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Zuckerbrot oder Peitsche – der Streit um die Tarifbindung
In einem Punkt sind sich die meisten Politikerinnen und Politiker einig: Die Tarifbindung soll wieder steigen. Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) verspricht ein Tarifstärkungspaket, noch bevor überhaupt ein Dialog mit den Sozialpartnern begonnen hat.
Nach einer EU-Richtlinie für Mindestlohn und Tarifbindung sollen die nationalen Regierungen einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen aufstellen, sofern die Tarifbindung unter einem Schwellenwert von 80 Prozent liegt. Diese Vorgaben aus Brüssel sind nicht nur unzulässig, da die Sozial- und Tarifpolitik in die Regelungshoheit der einzelnen Mitgliedstaaten fällt, sondern sie wären auch in unserem deutschen System verfassungsrechtlich überhaupt nicht umsetzbar. Denn unser Grundgesetz garantiert die Freiheit, einer Koalition beizutreten oder ihr fernzubleiben, setzt also auf Freiwilligkeit und nicht auf Zwang. Die M+E-Industrie Norddeutschlands beschäftigt rund 282.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, von denen 44 Prozent nach Flächentarifvertrag bezahlt werden. Betrachtet man den bundesweiten Brutto-Organisationsgrad in den acht Mitgliedsgewerkschaften des Deutschen Gewerkschaftsbundes – also das Verhältnis zwischen der Gesamtzahl der Gewerkschaftsmitglieder, einschließlich Rentnern, Arbeitslosen, Studierenden etc., und der Zahl der abhängig erwerbstätigen Beschäftigten –, lag dieser 2022 nur noch bei 13,6 Prozent. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Politik mit Schlagworten wie Tariftreue durch Nutzung repräsentativer Flächentarifverträge, Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen oder gesetzlich erhöhten Mindestlöhnen Druck aufbaut, um zumindest eine höhere Tarifgeltung zu erreichen. Die Attraktivität der Tarifbindung sinkt dadurch jedoch immer weiter. Denn mit jeder neuen staatlichen Vorgabe schwindet die Notwendigkeit, sich in Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbänden zu organisieren, um selbst die Arbeitswelt zu gestalten.
NORDMETALL setzt deshalb von jeher auf das System der Freiwilligkeit. Durch flexible, wettbewerbsfähige und praxistaugliche Branchenregelungen versucht der Verband die Attraktivität des Flächentarifvertrages so zu steigern, dass sich Unternehmen aus eigenem Antrieb diesem Modell anschließen. Folgerichtig bietet NORDMETALL – sehr zum Missfallen der Gewerkschaften – auch eine gleichberechtigte Mitgliedschaft ohne Tarifbindung an. Frei nach dem Motto „Der Kunde kann wählen, welches Paket für ihn das richtige ist“. Das reicht vom einheitlichen Flächentarif über den individuellen Haustarif bis hin zu gar keinem Tarif und der bloßen Orientierung an den Branchenstandards.
Dieses Paket hat bei den tarifgebundenen Mitgliedsunternehmen von NORDMETALL erstmals seit langer Zeit dazu beigetragen, die Akzeptanz des Flächentarifvertrages zu erhöhen, weil es Möglichkeiten eröffnet, je nach betrieblicher Situation Anpassungen vorzunehmen und maßgeschneiderte Regelungen mit dem Betriebsrat zu vereinbaren.
Der Verband stemmt sich gegen alle politischen Bestrebungen, das bewährte System, wonach die Arbeitsbedingungen durch die Tarifvertragsparteien ausgehandelt werden, durch weitere staatliche Eingriffe ad absurdum zu führen. Diese Grundüberzeugung führt auf beiden Seiten auch zu unangenehmen Fragen: Die Arbeitgeber werden sich zur IG-Metall-Forderung nach eventuellen Vorteilsregelungen für Gewerkschaftsmitglieder positionieren müssen. Die IG Metall wird sich umgekehrt fragen müssen, ob das übliche Prozedere zur Durchsetzung von Forderungen und das jahrzehntelange Festhalten an einmal erkämpften Tarifregelungen noch zeitgemäß sind. Denn seit Jahren ist ein gut eingeübtes Muster gewerkschaftlichen Vorgehens erkennbar: Veränderungen werden zunächst auf dem Forderungswege in Tarifverhandlungen, dann auch auf politischer Ebene über die Einleitung und Begleitung von Gesetzgebungsverfahren sowie – wenn auch das nicht hilft – flankierend über gerichtliche Auseinandersetzungen durchgesetzt. Vermeintliche tarifvertragliche Errungenschaften wie etwa Befristungsregelungen oder Schutzregelungen für ältere Beschäftigte werden, so lange es irgend geht, als unantastbar verteidigt, missliebige einst von beiden Parteien unterzeichnete Tarifregelungen in der Praxis schlicht nicht akzeptiert, so etwa bei der betrieblichen Durchsetzung der Aufstockung von Kurzarbeitergeld, oder gerichtlich angegriffen (siehe Abschnitt zu den Tarifregelungen zur Nachtarbeit).
