. Auf dem 53 Seemeilen umfassenden Rundkurs stach eines der Boote ins Auge: die «America». Ein Konsortium aus fünf Mitgliedern des New York Yacht Club (NYYC) hatte den schnittigen, 30 Meter langen Schoner ins Rennen geschickt, um damit die Überlegenheit des amerikanischen Schif fbaus zu demonstrieren. Der Startschuss fel. Elf Stunden später erschien die «America» wieder am Horizont. Als Erste!
Der «One Hundred Sovereigns Cup», so der damalige Name unseres Pokals, ging somit nach Manhattan, die «America» aber verblieb zunächst in England und wurde mit einem Gewinn von 5000 Dollar (heute etwa 183.000 Euro) weiterverkauft. Erst 1942 erlag sie in einer unscheinbaren Werft einem unrühmlichen Schicksal: Das Dach des Gebäudes stürzte ein – und auf die «America». Sie musste verschrottet werden.
Der Pokal jedoch überlebte. Zu Hause angekommen, wollten die Mitglieder des US-Konsortiums – der oberste Commodore des NYYC, John C. Stevens, sein Bruder
Edwin A. Stevens, der Vize-Commodore Hamilton Wilkes, der Ziviltechniker George Schuyler und der Weingut-Erbe J. Beekman Finlay – den Preis ihrem Yachtclub stiften. Dazu war jedoch ein Rechtsdokument erforderlich, eine offzielle Schenkungsurkunde, in der auch die Bestimmung der Trophäe geregelt war: als Wanderpokal, der von anderen Yachtclubs, die anderen Nationen angehören müssen, im Rahmen eines Rennens erobert werden könne.
DER NEW YORK YACHT CLUB VERTEIDIGTE DEN POKAL SAGENHAFTE
132 JAHRE LANG.
Bereits 1852 adressierte Schuyler ein Paket an John Stevens, das auch die Schenkungsurkunde beinhaltete. Das mit 15. Mai 1852 datierte Schriftstück war von dreien der Besitzer unterzeichnet, John und Edwin Stevens wurden gebeten, ihre Unterschriften hinzuzufügen und die fertige Urkunde dem NYYC zu überreichen. Warum Commodore Stevens es bis zu seinem Tod im Jahr 1857 nicht schaffte, diesem Gesuch Folge zu leisten, ist nicht bekannt. Seine Version der «America’s Cup Deed of Gift» kurz DoG, die als Originaldokument gilt, ist bis heute verschollen.
Nur einen Monat nach Stevens’ Tod übergab Schuyler sein eigenes Exemplar der DoG dem NYYC, leicht bearbeitet und mit neuem Datum: 8. Juli 1857. Der Club erkannte Schuylers Faksimile an und forderte auf dessen Grundlage die Yachtclubs
in Übersee zu einem «freundschaftlichen Wettstreit» um den «von der ‹A merica› gewonnenen Cup» (übrigens die einzige Nennung eines «America’s Cup» in der Urkunde) heraus.
Es dauerte dreizehn Jahre, bis ein ausländischer Yachtclub die Herausforderung annahm. In Folge verteidigte der NYYC den Pokal sagenhafte 132 Jahre lang – die längste Gewinnsträhne der Sportgeschichte, erarbeitet durch gutes Segeln, aber auch durch ausgesprochen parteiische Regeln; nicht zuletzt eine Klausel, die 1882 hinzugefügt wurde und besagt, dass die Boote «unter Segel» in den Hafen fahren müssen, in dem der Bewerb stattfndet – was für jede Rennyacht, deren Konstruktion somit auch eine Überquerung des Atlantiks ermöglichen musste, ein klares Handicap bedeutete. Dennoch wuchs mit jedem weiteren Triumph die Bedeutung des Pokals.
Eine rechtliche Segel-Odyssee
Eine der Besonderheiten des America’s Cup ist, dass es – im Unterschied zu den meisten anderen Sportarten – keinen Dachverband oder dergleichen gibt. Stattdessen ist in der DoG festgehalten, dass sich der Club, der den Cup hält, und der Club, der ihn erringen will, gemeinsam auf ein für beide «genehmes Arrangement» einigen, was das Renndatum, den Kurs, die Anzahl der Durchläufe sowie alle anderen Bedingungen des Aufeinandertreffens angeht.
Mit anderen Worten: Der Verteidiger des Pokals und dessen Herausforderer müssen sich über die Regeln des jeweils anstehenden Bewerbs, genannt das Protokoll, einigen. Ein äusserst optimistischer Passus, der wenig überraschend für wilde Diskussionen sorgte, zu deren Schlichtung auch immer wieder unabhängige Jurys einberufen wurden – mit dem Ergebnis, dass in der Folge auch die Unabhängigkeit dieser Jurys angezweifelt wurde.
Der australische Medientycoon Sir Frank Packer, Vorsitzender des australischen Konsortiums, das 1970 zum America’s Cup antrat, meinte lapidar, dem New York Yacht Club zu widersprechen, sei, wie «sich bei deiner Schwiegermutter über deine Frau zu beschweren». Erzielen die beiden Teams keinen Kompromiss, gelten automatisch die Regeln der 1887 überarbeiteten Version der DoG. Zweimal kam es bisher dazu.
Was aber, wenn die Auslegung des Wortlauts der DoG, verfasst im Rechtsenglisch des 19. Jahrhunderts, selbst zum Streitpunkt wird? Als eingetragenes Treuhanddokument des Staates New York fällt die Aufsicht über derartige Dispute niemand Geringerem zu als dem New Yorker Höchstgericht. Ja, auch das ist schon vorgekommen – inklusive explodierender Kosten.
Die Titelverteidiger Das Team Royal New Zealand Yacht Squadron im Jahr 2021 mit dem America’s Cup
78 THE RED BULLETIN GETTY IMAGES
IST DAS DIE UR - URKUNDE?
Auf diesem Stück Papier wurde eine Legende geboren.
Das Gebäude des New York Yacht Club (NYYC) befindet sich auf 37 West 44th Street in Manhattan. Erbaut 1901 von Whitney Warren, dem Architekten des legendären Grand Central Terminal, ist es ein Kunstwerk, in dessen unteren Räumlichkeiten ein nicht minder wertvolles Stück verborgen liegt: die «America’s Cup Deed of Gift» (DoG). «Die Leute denken, die Schenkungsurkunde ist sicher durch einen dicken Ledereinband geschützt», sagt der Archivar. Doch überraschenderweise lagern die zwei mit rostbraun oxidierter Kupfertinte handbeschriebenen Blätter, in der die Grundregeln des America’s Cup festgelegt sind, in einem einfachen Schnellhefter. Der NYYC ist überzeugt, dass es sich um das Original handelt, auch wenn das bearbeitete Datum «July 8, 1857» die These stützt, wonach es ein überarbeitetes Exemplar sein könnte. Original hin oder her, die Rahmenbedingungen des America’s Cup finden sich in diesem Dokument.
