MAG 52: Nussknacker und Mausekönig

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40 Auf dem Nachhauseweg

Eine erdende Baritonstimme Getragen von den letzten Akkorden ihrer geliebten Oper Il barbiere di Siviglia geht Frau Mani auf dem roten Läufer die Stufen hinab, am Arm ihres Göttikindes, einer jungen Frau, die sie alle zwei, drei Monate zu einer Vorstellung einlädt. «Amore e fede eterna, si vegga in voi regnar!» Wie vernünftig und selbstverständlich dieser Schluss doch ist, überhaupt das Zusammenspiel der Stimmen – ein perfektes Uhrwerk, denkt Frau Mani. Dem Göttikind hat es auch gefallen, was sie zusätzlich beglückt. Bei der Garderobe grüsst Frau Mani nach links und nach rechts ihre Bekannten, fragt nach den Eindrücken, wobei sie sogleich in das fröhliche Stimmengewirr ruft: «Fa-bel-haft!» Während das Göttikind die Schuhe wechselt, sagt Frau Mani: «Wenn es dir an Selbstvertrauen fehlt, musst du dir einfach Il barbiere di Siviglia ansehen. Diese Oper ist so lebensbejahend und hat einen solchen Schwung, dass sie dich auf der Stelle be­ lebt und auf neue Ideen bringt.» Frau Mani nimmt ihren Mantel von der Gardero­biere entgegen. «Ein Geniestreich des 23-jährigen Gioachino Rossini!» Als Frau Mani ein «Darf ich?» wahrnimmt, wendet sie sich der Stimme zu. Vor ihr steht jener Herr, den sie neulich bei Jewgeni Onegin kennengelernt hat – ja, ihr «Fürst Gremin»! Er nimmt den Mantel von ihrem Arm und hilft ihr hinein. Zu dritt gehen sie über den Sechseläutenplatz, der ihnen in seiner festlichen Abendbeleuchtung wie eine Opernkulisse erscheint. Gemächlich ziehen die Trams zwischen den Haltestellen Stadelhofen und Bellevue vorbei; eine Langsamkeit, auf die gefühlsmässig ein allegro vivace folgen müsste. Und tatsächlich: «Fa-bel-haft!», wiederholt Frau Mani und beginnt elanvoll über die Vorstellung zu reden. Sie will mit ihrer Begeisterung das Göttikind dazu ermutigen, ihrer Begeisterung ebenfalls Ausdruck zu verleihen. «Allein schon der Zungenbrecher aus ‹Largo al factotum› macht einen euphorisch. Diese erstaunliche Schnelligkeit, dieses allegro vivace, aus dem Jahr 1860, wo wir doch heute denken, früher seien alle langsam gewesen und das schnelle Zeitalter sei jetzt!» «Sensationell, der Figaro», sagt auch der «Fürst». Und Frau Mani erwidert: «Heute, in dieser schrillen Welt, sollte man mehr Baritonstimmen hören, sie erden einen, klingen vertrauenswürdig und gastfreundlich.» Der «Fürst» und das Göttikind nicken zustimmend. Kontemplativ steigen sie zur Rämistrasse hinauf, auf dem um diese Uhrzeit menschenleeren Caroline-Farner-Weg. «Und auch Rosina», sagt dann der «Fürst». «Ein Mezzosopran von technischer Brillanz! Farbreich changierend, und das Timbre!» Das findet auch Frau Mani. Diese sinnlichen Töne in der Mittellage, die am ehesten der natürlichen Sprachstimmlage einer Frau entsprechen! Zu schade nur, dass da nicht viele Opern sind, in denen ein Mezzosopran die Hauptrolle innehat – Carmen, Samson und Dalila, die Hosenrolle in I Capuleti e i Montecchi … Der «Fürst» verabschiedet sich mit einer Verbeugung und läuft zur Tramhaltestelle am Schauspielhaus. Frau Mani winkt ihm nach. «Wer war der Herr?» fragt die Göttitochter, «Der ist ja genau so wie du.» «Wie ich?», fragt Frau Mani zurück. «Also unter uns: Ich frohlocke, wenn Rosina ‹Una voce poco fa› singt. Sie gibt sich folgsam und ist doch so schlau, so mutig. So musst auch du sein!» «Ach was, Gotte!» «Schau dich doch um, die meisten Menschen tun bloss kühn, sind aber konformistisch und träge… Hast du überhaupt abgestimmt?» Aus dem vorbeifahrenden Tram winkt ihnen der «Fürst» mit dem gerollten Programmheft zu. Dana Grigorcea


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