Betrachtet man diese Mechanismen und Handlungsmuster, nach denen Gewerkschaften häufig vorgehen, verwundert es kaum, dass all jene Unternehmen, die noch nicht tarifgebunden sind, diesem System möglichst lange fernbleiben wollen. Während ihre tarifgebundenen Wettbewerber von der Gewerkschaft bestreikt werden, um noch höhere oder neue Ansprüche durchzusetzen, dürfen sie sich unbedrängt ihrer Freiheiten erfreuen.
Dabei orientiert sich eine Vielzahl auch dieser Unternehmen an der Höhe der Tarifabschlüsse, allein um für Fachkräfte attraktiv zu bleiben, gestaltet diese jedoch oft entsprechend der unternehmensspezifischen Anforderungen anders aus.
NORDMETALL sieht es als seine Aufgabe an, an der Attraktivität der tariflichen Rahmenbedingungen in der Metall- und Elektroindustrie weiter zu arbeiten. Der Verband will den Weg, den die Sozialpartner mit dem Modernisierungspaket 2022 eingeschlagen haben, konsequent fortsetzen oder weitere neue Wege ausprobieren. Dies hat Priorität, um das oben beschriebene Ziel erreichen zu können: auf dem Weg der Freiwilligkeit weiteren Unternehmen den Weg in einen attraktiven Flächentarif zu ebnen.
Was könnte das konkret heißen? „Besser statt billiger“ ist ein vielfach genutzter Slogan der IG Metall, der auch aus Arbeitgebersicht die anstehenden Herausforderungen treffend beschreiben könnte. Das Tarifwerk muss von Komplexität befreit werden, Module und Optionen sollten gerade kleinen und mittelständischen Unternehmen anforderungsgerechte Lösungen anbieten. Bei diesem Gedanken geht es nicht vorrangig darum, Kosten zu minimieren, sondern Flexibilität zu erhöhen und betriebliche Spielräume zu erweitern.
Die Tarifrunde 2024 – der Tarifvertrag über Entgelte und Ausbildungsvergütungen ist erstmals zu Ende September 2024 kündbar – wird weitere Herausforderungen mit sich bringen.
So haben sich die Tarifvertragsparteien in Baden-Württemberg im Sommer auf ein Verhandlungsergebnis verständigt, durch das die Möglichkeit eröffnet wird, betriebliche Altersversorgung im Wege einer reinen Beitragszusage durchzuführen („Sozialpartnermodell“). Beitritt und Finanzierung des Modells unterliegen der Freiwilligkeit. Das Sozialpartnermodell ist eine seit 2018 vorgesehene Form der betrieblichen Altersversorgung, die keine garantierten Auszahlungen kennt und demzufolge für die Arbeitgeber keine Haftung verursacht. Die Garantiefreiheit ermöglicht eine Kapitalanlage, die in der Regel zu sehr viel ertragreicheren Renditen führen dürfte. Derzeit wird ein Businessplan für dieses Modell erarbeitet. Sowohl auf Gewerkschafts- als auch auf Arbeitgeberseite wird intensiv diskutiert, welche Rolle ein solches Modell – eventuell auch bundesweit – künftig in der Tariflandschaft spielen kann.
In der Stahlindustrie wird ein Modell zur 32-Stunden-Woche von der IG Metall gefordert. Für die Metall- und Elektroindustrie ist dies kein gangbarer Weg. Zudem existieren hier bereits zahlreiche Ansätze zur individuellen und kollektiven Flexibilisierung der Arbeitszeit. Auch zur Absenkung der Arbeitszeit bei Beschäftigungsproblemen oder im Rahmen der Transformation gibt es verschiedene Modelle. Der Tarifvertrag „Zukunft gestalten – Beschäftigung sichern“ (TV ZB) eröffnet entsprechende Spielräume. Der Gewerkschaftstag der IG Metall wird sich Ende Oktober mit der Thematik beschäftigen.