Absurd? Vielleicht. Andererseits hat dieser Bewerb in den 166 Jahren seines Bestehens eine illustre Runde an Wirtschaftstitanen angelockt. Sie waren bereit, ihr Vermögen und ihren Ruf aufs Spiel zu setzen – für einen schlichten Silberkrug. Gewonnen haben ihn die wenigsten. Der schottische Tee-Baron Sir Thomas Lipton verlor fünf Mal. Der Luftfahrtpionier Sir Thomas Sopwith nahm zwei Mal erfolglos teil. Und sogar das hochdotierte Team von Multimilliardär Larry Ellison, Gründer der Tech-Firma Oracle, erlitt bei einem Sieg drei Niederlagen.
Aber auch der «alte Becher» selbst kam nicht ohne Schrammen davon. 1997 betrat ein Demonstrant das Gebäude des damals amtierenden Meisters Royal New Zealand Yacht Squadron (RNZYS) und bat, die Trophäe sehen zu dürfen. In seiner Tasche trug er einen Vorschlaghammer. Er zerschmetterte die Glasvitrine und schlug mehrmals auf das Silber ein. Der fast zerstörte Pokal ging an Garrard & Co. nach London zurück zur Restaurierung.
Aktuell befndet sich der Pott wieder in den Händen des RNZYS – er gewann ihn 2017 und verteidigte ihn 2021. Die Hüter des Pokals haben mittlerweile sichergestellt, dass sich ein Vorfall wie 1997 nicht wiederholen kann. Umhüllt von kugelsicherem Glas, verfügt der Cup ausserdem über einen Sicherheitsbeschlag, der sich über das gute Stück senkt, sobald Alarm ausgelöst wird. Mit ihrer Bekanntheit ist auch die Trophäe selbst gewachsen. Ursprünglich war sie 69 Zentimeter hoch und 3,8 Kilo schwer. Heute ragt sie 1,1 Meter empor und wiegt fast 14 Kilo. Der Grund: Um die wachsende Anzahl an Gewinnern einzugravieren, wurde der Sockel um zwei Ebenen aufgestockt, die Mahagoni-Basis durch eine aus Kohlefaser ersetzt. Wenn der Pokal heute in die Welt hinausgeht, reist er standesgemäss: First Class oder Business Class, in einem massgeschneiderten Louis-Vuitton-Koffer. Und er macht viele Reisen. Seit 1997 wurde der America’s Cup in europäischen und nordamerikanischen Gewässern sowie vor Bermuda und Neuseeland ausgetragen, drei Mal wechselte er den Besitzer: 2003 ging er in die Schweiz, 2010 in die USA und 2017 zurück nach Neuseeland. Nicht schlecht für einen 175 Jahre alten Silberbecher.
Um die hochauflösenden Aufnahmen des America’s Cup und der Deed of Gift vergrössert anzusehen, einfach den QR-Code scannen und auf redbulletin.com gehen
THE RED BULLETIN 79 DEED OF GIFT COURTESY NEW YORK YACHT CLUB ARCHIVES
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Triathlon-Camp auf Lanzarote: Profi Daniel Bækkegård gibt den Coach.
Dein Guide für ein Leben abseits des Alltäglichen REISEN, HÖREN, DENKEN, ERLEBEN, FAHREN – UND GRINSEN
THE RED BULLETIN 81 KONSTANTIN REYER
RUN -ZAROTE
Top-Triathlet Daniel Bækkegård trainiert
auf der Kanaren-Insel Lanzarote
Mit Destination Red Bull bist du dabei.
Alles.» – Das ist Daniel Bækkegårds umfassende Antwort auf die Frage, was Lanzarote zur idealen Destination für sein Triathlon-Camp 2023 mache. Der Däne absolviert seine Saisonvorbereitung regelmässig auf der nordöstlichsten der acht bewohnten Kanarischen Inseln. «Zum ersten Mal war ich mit zwölf Jahren auf Lanzarote.» Auf Urlaub. Später fand er dort ideale Trainingsbedingungen.
Im Juni 2022 kürte sich Daniel vor heimischem Publikum in Helsingør zum Europameister über die 70.3-Distanz (die so heisst, weil die drei
Auf dem Weg dorthin spürt man stets die Kraft der Natur: «Auf einer Atlantik-Insel weht immer und überall Wind. Dieser natürliche Widerstand macht dich stärker – nicht nur körperlich.»
Triathlon ist ein Ausdauersport, bei dem der Geist eine entscheidende Rolle spielt: «Erfolg setzt sich aus vielen
Komponenten zusammen. An der Weltspitze macht die Physis praktisch keinen Unterschied,wir sind alle nahezu gleich gut vorbereitet. Über Sieg oder Niederlage entscheidet der Muskel zwischen deinen Ohren.»
Daniel verspricht seinen Gästen Einblicke in die Gedankenwelt eines Profsport- Einzeldisziplinen – 1,9 Kilometer Schwimmen, 90,1 Kilometer Radfahren, 21,1 Kilometer Laufen – nach USZählweise über 70,3 Meilen führen). Doch seine Aufwärmrunden zog er ganz woanders: «Der Club La Santa an Lanzarotes nordwestlicher Küste ist nicht nur die heimliche dänische Botschaft in Spanien. Diese Anlage ist der perfekte Stützpunkt für alle Aktivitäten, die wir für unser Training brauchen», sagt Daniel.
Direkt vor der Haustür beginnen die Lauf- und Radstrecken, etwa in den malerischen, 20 Kilometer entfernten Timanfaya-Nationalpark.
Meeresbrise und bizarre Gesteinsformationen: Der Club La Santa auf Lanzarote ist der perfekte Platz für ein Triathlon-Camp.
Daniel Bækkegård, 26, ist TriathlonEuropameister in der 70.3-Distanz. Er leitet Triathlon-Camps auf Lanzarote, die als Package buchbar sind.
REISEN
82 THE RED BULLETIN
21,1
Laufen: Daniel Bækkegård (li.) macht das Tempo, seine TriathlonSchüler halten Schritt.
lers. «Ich werde genau erklären, wie ich trainiere –und warum. Ich war immer Perfektionist, bevor ich mit einem Mentaltrainer zu arbeiten begonnen habe. Ich musste lernen, Situationen so zu akzeptieren, wie sie waren. Erst danach war ich in der Lage, mein Bestes zu geben.»
Daniels sportlicher Background ist das Schwimmen, das er wettkampfmässig als Siebenjähriger entdeckt hat: «Die Technik im Wasser ist am
Trainingsprogramm: Eine normale Arbeitswoche besteht aus 7 Stunden Schwimmen, 8 Stunden Laufen und 20 bis 25 Stunden am Rad: «Man sagt, dass sich Triathleten quälen. Es kommt aber auf die Sichtweise an. Wenn ich fünf Stunden durch die Gegend radle, die Sonne geniesse und dem Gesang der Vögel lausche, dann freue ich mich über den besten Job der Welt.»
