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„Silver Workers“ bereichern die Arbeitswelt.

Mehr als eine Million Menschen arbeiten in Deutschland, obwohl sie älter als 67 Jahre sind – und das keineswegs nur aus finanziellen Gründen.

Immer mehr Deutsche arbeiten auch nach Erreichen der Regelaltersgrenze weiter. Ein Trend, der sich seit einigen Jahren Bahn bricht. Der Bundesregierung zufolge waren 2022 rund 1,1 Millionen Beschäftigte in Deutschland älter als 67 Jahre. Mehr als 400.000 davon hatten sogar die 70 überschritten. Wer nun meint, dass es hauptsächlich finanzielle Gründe sind, die die „Silver Workers“ zur Arbeit treiben, hat sich getäuscht. Nach einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) geben die meisten Befragten nichtmonetäre Gründe für ihre Erwerbsarbeit an: Spaß an der Arbeit etwa oder das Bedürfnis nach einer sinnvollen Aufgabe und sozialen Kontakten. Demografischer Wandel und zunehmender Fachkräftemangel lassen erwarten, dass Erwerbstätigkeit jenseits der Regelaltersgrenze in den kommenden Jahren noch zunehmen wird. Viele Unternehmen zeigen sich offen dafür. „Wir stehen der Beschäftigung von Ruheständlern sehr positiv gegenüber“, sagt etwa Nina Römhild, Personalleiterin der VINCORION Gruppe mit Hauptsitz in Wedel. Das Technologieunternehmen produziert mit 450 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Wedel, 200 im bayrischen Altenstadt und 70 in Essen Produkte für den Sicherheits- und Verteidigungsbereich, die Luftfahrt sowie für die Bahn- und Transportindustrie. „Fachleute mit Erfahrung, Know-how und Motivation sind uns sehr willkommen, zumal dann, wenn sie früher schon bei uns gearbeitet haben“, fügt sie an.
Zu diesen Fachleuten zählt der 68-jährige Elektrotechnikingenieur Jürgen Schulze. Seit den 1980er-Jahren ist er als Entwicklungs- und Projektingenieur in verschiedenen Einsatzgebieten und unterschiedlichen Vorgängerunternehmen von VINCORION aktiv gewesen. Er hat Mikroprozessoren und elektronische Schaltungen entwickelt, Simulationsmodelle realisiert und war zeitweilig auch als Ausbildungsbetreuer tätig. „Als ich im Februar 2021 in Rente gegangen bin, habe ich mit meinem Teamleiter einen Deal abgeschlossen“, erinnert er sich. Falls Schulze Lust und Zeit hätte, weiter für den Betrieb tätig zu sein, würde sich der Teamleiter melden, wenn das Unternehmen Bedarf habe. „Das hat er getan und seitdem arbeite ich in meinem alten Job weiter“, sagt er. Derzeit ist Schulze sozialversicherungspflichtig an drei Tagen in der Woche beschäftigt, die er sich relativ selbstständig einteilen kann. „Wenn mal Not am Mann ist, kann ich auch länger arbeiten und eventuell einen vierten Tag einlegen“, sagt er. Nina Römhild findet die Flexibilität gut: „Wir profitieren als Unternehmen sehr davon, dass Herr Schulze sich auf unsere Bedürfnisse einstellt und wir auf sein profundes Fachwissen auch weiterhin zurückgreifen können.“
Schulze hofft, noch lange weiter arbeiten zu können. „Solange die Motivation stimmt und die Gesundheit mitmacht, bin ich gerne bereit auszuhelfen“, sagt er.