Unter dem Gesichtspunkt der Flexibilisierung der Arbeitszeit kann es sinnvoll erscheinen, weitere Ansätze mit Öffnungsklauseln, Modulen oder Experimentierräumen zu finden, die die Passgenauigkeit der Tarifverträge für das einzelne Mitglied und dessen Beschäftigte erhöhen. Und damit schließt sich der Kreis: Nicht weitere Regulierungen und Vorgaben sind der Weg der Zukunft, sondern passgenaue Lösungen, die die Attraktivität des Flächentarifvertrags weiter steigern. Dr. Peter Schlaffke
Zeitgemäße Rahmenregelungen durch das Modernisierungspaket 2022
Im Sommer 2022 haben die Tarifvertragsparteien im Norden ein größeres Modernisierungspaket geschnürt mit
der Option zur Reduzierung der Arbeitszeit in Mecklenburg-Vorpommern unter Nutzung von vereinbarten Kompensationsmaßnahmen;
der Option für eine Entgeltumwandlung zum Zweck des Fahrrad-Leasings;
Neuregelungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeit mit der Möglichkeit, unter Beachtung bestimmter Leitplanken auf betrieblicher Ebene die notwendigen Gestaltungsspielräume zu schaffen sowie
einer Erhöhung der Ausbildungsvergütung, um die Frage der Fahrtkostenerstattung zu befrieden.
Neuordnung Nachtarbeitszuschläge 2020
In der Tarifrunde 2018 forderte die IG Metall Küste eine Erhöhung der Nachtarbeitszuschläge. Aufgrund der drohenden Kostensteigerung konnte darüber jedoch keine Einigung erzielt werden. Unter Bezugnahme auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichtes wurden sodann Hunderte von Klagen im Norden eingereicht, um rechtlich gegen die unterschiedlich hohen Zuschläge für regelmäßige und unregelmäßige Nachtarbeit vorzugehen und höhere Zuschläge zu erhalten.
Aus Gründen der Rechtssicherheit vereinbarten die Tarifvertragsparteien im Norden am 1. April 2020 in einem bundesweit ersten Tarifvertrag einen einheitlichen Zuschlag von 25 Prozent für Arbeit zwischen 20:00 und 24:00 Uhr sowie zwischen 4:00 und 6:00 Uhr sowie in Höhe von 35 Prozent für die Zeit von 0:00 bis 4:00 Uhr. Zur Umsetzung dieser Neuregelung wurde eine Kostenkompensationsregelung mit einer Laufzeit von bis zu fünf Jahren festgeschrieben. Zudem wurde festgelegt, dass zur Erhöhung der Flexibilität seit dem 1. Januar 2021 diese Zuschläge auch in Zeit statt in Geld ausgezahlt werden können.
Mit diesem Verhandlungsergebnis konnten für die Zukunft die Streitigkeiten beigelegt und der dringend notwendige betriebliche Frieden wiederhergestellt werden. Für die Vergangenheit sind jedoch immer noch zahlreiche Verfahren anhängig, die vielfach ruhend gestellt wurden. Klarstellende weitere Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts zur Rechtmäßigkeit einer Differenzierung zwischen regelmäßiger und unregelmäßiger Nachtarbeit zeigen, dass ganz überwiegend auch die alten Regelungen rechtmäßig gewesen sein dürften, sodass die Kläger vielfach derzeit von den Gerichten aufgefordert werden, anhängige Klagen zurückzunehmen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Tarifrunde 2022
Die Tarifrunde im Herbst 2022 war von besonderen Unsicherheiten geprägt, die Nachwehen der Pandemie, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die Folgen unterbrochener Lieferketten führten zu einer besonderen Anspannung bei beiden Tarifvertragsparteien. Die hohe Inflation rief zudem die Politik auf den Plan, sodass vom 26. Oktober 2022 an steuer- und abgabenfrei eine Inflationsausgleichsprämie bis zu 3.000 Euro gewährt werden konnte.
Das Ergebnis war ein teurer, aber in der konkreten Situation für die überwiegende Zahl der Mitglieder erträglicher Tarifabschluss zur Steigerung der Entgelte mit einer Inflationsausgleichsprämie in Höhe von 2 × 1.500 Euro sowie eine zweistufige Tabellenerhöhung von 5,2 Prozent und 3,3 Prozent bis September 2024.
Die besondere Situation zum Zeitpunkt des Abschlusses zeigt exemplarisch die vereinbarte Energie-Notfallklausel, die im Norden bislang nicht genutzt werden musste.
Mit dem Abschluss konnten weitere Streikmaßnahmen verhindert werden; die tarifgebundenen Unternehmen im Norden waren im Jahr 2022 davon überproportional betroffen.