Auf seiner Lieblingsinsel Lanzarote gewann er 2021 den Ironman70.3 Triathlon, der wegen der LavaLandschaft den Beinamen «Race on Another Planet» trägt. «Triathlon ist ja nicht nur ein Sport, es ist ein Lifestyle. Ich merke immer wieder, dass Menschen, die mit mir trainieren, ihr Leben aktiv und mit grosser Leidenschaft führen», strahlt Bækkegård.
ANREISE
Der Weg nach Lanzarote Von Deutschland lässt sich die Feuerinsel in vier bis fünf Stunden erreichen, von Zürich in vier Stunden. Aus Österreich dauert die Anreise mit einem Stopp in Barcelona oder Madrid ca. sechseinhalb Stunden. Der Flug von Salzburg nach Lanzarote und retour ist im Paket inkludiert.
GUT ZU WISSEN
Kanarische Kartoffeln
Runzelige Papas Arrugadas mit Schale und Salzkruste isst man mit Mojo, einer hiesigen Sauce. Auch fein: Gofio, der aus Mais, gerösteten Körnern oder weiteren Getreidearten besteht. Die Kanaren bereiten ihn divers zu: Mit Milch vermischt wird er zu einem Dessert – oder man fügt in der pikanten Variante Fischbrühe hinzu.
anspruchsvollsten. Du musst geduldig sein, wenn du gut werden willst.» Dementsprechend grossen Wert wird er den Schwimmeinheiten beimessen: «Das ist der Bereich, in dem sich jeder Triathlet am stärksten verbessern kann.»
Für sein Ziel, eines Tages den Ironman auf Hawaii zu gewinnen, absolviert Daniel selbst ein umfangreiches
Deshalb gehört auch ein Glas Wein oder ein Bier an der Bar zum geselligen Abschluss eines Trainingstages: «Allein deshalb werden wir darauf achten, dass wir tagsüber niemanden mit zu intensiven Einheiten auspowern. Wir wollen uns ja noch unterhalten und das Leben, den Moment feiern.»
Sportlicher Nachsatz: «Keine Sorge: Am Ende der Woche wird jeder seine Beine spüren. Aber es wird auch jeder der CampTeilnehmer wissen, wie er zu Hause besser trainieren kann.» Auch ohne Wind und LavaLandschaft.
Alle Infos zur Buchung, auch schon für das Triathlon-Camp 2024: destination.redbull.com. Weitere Reisen mit Red Bull-Athleten gibt’s im aktuellen Destination Red Bull-Magazin.
Lanzarote
Club La Santa
Arrecife
REIN INS ABENTEUER! Mit Rallye-Superstar Cyril Despres über die Dünen donnern FREESKIING MIT NADINE WALLNER FORMEL MIT MARK WEBBER
Kilometer
1,9 Kilometer im Wasser gilt es zu meistern. Daniel (Mitte) trainiert aber nicht nur im Pool, sondern auch im Meer.
THE RED BULLETIN 83
CARINA BRUNNAUER, KONSTANTIN REYER, CLUB LA SANTA
LESSING RELOADED
Lernen von legendären Geistesgrössen.
Diesmal: Gotthold Ephraim Lessing über den Wert von Toleranz auf Social Media.
Bitte lassen Sie mich zunächst eines loswerden: Was Ihre Zeitgenossen da in diesen sogenannten sozialen Medien veranstalten, das ist, mit Verlaub, ziemlich abgeschmackt. Einander so zu beschimpfen und gegenseitig fertigzumachen, so gehässig miteinander umzugehen – also wirklich!
Technisch mögen eure Umgangsformen ja fortschrittlich sein, geistig aber sind sie es nicht. Da frage ich mich, was aus alledem geworden ist, wofür wir im 18. Jahrhundert, im Zeitalter der Aufklärung, so hart gekämpft hatten: Vernunft, freies, selbstbestimmtes Denken, Abkehr von verstaubten Dogmen – und vor allem: Toleranz im Miteinander.
Schauen Sie, zu meiner Zeit waren die meisten Menschen in den Dogmen der Kirche gefangen. Sie schalteten ihren Verstand ab und folgten
blind dem, was man ihnen sagte. Manchmal scheint es mir, die heutige Welt hätte sich zu diesem Punkt zurückgedreht. Form und Inhalt der Dogmen mögen sich zwar verändert haben, aber sie werden genauso stur gepredigt und hirnlos befolgt wie damals.
Manchmal treten sie als Verschwörungstheorie auf, manchmal als Wissenschaftsgläubigkeit, manchmal als Fundamentalismus, manchmal als Ideologie. All diesem giftigen Zeug ist eines gemein: Jene, die es predigen, fordern für sich Toleranz, sind selbst aber zutiefst intolerant.
Wissen Sie, was mich daran so ärgert? Da wird so getan, als sei man selbst im Besitz der Wahrheit und alle anderen wären verblendete Dummköpfe, die man bekehren müsse. Ha, als ob es so einfach wäre! Da kommt mir doch gleich und nicht ganz zufällig mein «Nathan der
Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) war einer der führenden Köpfe der Aufklärung in Deutschland. Zeit seines Lebens warb er für Toleranz und freies Denken und betonte mit Nachdruck, dass es in Fragen von Religion und Ethik keine endgültigen Wahrheiten geben könne.
Weise» in den Sinn. Was sagte er doch gleich in seinem grossen Monolog, den ich ihm in den Mund gelegt habe? Man solle nicht meinen, die Wahrheit sei wie eine bare Münze, die man einfach so in seine Tasche stecken kann!
Nein, die Wahrheit kann man nicht besitzen. Wahrheit ist, wonach man immer wieder suchen muss, weil man sie niemals endgültig fnden kann. Nicht die Wahrheit, in deren Besitz sich jemand wähnt, macht den Wert eines Menschen aus, sondern die Mühe, die er aufwendet, um nach ihr zu fahnden. Aber dafür muss man eines tun: denken! Dafür muss man bereit sein, seine eigene Meinung von anderen infrage stellen zu lassen. Ja, mehr noch: Dafür muss man sogar bereit sein, sich selbst infrage zu stellen.
Und deshalb beginnt die Wahrheit mit der Toleranz, dem Zulassen. Toleranz heisst nicht: «Ist mir doch egal.» Denn das nennt man Gleichgültigkeit. Toleranz bedeutet vielmehr: «Okay, es könnte sein, dass etwas Wahres dran ist, schauen wir mal …»
Christoph Quarch, 58, beantwortet neue Fragen im Namen der alten Denker. Er ist Philosoph, Hochschullehrer, Gründer der Neuen Platonischen Akademie (akademie-3. org) und Autor zahlreicher philosophischer Bücher, u. a. «Kann ich? Darf ich? Soll ich? Philosophische Antworten auf alltägliche Fragen», legendaQ.
Toleranz ist keine Haltung, sondern eine Aufgabe. Eine, die sich immer neu stellt. Sie gedeiht nur dort, wo ich davon ausgehe, dass weder ich noch jemand anderer die Wahrheit für sich beanspruchen kann – und dass es «wahrhaftig» keinen Grund gibt, rumzupöbeln oder andere zu diffamieren. Diese Lektion müssen heute viele Menschen wieder lernen, vor allem für ihren Umgang mit den sozialen Medien.