Elektrotechnikingenieur Jürgen Schulze überprüft bei VINCORION in Wedel nahe Hamburg eine Leiterplatte.
Foto: Christian Augustin

Kontakt zu Kunden in aller Welt

Gundolf Meyer, 65 Jahre alt und gelernter Elektromechaniker und Techniker, hat nahezu sein gesamtes Berufsleben bei Hanseatic Power Solutions (HPS) in Norderstedt gearbeitet. Das Unternehmen gehört zu den führenden deutschen Anbietern für Steuerungstechnik in der Energieerzeugung und -verteilung sowie in der Notstromversorgung. Es fertigt mit rund 80 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern komplexe Schalt- und Steuerungsanlagen für Kunden in aller Welt. 35 Jahre lang hat Meyer bei HPS Schaltanlagen mit konstruiert und gebaut und sie nach den Wünschen und Vorgaben der Kunden konfiguriert. Als Projektleiter war er für unzählige große und auch mittlere Aufträge verantwortlich und hat stets den Kontakt zu Kunden in aller Welt gehalten.

Vom Erfahrungswissen lange profitieren

Aufgrund seines Fachwissens sowie seiner exzellenten Kundenbeziehungen ist Meyer nach wie vor ein begehrter Mitarbeiter. Deshalb kam die Anfrage seines Arbeitgebers für ihn nicht überraschend: „Als ich Anfang dieses Jahres in Rente gehen wollte, hat mich mein Chef gefragt, ob ich nicht noch weiterarbeiten will. Da ich gern arbeite und auch meine Rente noch etwas aufstocken möchte, habe ich zugestimmt.“ Weil er viele Jahre lang wegen der Kindererziehung nur in Teilzeit gearbeitet hat, fällt seine Rente nicht allzu üppig aus. Deswegen nahm er das Angebot, weiter zu arbeiten, gern an und arbeitet seit Juli 32 Stunden in der Woche.
Doch finanzielle Gründe allein seien nicht ausschlaggebend gewesen, um weiterzumachen, sagt Meyer: „Die sozialen Kontakte und die Herausforderungen, die man täglich bei der Arbeit hat, sind ebenso wichtig für mich.“ HPS-Geschäftsführer Michael Grenz bezeichnet die Weiterbeschäftigung des Technikers als Win-win-Situation. „Wir sind froh, dass Herr Meyer noch weiter als Projektleiter bei uns arbeiten möchte. Er ist auch bei Weitem nicht der erste Rentner, den wir weiter beschäftigen. Gerade in unserem sehr speziellen Segment tragen die älteren Mitarbeiter einen wertvollen Schatz an Erfahrungswissen mit sich, von dem wir als Firma generell und die nachwachsenden Kolleginnen und Kollegen im Speziellen gern so lange wie möglich profitieren.“ Der bürokratische Aufwand bei der Beschäftigung von Rentnern ist laut Grenz genauso groß wie bei jedem anderen Arbeitnehmer. „Glücklicherweise gibt es kaum noch Hürden zu überwinden“, sagt der Geschäftsführer, „lediglich eine entsprechende Anmeldung muss erstattet werden.“ In der Sozialversicherung gebe es allerdings für das Unternehmen keine Ersparnisse, da alle Beiträge bis auf den Beitrag zur Krankenversicherung in voller Höhe weitergezahlt werden müssen. Hier werde für den Arbeitnehmer der ermäßigte Beitrag abgerechnet. Nach Erreichen der Regelaltersgrenze werden zusätzlich die Arbeitgeberanteile weitergezahlt, der beschäftigte Rentner zahlt keine Beiträge mehr bis auf den ermäßigten Krankenversicherungssatz. Auch vom vertraglichen Unterbau, so Grenz, könne man die Beschäftigung recht einfach umsetzen, da man den Arbeitsvertrag mit dem Rentner problemlos mehrfach befristen könne.

Gundolf Meyer (l.) mit Prüffeldmechaniker Lars Neelsen, der bei HPS seine Aufgaben übernehmen soll.
Foto: Christian Augustin

