LEKTÜRE
Respekteinflössend: Der Typ 650 hätte ein Sieger werden können
einsatzbereit zu halten. Sondern auch, einen 1,5-Liter-Rennwagen als Zukunftslösung zu entwickeln. Die aus dieser surreal anmutenden Forderung erwachsenden Streitigkeiten zwischen Industriekapitänen und einem egozentrischen Parteibonzen um Materialkontingente, Rohkautschukimporte und die Versorgung mit Rennbenzin zeichnen ein in dieser Form bislang unbekanntes Bild vom Hintergrund des staatlich ebenso subventionierten wie reglementierten Rennbetriebs. In der Chemnitzer Konzernzentrale war man jedoch schnell der Ansicht, die enormen Aufwendungen für den Kraftwagensport nicht weiter verantworten zu können. Man dachte ab der Saison 1940 sogar laut über zwei bis drei Jahre Pause im Automobilrennsport nach, doch die Entwicklung des 1,5-Liter-Boliden war bereits verabschiedet worden. Das Buch stellt erstmals den dazu betriebenen Aufwand bis zum 31. Juli 1941 dar – dem Tag, an dem die letzten 20 Angestellten der Rennabteilung alle Arbeiten einstellen mussten. Die komplexe Entstehungsgeschichte des Typ 650 lässt sich nur aus der frühen Nachkriegsgeschichte Ostdeutschlands verstehen. «Reparation heisst Wiedergutmachung» – unter dieser Überschrift entschlüsselt Dr. Kirchberg das System sowjetischer Trophäenkommissionen, in Ostdeutschland beheimateter sowjetischer Aktiengesellschaften und der kurz nach Kriegsende gegründeten Technischen Büros. Alle diese Institutionen dienten sowohl der Sicherung und Abschöpfung wissenschaftlichen und technischen Know-hows als auch der Suche, Sicherstellung, Lagerung und dem Abtransport von Beutegut, um die festgelegte Reparationssumme von zehn Milliarden US-Dollar aufzubringen. Zu den sowjetischen Neugründungen zählte 1946 auch das Automobiltechnische Büro in Chemnitz (ATB), das moderne Automobilkonstruktionen erfassen und dokumentieren sollte. 1949 wurde das ATB der SAG Awtowelo in Eisenach als «BMW-Entwicklungsabteilung» angegliedert; Arbeitsaufträge gelangten auf direktem Weg vom Ministerium in Moskau über die SAG nach Chemnitz, darunter auch jener vom 4. August 1949 zur Entwicklung eines Rennwagens mit 2-L-Saugmotor, dem Typ 650. 142 VECTURA #12
«Awtowelo oder Auto Union» – unter diesem Leitmotiv analysiert Co-Autor Jens Conrad die Technik dieses Boliden in Wort, Datentabellen, Bildern und beeindruckenden Röntgenzeichnungen. Sein Fazit: Unter den damaligen Gegebenheiten war ein Rennwagen entstanden, der durchaus Potential hatte. Nach zweijähriger Entwicklungs- und Bauzeit, gestützt auf das Wissen von Konstrukteuren, die in der Auto-Union-Rennabteilung gearbeitet hatten, und begleitet von Problemen bei der Materialbeschaffung – die Reifen kamen von Pirelli aus Italien, der Zylinderblock augenscheinlich vom Eisenwerk Martinlamitz, einer in der amerikanischen Zone beheimateten Giesserei – absolvierte der 650 im März 1952 seine erste Probefahrt in Chemnitz. Am 18. April wurden zwei Exemplare dieses ostzonalen Erbes an die russischen Auftraggeber übergeben. Wassilij Stalin, rennsportbegeisterter Sohn des russischen Diktators, hatte die Fahrzeuge zum Moskauer Stadtparkrennen am 30. Juni anmelden lassen. Zu diesem Anlass wurde auf beiden 650ern neben dem Emblem der russischen Luftstreitkräfte der Name SOKOL (Falke) aufgebracht. Doch ohne fachkundige Betreuung und ohne korrekten Kraftstoff versagten die zwei Boliden den Dienst. Sie kamen anschliessend nach Deutschland zurück, doch dort ging die Odyssee weiter, da weder die ehemaligen Auftraggeber noch die DDR-Oberen von den SOKOL etwas wissen wollten. Schliesslich landeten beide Wagen beim Rennkollektiv im ehemaligen BMW-Werk Eisenach. Nach ihrem Einsatz als umgestaltete Filmrequisiten waren die Karosserien 1956 nicht mehr zu gebrauchen. Als die AWE-Rennabteilung 1958 geschlossen wurde, gingen die nackten Chassis zu Ausstellungszwecken an die heutige Westsächsische Hochschule in Zwickau und die TH Dresden. Die fortan getrennt verlaufende Geschichte beider Wagen hat Eberhard Kreßner bis ins Detail aufgeschlüsselt und in diesem Zusammenhang auch gleich mit Kolportagen um die Herkunft eines AutoUnion-Rennmotors aufgeräumt, der Ende der 1970er-Jahre auf verschlungenen Pfaden nach Westdeutschland gelangt war. Der Zwickauer Typ 650 gelangte in Privatbesitz und wurde von der staatlichen DDR-Firma Interport Ende der 1970er-Jahre als