Deshalb bin ich für eine neue Aufklärung.
DENKEN
84 THE RED BULLETIN PICTUREDESK.COM, ULRICH MAYER DR. CHRISTOPH QUARCH
«ICH ERLEBTE
DIE INTENSIVSTEN EMOTIONEN»
Derzeit pulverisiert Nationalidol Marco Odermatt im alpinen Skisport so ziemlich jeden Rekord. Ein Rennen boostete sein Selbstbewusstsein entscheidend.
mit weissen Linien und zwei Toren. Beim Skifahren hast du stets andere Verhältnisse, andere Kurse, andere Lichtund Schneeverhältnisse. Deshalb meine Entscheidung fürs Skifahren!»
Ski-Superstar
Marco Odermatt, 25, über seinen wegweisenden Renntag in Adelboden im Jahr 2022: «Ich spürte den grössten Druck meines Lebens.»
Weshalb hat sich Marco Odermatt als kleiner Junge bei der Wahl zwischen Skifahren und Fussball für Latten statt Leder entschieden? «Das hat mit vielen Freundschaften zu tun, die früh beim Skifahren entstanden sind. Wir waren eine coole Gruppe aus allen Regionen der Schweiz und haben draussen in der Natur viel Action erlebt. In erster Linie aber ist Skifahren wesentlich vielseitiger als Fussball. Am Fussballplatz ist der Rasen immer gleich grün,
Das und viel mehr erzählt Odermatt bei der Premiere unseres neuen Red BulletinPodcasts «Crossroads». Darin sollen Sportlerinnen und Sportler, Künstlerinnen und Künstler, Avantgardisten und andere spannende Persönlichkeiten aus der Schweiz zu Wort kommen und über die wichtigsten Wendepunkte und Weggabelungen ihrer Laufbahn berichten. Odermatt, der derzeit erfolgreichste Skirennläufer in den SpeedDisziplinen (Riesenslalom, Super-G und Abfahrt), ist aus gutem Grund Gast der ersten Episode: Der 25-jährige Stanser holte 2022 Olympia-Gold im Riesenslalom, gewann den Gesamtweltcup der Saison 2021/22 und wurde im Februar Abfahrtsweltmeister. Viele spannende Schlüsselmomente also – und so hat er sich für das Gespräch auch ein halbes Dutzend wegweisender Augenblicke in Erinnerung gerufen.
Und wann war ihm klar, dass er Prof wird? «Das war bei der Junioren-WM 2018 in Davos. Ich war gerade erst zwanzig und konnte fünf von sechs Disziplinen für mich entscheiden. Daher war Davos die erste grosse Bestätigung für mich als jungen Skirennfahrer. Ich wusste, ich bin auf dem richtigen Weg und kann grosse Ziele erreichen.»
Und welcher CrossroadsMoment zeigte Marco, dass er mit hohem Erwartungsdruck umgehen kann? «Das war sicher mein Sieg beim traditionsreichen Riesenslalom in Adelboden, im Januar 2022. Adelboden ist für mich das grösste Rennen überhaupt, mit mehr als 30.000
Zusehern am Chuenisbärgli. Alle Schweizer erwarteten von mir den Sieg – es war der grösste Druck, den ich in meinem ganzen Leben gespürt habe. An diesem Tag lernte ich: Wenn das Rennen unter so einem Druck funktioniert, dann kann ich im Skisport alles schaffen! Laut meinem Trainer war ich in meiner eigenen Bubble gefangen. Ich war nicht ansprechbar und totenbleich. Ich erlebte die intensivsten Emotionen über den ganzen Tag verteilt.»
Die erste Vorentscheidung in Marcos Berufsleben zeigte sich in seinem Berufswunsch als Kind: «Ich hatte nur einen Plan A: Ich wollte unbedingt Samichlaus werden! Das habe ich immer in die Freundschaftsbücher in der Schule hineingeschrieben. Heute denke ich, dass das als Job schwierig sein könnte, obwohl man nur einen Tag pro Jahr arbeitet. Samichlaus als Berufsziel war aber richtungsweisend – immerhin ist es ein Job geworden, der mit Bewegung im Schnee zu tun hat. Mittlerweile läuft es aber im Skisport so gut, dass Samichlaus nur mehr mein Plan B ist.» Das gesamte «Crossroads»-Interview gibt es auf allen gängigen PodcastPlattformen zu hören.
«Crossroads» ist die The Red Bulletin PodcastSerie, in der Heldinnen und Helden über die Wendepunkte ihrer Laufbahn sprechen. Zu finden auf allen StreamingPlattformen wie Spotify und Apple Podcasts und auf redbulletin.com/podcast
HÖREN
86 THE RED BULLETIN ALFRED JÜRGEN WESTERMEYER/RED BULL CONTENT POOL
DIE KRAFT DES GRINSENS
Wenn die Muskeln
das Gehirn überlisten: Je verkrampfter du lachst, desto besser fühlst du dich, verrät Profi-Biohacker
Andreas Breitfeld
Was ich mache, wenn sich meine Stimmung zu verfnstern droht?
Wenn mich etwas traurig macht oder ärgert? Ich fange an zu grinsen! Ich begegne Trübsinn mit strahlender Miene – nicht, weil ich von buddhistischer Gelassenheit wäre (ich bin auf dem Weg dorthin, aber noch nicht ganz am Ziel), und auch nicht, weil ich mein Talent für Zynismus auslebe. Ich grinse, und zwar möglichst breit, weil ich als Biohacker weiss, dass Grinsen ein mächtiges Tool ist, um gute Laune zu triggern.
Die dahinterliegenden Regelkreisläufe erscheinen recht einfach und sind gerade deswegen faszinierend: Um ein Grinsen zu produzieren, spannen wir unsere Gesichtsmuskeln an. Über Nervenreize wird das Gehirn über diesen Vorgang informiert: «Hey, die Muskeln A, B, C und D –im Gesicht sind es insgesamt nicht weniger als 17 – sind aktiv!» Und was fängt das Gehirn mit dieser Information an? Es bleibt ausnahmsweise einmal gedankenlos und
DIE KÜCHE IN DEINEM OBERSTÜBCHEN
Je stärker die entsprechenden Gesichtsmuskeln arbeiten, desto deutlicher erreicht das FakeSignal das Hirn – und desto zuverlässiger folgt dessen Reaktion: Die Hormonküche startet ihre Arbeit und setzt Serotonin und Dopamin frei.
hinterfragt sie nicht gross, sondern zieht eine banale Schlussfolgerung, nämlich: Es muss ja einen Grund dafür geben. Denn Grinsen, das ist im Gehirn gespeichert, ist immer mit einer positiven Emotion gekoppelt.
Findet sich kein unmittelbarer Anlass, gerät das Gehirn nicht ins Zweifeln, sondern geht davon aus, es habe den Anlass übersehen, und setzt folgsam die passenden Hormone frei: die mächtigen Glückshormone Serotonin und Dopamin.
Wir haben unser Gehirn mit dem FakeGrinsen ausgetrickst. Vielleicht nicht besonders nett, aber wirksam: Das Gehirn passt den Regelkreislauf an den Zustand an. Die Laune bessert sich, nach rund einer Minute spürst du erste Effekte.
Hoch mit den Mundwinkeln! Eine Minute Grinsen setzt Glückshormone frei.
Die Biohacking-Praxis ist der PerformanceLifestylePodcast für alle, die mehr über Biohacking (und sich selbst) erfahren wollen. QRCode
BIOHACKING
Andreas Breitfeld, 49, ist Deutschlands bekanntester Biohacker. Er forscht in seinem speziellen Lab in München. Biohacking umfasst, vereinfacht gesagt, alles, was Menschen eigenverantwortlich tun können, um Gesundheit, Lebensqualität und Langlebigkeit zu verbessern.
scannen und reinhören.
88 THE RED BULLETIN PRIVAT ANDREAS BREITFELD BRATISLAV MILENKOVIC ´
DER KOMFORTABELSTE LAUFSCHUH *
ASICS hat das Ziel, neue Massstäbe für den Laufkomfort zu setzen.
Bei ASICS ist der Name Programm. Und zwar wortwörtlich, denn ASICS steht für « Anima Sana In Corpore S ano» – also: «Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper».
ASICS-Gründer Kihachiro Onitsuka sah in Japan der Nachkriegszeit, dass Sport die Stimmung der Menschen hob. Dieses Mindset trägt ASICS als Marke seit seiner Gründung vor über siebzig Jahren weiter und widmet sich dieser Aufgabe: das Wohlbefinden des Einzelnen und der Gesellschaft durch Sport zu verbessern.
Das gelingt durch die Mischung aus Forschung und dem Nutzen neuester Technologien. ASICS setzt auf Innovation und ständige Weiterentwicklung – und das zeitigt Erfolge: Der neue Laufschuh
GEL-NIMBUS™ 25 wurde in einem unabhängigen Test von «The Biomechanics Lab» von Läufer*innen als komfortabelster Laufschuh bewertet.
Das weiche Obermaterial aus Strick ist hautfreundlich und bietet eine optimale Ventilation, ausserdem ist ein angenehmes Tragegefühl garantiert. Sein Strickkragen-Design bietet mehr Flexibilität und sorgt am Fussgelenk für ein angenehmes und sicheres Tragegefühl. Die Mittelsohle überzeugt durch die bisher sanfteste Dämpfung dieser Serie. Durch die FF BLAST™ PLUS ECO Dämpfung ist der Sportschuh leichter und
Bist du bereit für den komfortabelsten Laufschuh? Die ASICS-Technologie passt sich genau an deine Ziele an.
für nimmermüde Füsse: Die METARUN™ Packable Vest ist perfekt für Tage, an denen dem Wetter nicht zu trauen ist. Sie hält warm, fällt aber kaum ins Gewicht, kann also während des Laufs leicht entfernt und in die Tasche gepackt werden.
Der neue ASICS-Laufschuh ist nicht nur eine Komfort-Revolution, er tut auch etwas für die Umwelt.
noch bequemer. Und weil ASICS auch in allen anderen Belangen mit der Zeit geht, hat der Schuh geringere negative Auswirkungen auf die Umwelt. Er besteht nämlich zu mindestens zwanzig Prozent aus biobasiertem Material aus erneuerbaren Quellen. ASICS sorgt aber nicht nur
*Unabhängiger Test, verglichen mit Konkurrenzprodukten, The Biomechanics Lab, South Australia
Zudem erhöht die METARUN™ Split Shorts dank ihren längeren Seitenschlitzen und dem hochwertigen Stretchmaterial die Bewegungsfreiheit und bietet darüber hinaus mit ihren vielen Taschen nützlichen Stauraum. Alles für einen gesunden Geist in einem gesunden Körper.
PROMOTION
ALLES LÄUFT NACH PLAN
Am 7. Mai findet der Wings for Life
World Run statt. Freestyle-Skierin
Fanny Smith und Bergläuferin
Judith Wyder geben uns weltmeisterliche Tipps für die Vorbereitung.
Kälte, Nässe, der Himmel immer wieder grau und dunkel. Zugegeben: Wenn der Frühling noch ganz frisch ist, fällt es nicht immer leicht, sich fürs Laufen zu motivieren. Der Wings for Life World Run am 7. Mai ist aber der perfekte Grund, sich wieder in Form zu bringen. Bei diesem Lauf erhöht jeder zurückgelegte Meter der Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Spende für die Rückenmarksforschung. Das grosse Ziel: Menschen mit Querschnittslähmung sollen künftig wieder gehen können.
Für die Schweizer Freestyle-Skierin Fanny Smith ist der Lauf ein Pflichttermin. Das hat auch persönliche Gründe. «Ein Freestyle-Kollege ist seit einem schweren Unfall querschnittsgelähmt, für ihn und alle, die ein ähnliches Schicksal haben, laufe ich mit», sagt sie. Nicht weniger motiviert ist die Berg- und Trailläuferin Judith Wyder. «Für einen so guten Zweck zu laufen ist eine wunderbare Sache, das lasse ich mir nicht entgehen», sagt die Schweizerin, die dieses Jahr schon zum sechsten Mal startet.
Fanny Smith, 30, hat im Skicross bereits 2013 WeltmeisterGold und 2018 und 2022 OlympiaBronze abgeräumt.
Kraft tanken
Fanny Smith gibt hier Tipps für ein effektives Krafttraining.
1. Der Fuss
Mit dem rechten Fuss auf ein Steppbrett steigen, der andere Fuss ist abgewinkelt in der Luft. Durch kleine Fussbewegungen auf dem Standbein einmal um die eigene Achse drehen. Dann wechseln.
Effekt: Gleichgewicht und Kraft in den Füssen werden gestärkt.
2. Das Knie
Wir bleiben auf dem Steppbrett, stellen uns auf ein Bein, stützen die Arme in die Hüften und machen langsame Kniebeugen. Unbedingt darauf achten, mit dem Standbein gerade in die Hocke zu gehen und das Knie nicht nach innen zu drehen.
Effekt: Das Knie wird gestärkt und stabilisiert – das verringert die Verletzungsgefahr beim Laufen.
TRAINIEREN
90 THE RED BULLETIN
3. Gesäss und Oberschenkel
Auf den Boden legen, die Beine leicht anwinkeln. Das Becken mehrmals etwa 50 Zentimeter hochheben und wieder senken. Das Gewicht verteilt sich zwischen oberem Rücken und Füssen. Zusatzübung: Beim Hochheben abwechselnd das rechte und das linke Bein heben, dann liegt das eigene Körpergewicht nur auf einem Fuss.
Effekt: Die Gesäss und Oberschenkelmuskulatur wird gestärkt.
Run & Fun: Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Wings for Life World Run 2022 in Zug.
Judith Wyder, 34, ist fünffache Weltmeisterin und sechsfache Europameisterin im Orientierungslauf.
Lang laufen
Judith Wyder verrät, wie wir unsere Ausdauer kontinuierlich verbessern können.
1. Kontinuität Regelmässiges Training ist wichtig. Als Anfänger startest du mit einer halben Stunde pro Woche: Abwechselnd fünf Minuten laufen, fünf Minuten gehen, dann Laufzeit steigern.
2. Das richtige Tempo
Der Höchstpuls ist individuell. Um ihn zu ermitteln, am besten fünf Kilometer rennen und dann messen. Die ideale Laufgeschwindigkeit ist ein Basistempo, in dem man sich problemlos unterhalten kann.
3. Steigerung
Wie oft und wie lange trainieren? Zuerst die Zahl der Trainingseinheiten steigern: Wir laufen zweimal die Woche und steigern uns nach ein paar Wochen auf dreimal. Danach die Trainingsdauer erhöhen, wir beginnen zum Beispiel mit 20 Minuten, verlängern auf 30 Minuten und so weiter.
4. Abwechslung
Für mehr Ausdauer beim Laufen tut Abwechslung not. Daher: Nicht nur fache Strecken laufen, sondern Laufwege fnden, bei denen es auch mal bergauf und bergab geht.
5. Schonung
Essenziell sind Regenerationsphasen. In der Woche vor dem Wings for Life World Run keine anstrengenderen Trainingseinheiten mehr einplanen. Und vor dem grossen Tag gilt: normal essen, nicht zu viel, nicht zu wenig.
APP GEHT’S!
Alles zur App und Teilnahme am Wings for Life World Run Bist du Spitzensportler:in, Hobbyläufer:in, oder startest du im Rollstuhl? Beim Wings for Life World Run ist jede und jeder willkommen. Egal ob in Zug vor Ort oder via App. Der Startschuss fällt weltweit für alle zur selben Zeit: um 11 Uhr UTC. Und es gibt keine Ziellinie. Dafür ein Catcher Car. Das nimmt 30 Minuten nach dem Start die Verfolgung auf und überholt die Teilnehmer:innen nach und nach.
Gemütliche Läufer:innen werden so beispielsweise bei Kilometer 5 überholt, Spitzensportler:innen schwitzen schon mal bis Kilometer 60. Das Ergebnis richtet sich nach der zurückgelegten Distanz. Via App Run funktioniert das Ganze mit virtuellem Catcher Car. So kann man trainieren und sich von einem virtuellen Catcher Car verfolgen lassen, motivierende Updates und Ansagen hören. Am Wettkampftag schliesslich gibt es die volle Audiobegleitung: praktische Infos, Aufwärmprogramm, Interviews von Teilnehmenden und vieles mehr.
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THE RED BULLETIN 91 DEAN TREML/ROMINA AMATO/ATTILA SZABO FOR WINGS FOR LIFE WORLD RUN, LORENZ RICHARD/RED BULL CONTENT POOL GUNTHER MÜLLER SASCHA BIERL
BREAKS OHNE PAUSE
Gaming, Velofestival, Breaking – diese Events solltest du nicht verpassen! 8 11
MAI RED BULL BC ONE CYPHER SWISS FINAL
In Zürich batteln sich am 20. Mai 2023 die besten vier helvetischen B-Girls und 16 B-Boys beim Red Bull BC One Cypher Switzerland. Bei der bedeutungsvollsten heimischen Solo-Competition für Breaker bringen sie die Halle 622 zum Kochen. Dabei geht es nicht nur darum, wer sich am Ende die Hochachtung der Schweizer Breaker-Szene verdient, sondern um die grosse Frage: Welches B-Girl und welcher B-Boy vertreten die Schweiz am Red Bull BC One World Final im Oktober 2023? Tickets für das 1-on-1 Breaking Battle auf: redbull.com/bconeswitzerland
APRIL
DIE RED BULL HOMERUN PARTY
Das verrückteste Ski- und Snowboard-Downhill-Rennen macht in Verbier halt: Der Red Bull Homerun ist der pure Wahnsinn, alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer rennen in einem Massenstart zu ihren Skiern und Snowboards und rasen dann Richtung Tal. Und danach: in Richtung beste Après-Party der Saison. Infos: redbull.com/homerun
BIS 22. APRIL
B-Boy Junior und B-Girl Kalli am Red Bull BC One Cypher 2022
APRIL
MEDIA WORLD: WATER –BREAKING THE SURFACE
Den Atem anhalten, wenn eine Monsterwelle über einem hereinbricht oder auf der 27 Meter hohen Red Bull-Cliff-DivingPlattform von Sisikon stehen: In der Sonderausstellung
«Water – Breaking the Surface» kannst du in der Red Bull Media World selbst in extreme Wassersportarten und in die Geschichten von Red Bull-Athletinnen und -Athleten eintauchen. redbull.com/mediaworld
MASSIVE JUMPS BEI DEN SWATCH NINES
Die Besten aus Freeskiing und Snowboarding, dazu einer der innovativsten Snowparks, der jemals gebaut wurde – hier bekommt man die Zukunft des Wintersports. Willkommen bei Swatch Nines! Die werden heuer am Fusse des Schilthorns – mit atemberaubender Aussicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau – stattfinden, WorldFirsts, Jumps und virale Momente inklusive!
BIS 14. MAI VELOFESTIVAL CYCLE WEEK
Die Cycle Week, das nationale Velofestival, zeigt in der Europaallee beim Hauptbahnhof Zürich und in der Brunau neue Trends und alles, was sich bewährt hat und Velofans lieb und teuer ist. Auf Besucherinnen und Besucher wartet das grösste Schweizer Veloschaufenster, 150 Workshops, Reisereportagen und Fahrtechnikkurse, Veloneuheiten, ausgiebige Velo-Tests, Shows und Contests rund ums Bike. Alle Infos auf: cycleweeek.ch
ERLEBEN
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92 THE RED BULLETIN MURIEL FLORENCE RIEBEN/RED BULL CONTENT POOL, SIMON VON GUNTEN, JOERG MITTER/RED BULL CONTENT POOL, JAN CADOSCH/RED BULL CONTENT POOL, FABIO PIVA/RED BULL CONTENT POOL
BIS 23. APRIL RED BULL ZÜRICH UNLOCKED
In einem einzigartigen Event werden mehr als zehn Clubs und Bars der Stadt für ein langes Wochenende unter einem Dach vereint. Beim Red Bull
Unlocked Zürich verwandelt sich die Kalandergasse 1 nämlich in eine riesige Mansion, in der Bars, Dancefloors, Experimente, Restaurants und viele andere Überraschungen von den Akteuren des Zürcher Nachtlebens geboten werden. Eine aussergewöhnliche Erfahrung an einem aussergewöhnlichen Ort – für eine unvergessliche Nacht! Alle Infos auf redbull.com/unlocked
MÄRZ RED BULL IT E MANIA LEAGUE OF LEGENDS
Das League of Legends Event der Schweiz ist zurück: Das rasante Online-Spiel wird von Team Ocean und Team Inferno, jedes mit einzigartigem Design und Spielstil, auf verschiedenen Schlachtfeldern ausgefochten. Es geht um 2000 Franken – und um die Ehre. Infos: redbull.com/itemania
APRIL
KREATIV KRITZELN BEI RED BULL DOODLE ART
Doodle-Zeichnen liegt im Trend! Kleine kunstvolle Kritzeleien helfen dabei, den Kopf freizukriegen. Red Bull Doodle Art gibt Kreativen die Gelegenheit, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Es braucht nur einen blauen oder schwarzen Stift, ein A4-Blatt Papier und etwas zeichnerisches Talent. Die besten 20 Schweizer Einsendungen werden im Haus der Kallistik in Zürich ausgestellt.
MÄRZ BIS 2. APRIL WELTMEISTER-BATTLE FREERIDE WORLD TOUR
Das Wintersportgebiet Verbier ist jedes Jahr Austragungsort des Finales der Freeride World Tour: Nach vier Wettkämpfen rund um den Globus treffen die besten Freerider der Welt im Rahmen der Xtreme-Veranstaltung am legendären Bec des Rosses auf 3222 Meter über Meer aufeinander und kämpfen um den WeltmeisterTitel. Schmale Passagen und extreme Gefälle an der Nordwand sorgen für ein eindrückliches Spektakel. Im Ort finden zudem Veranstaltungen für Freerider und Fans statt. Infos auf: freerideworldtour.com
Freeriding-Hotspot: die Flanke des Bec des Rosses
BIS 16. APRIL MAN’S WORLD
Mit Freunden Whiskey oder Gin degustieren, unter den Augen eines echten Piloten das eigene Flugtalent am Flugsimulator testen, aussergewöhnliche Produkte kennenlernen: All das bietet die Man’s World 2023, eine Spielwiese für Männer auf 2500 Quadratmeter Fläche, die in der Halle 550 in Zürich-Oerlikon stattfindet. Infos auf: mansworld.com
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Menge an Spermien, und wenn die aufgebraucht sei, könne der Mann keine Kinder mehr zeugen. Zur selben Zeit bezeichnete der Papst die Geburtenkontrolle mithilfe der Antibabypille als «immer unerlaubt». Zur selben Zeit durften Frauen in der Schweiz nicht wählen. – Das ist alles lange her. Aber eigentlich ist es nicht lange her.
Und zu ebendieser Zeit eröffnete eine Frau in der deutschen Provinzstadt Flensburg den ersten Sexshop der Welt: Beate Uhse. Die Produkte in ihrem Geschäft wurden vorsichtshalber «Mittel zur Ehehygiene» genannt. Das meinte Reizwäsche ebenso wie Kondome oder Aufk lärungsbücher – Aufklärung hauptsächlich für Männer, denn über weibliche Sexualität wurde in der damaligen Zeit meist nur in abwertender, ordinärer Weise gesprochen. Weibliche Lust wurde oft als ekelhaft und hurenhaft denunziert. Dass ausschweifende Begierde schön und harmoniefördernd sein und sogar die Scheidungsrate senken könne, das wurde in den ersten Broschüren in dem Shop von Beate Uhse verkündet. Der Erfolg war gewaltig. Männer – am Beginn waren es nur Männer –, die den Laden betraten, taten das zwar mit gesenktem Kopf und hochgestelltem Kragen, sprachen mit dem Verkäufer – am Beginn waren nur Männer als Verkäufer angestellt – oftmals mit verstellter Stimme, aber sie kamen. Und immer mehr kamen. Und sei es auch nur, um sich die Bilder in den diversen Heften anzusehen. Flensburg allein genügte bald nicht mehr.
Michael Köhlmeier
erzählt die aussergewöhnlichen Geschichten inspirierender Figuren – faktentreu, aber mit literarischer Freiheit.
MUTTER CORSAGE
Folge 16: Beate Uhse
entstaubt die Moral und wird mit Sexshops reich.
Es gab eine Zeit, da waren in den Badeanstalten von Vorarlberg Bikinis verboten. Zur selben Zeit war «Das Schweigen», ein Meisterwerk des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, in den Kinos ebendieses Bundeslandes verboten. Zur selben Zeit war es in ganz Österreich für eine Frau verboten, ohne die ausdrückliche Zustimmung ihres Ehemannes einen Beruf zu ergreifen. Zur selben Zeit war Homosexualität in Österreich verboten. Zur selben Zeit warnten katholische Geistliche pubertierende Buben davor, zu onanieren, denn der Körper speichere nur eine bestimmte
Beate Uhse, die Frau, die es gewagt hatte, ein granitenes Tabu zu brechen, war damals dreiundvierzig Jahre alt, und sie hatte bereits eine ungewöhnliche Karriere hinter sich. Eigentlich müsste es heissen: mehrere Karrieren. Als Teenager wollte sie Sportlerin werden, mit fünfzehn war sie hessische Meisterin im Speerwerfen. Sie sei auch eine gute Läuferin gewesen, eine gute Weitspringerin, eine besonders gute Seglerin und eine Schwimmerin dazu. Warum sie sich ausgerechnet auf den Speerwurf konzentriert habe, wurde sie später einmal gefragt. Sie habe sich für alte Sagen interessiert, sagte sie, am meisten habe sie die Geschichte der Amazonen begeistert. Bogenschiessen wäre noch infrage gekommen, aber dieser Sport sei für Frauen nicht angeboten worden. Also der Speer.
Sie stammte aus einer freidenkerischen Familie. Ihre Mutter gehörte in Deutschland zu den ersten Ärztinnen, ihre Praxis in einer kleinen Gemeinde in der Nähe von Kiel sei immer voll gewesen, hauptsächlich Frauen hätten sich von ihr behandeln lassen, bis von Hamburg herauf seien sie gekommen, manche sogar von Berlin. Beate und ihre Schwester wurden so erzogen wie ihr Bruder, das war zu dieser Zeit mehr als ungewöhnlich. Die Eltern klärten die Kinder früh auf, sprachen über Sexualität ohne Vorurteil und Tabu. Wenn sie sich mit Gleichaltrigen unterhalten habe, erzählte Beate Uhse, sei sie sich vorgekommen, als wäre sie aus einer anderen Welt hier gelandet. Sie habe sich nicht getraut, über Sexualität zu sprechen, nicht aus Prüderie, sondern weil sie nicht gewusst habe, was als unanständig empfunden werde und was nicht, sie
BOULEVARD DER HELDEN
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MICHAEL KÖHLMEIER
GINA MÜLLER, CLAUDIA MEITERT
GETTY IMAGES (7)
wollte als «junges Ding» keine Aussenseiterin sein, sie habe in der Sexualität nie etwas Unanständiges gesehen, sie habe gedacht, sie sei zwar in puncto Liebe, aber nicht in puncto Unanständigkeit von ihren Eltern genügend aufgeklärt worden.
Ob sie wollte oder nicht, sie war eine Aussenseiterin. Und später fand sie daran Gefallen. Sie war erst siebzehn Jahre alt, da beschloss sie, Pilotin zu werden. Gegen massive Widerstände, aber mit Unterstützung ihrer Mutter, setzte sie durch, dass ihr an der berühmten Fliegerschule Rangsdorf in Brandenburg wenigstens zehn Flugstunden gewährt wurden. Ihr Vorbild war Charles Lindbergh, der hatte 1927 als Erster im Alleinfug den Atlantik überquert. An ihrem achtzehnten Geburtstag bekam sie den Flugzeugführerschein überreicht. Ein hoher Politiker aus Berlin soll den Ausbildnern in Rangsdorf dringend geraten haben, mit niemandem darüber zu sprechen, sonst könne das andere Frauen ermutigen, ebenfalls in Männerberufe vorzudringen. Beate wurde von einer Flugfrma als Pilotin eingestellt, während des Krieges fog sie Einsätze mit einer Messerschmitt und einer Focke-Wulf. Im Oktober 1944 wurde sie zum Hauptmann der Luftwaffe ernannt.
Über diese Zeit wollte sie später nicht sprechen. Weil sie ein Vorbild für die Emanzipationsbewegung der Frau sei, werde darauf verzichtet, ihre Zeit während des Nationalsozialismus näher zu beleuchten, wurde mehrfach kritisiert. Die von Alice Schwarzer gegründete Zeitschrift «Emma» brachte die Kritik auf den Punkt: «Beate Uhse ist eine Emanze. Eine, die sich auf Kosten von Frauen emanzipiert und es mit Kerlen hält. Eine, die alles kann und alles tut. Eine, die immer dabei ist. An vorderster Front. Seite an Seite kämpft sie mit den Kameraden. Im Nazi-Krieg wie im Sex-Krieg. Gestern mit Bomben. Heute mit Pornos.»
Nach dem Krieg wurde Beate Uhse von den Besatzungsmächten verboten, weiter ihren Beruf als Pilotin auszuüben. Sie war als Nazi-Frau gebrandmarkt. Diesen schändlichen Ruf wollte sie loswerden. Man kann einen schlechten Ruf am besten loswerden, indem man sich einen noch schlechteren erwirbt. Das ist eine Weisheit, die sich nur mit Erfahrung erwerben lässt. In den Fünfziger- und Sechzigerjahren bis in die Umbruchzeit der Studentenbewegung, für die das Jahr 1968 steht, wog der Ruf, ein Nazi gewesen zu sein, weniger schwer als jener, jemand zu sein, der offen über Sexualität spricht, der offen über Lust spricht. Und wenn dieser Jemand noch dazu eine Frau war, dann stand der Skandal in voller Blüte. Noch immer, vor allem auf dem katholischen Land, herrschte die Doktrin, die Sexualität, ganz gewiss aber die weibliche, diene ausschliesslich der Fortpfanzung.
Beate Uhse gab eine Broschüre heraus, in der offen und pragmatisch über Verhütung diskutiert wurde, besonders über die Kalendermethode, eine Broschüre, in der den Frauen empfohlen wurde, mit ihrem Mann offen und lustvoll über Methoden des Coitus interruptus zu sprechen, und dass es viele Arten gebe, einander zu befriedigen. Die Broschüre – Beate Uhse nannte sie reisserisch «Schrift X» – wurde für 50 Pfennig vertrieben und war ein unglaublicher Erfolg. Die wirksamste
Werbung war – wie so oft in ähnlichen Fällen – die Verteufelung. Von den Kanzeln herab wurde gegen die Verkommenheit gewettert. Verhütung ist Sünde! Aber die soziale Lage in jenen Jahren erlaubte es vielen Ehepaaren nicht, eine Familie zu unterhalten, wie sie den strengen Kirchenmännern vorschwebte. Mehr als zwei Kinder konnten sich viele Familien nicht leisten. Aber auf Sexualität verzichten wollten Männer und Frauen nicht. Also machte man sich kundig – mit gesenktem Kopf, hochgestelltem Kragen und verstellter Stimme.
Michael Köhlmeier
Der Vorarlberger Bestsellerautor gilt als bester Erzähler deutscher Zunge. Zuletzt erschienen: der Roman «Frankie», 206 Seiten, Hanser Verlag.
Von nun an wurde von Beate Uhse nicht mehr als der Nazi-Bomberin gesprochen, sondern als der «Mutter Courage des Tabubruchs». Und das war positiv gemeint. Die Mutter Courage war spätestens seit dem Theaterstück von Bertolt Brecht eine Heldenfgur der Nachkriegszeit. Sie war eine, die mitgemacht hatte, die vom Krieg proftiert hatte, die aber getan hatte, was jeder an ihrer Stelle tun würde, nämlich sich selbst und ihre Kinder durch eine schwere Zeit zu bringen. Manche meinten, Frau Uhse habe diese Bezeichnung sehr gefallen, andere mutmassten, sie selbst sei es gewesen, die sie in Umlauf gebracht habe. Eine gute Geschäftsidee war es allemal.
Die Eröffnung des ersten Sexshops in Flensburg war minutiös geplant. Es war mit Protesten zu rechnen. Der Volkswartbund, VWB, hatte Aktionen angekündigt. Es war dies eine Vereinigung der katholischen Kirche, die Niederlassungen in der ganzen Bundesrepublik unterhielt. Ihr Anliegen war es, in Presse und Film nach Unsittlichem zu suchen und es anzuprangern. Frau Uhse verlegte die Öffnung ihres Sexshops auf den Heiligen Abend, weil sie meinte, am Tag des Friedens und der Versöhnung werde sich die Wut der «braven» Bürger in Grenzen halten. Ihr Anwalt befürchtete, es könnte zu Übergriffen bis hin zur Zerstörung des Geschäftes kommen. Das geschah nicht. Der VWB aber erstattete Anzeige, und immerhin gelang es ihm durchzusetzen, dass viele Artikel aus dem mit rosa Neonschrift beleuchteten Geschäft verboten wurden, nämlich solche Artikel, die «der unnatürlichen, gegen Zucht und Sitte verstossenden Aufpeitschung und Befriedigung geschlechtlicher Reize» dienten. Lange hielt das Verbot nicht.
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Mit der sexuellen Befreiung, als Folge der 68erBewegung, legte sich die Aufregung, die Sexshops der Beate Uhse gehörten bald zum Bild der Einkaufsstrassen aller grossen Städte in der Bundesrepublik Deutschland. Beate Uhse wurde endlich als eine der bedeutendsten Unternehmerinnen des Landes anerkannt und geehrt. Sie selbst verneigte sich vor ihren «Befreiern», als sie 1970 das später legendäre Loveand-Peace-Festival auf der Ostseeinsel Fehmarn sponserte – bei dem übrigens Jimi Hendrix das letzte Mal auftrat, zwölf Tage später starb er.
Schliesslich bekam Beate Uhse das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen, und – was sie noch mehr freute – zu ihrem achtzigsten Geburtstag wurde sie gebeten, sich in das Goldene Buch der Stadt Flensburg einzutragen. Am 16. Juli 2001 starb Beate Uhse, eine der umstrittensten Persönlichkeiten Nachkriegsdeutschlands, im Alter von einundachtzig Jahren.
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