Geringer bürokratischer Aufwand

Auch Norbert Steinkemper, Sprecher des Spezialmaschinenbauunternehmens Broetje-Automation aus Rastede bei Oldenburg, findet, dass die Beschäftigung älterer Arbeitnehmer für die Unternehmen inzwischen deutlich einfacher geworden sei. Neben den grundsätzlich anfallenden Arbeitgeberbeiträgen zur Sozialversicherung sei lediglich die arbeitsvertragliche Situation für die Unternehmen zu prüfen. Da die Rentnerinnen und Rentner aber in den allermeisten Fällen keine Vollzeitbeschäftigung anstrebten und es sich auch um keine dauerhafte Beschäftigung handele, müssten Arbeitsverträge nur entsprechend angepasst werden. Broetje-Automation liefert Anlagen und Produktionssysteme für nahezu alle Flugzeugbauer der Welt, beschäftigt an 23 Standorten in sieben Ländern mehr als 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und ist ein echter „Hidden Champion“. Gleichgültig, wo auch immer auf dieser Welt ein Flugzeug starte, man könne sicher sein, dass zumindest Teile davon auf Broetje-Automation-Maschinen gefertigt worden seien, so Unternehmenschef Lutz Neugebauer.
Die Firma ist 1979 aus dem Rasteder Unternehmen August Brötje für Maschinenbau und Heiztechnik hervorgegangen. Zu dem Zeitpunkt war Hans-Joachim Hein, genannt Akki, schon mehr als anderthalb Jahrzehnte im Betrieb. Der heute 76-Jährige hat sein Leben lang bei Broetje-Automation und deren Vorgängerunternehmen gearbeitet. Seine Ausbildung zum Maschinenschlosser hat Hein beim Heiztechnikspezialisten Brötje absolviert und ist nach der Ausgründung mit zu Broetje-Automation gegangen. Hein war unter anderem Ausbilder für alle gewerblichen Azubis, Schichtleiter in der Produktion, Sicherheitsfachkraft und Qualitätsmanager und – ganz nebenher – die „gute Seele“ des Betriebs.

Gebraucht und geschätzt

„Die Firma ist für mich wie eine Familie“, sagt er. „Ich habe noch den alten Seniorchef gekannt und bin mit dem Unternehmen groß geworden. Deswegen ist sie mir so sehr ans Herz gewachsen.“ Wie die Menschen, die hier arbeiten. Viele der heutigen Führungskräfte sind durch seine Schule gegangen, etwa der aktuelle Produktionsleiter Robert Wawrzynowski. Das erklärt, warum Akki Hein nicht schon vor Jahren in Rente gegangen ist. Er sagt: „Ich hatte hier noch so viel zu tun und außerdem habe ich das Gefühl, gebraucht zu werden.“ Noch heute organisiert er Rentnertreffen und Firmenevents, hat sein 60-jähriges Jubiläum gefeiert, steht aber nicht mehr auf der Payroll. In „seine Firma“ zieht es ihn dennoch mindestens zweimal die Woche. Sein Chef Lutz Neugebauer begrüßt die Aktivitäten ausdrücklich. „Wir pflegen hier ein sehr persönliches Miteinander und setzen auf die Erfahrung und das Wissen unserer älteren Kolleginnen und Kollegen. Für Akki Hein steht unsere Tür immer offen.“ Lothar Steckel

Arbeiten seit vielen Jahren bei Broetje-Automation zusammen: Hans-Joachim Hein (M.) mit Mechatroniker Dennis Tjardes (l.) und Produktionsleiter Robert Wawrzynowski – „seinen“ früheren Azubis.
Foto: Christian Augustin
Erwerbsarbeit im Ruhestand – nicht alle brauchen das Geld
  • Erwerbsarbeit im Ruhestand ist laut IAB noch immer die Ausnahme: 15 Prozent der 65- bis 69-jährigen, 13 Prozent der 70- bis 74-jährigen und nur zwei Prozent der noch älteren Rentner gehen einer bezahlten Arbeit nach.

  • Mehr als zwei Drittel der erwerbstätigen Rentenbezieher zwischen 65 und 74 Jahren üben eine geringfügige Beschäftigung aus.

  • Die Wahrscheinlichkeit, im Ruhestand einer Erwerbsarbeit nachzugehen, ist laut IAB-Studie bei hohem Bildungsniveau am größten.

  • Die meisten Rentenbezieher geben nichtmonetäre Gründe für ihre Erwerbsarbeit an – Spaß an der Arbeit oder das Bedürfnis nach einer sinnvollen Aufgabe und sozialen Kontakten. Bei 43 Prozent spielen auch finanzielle Motive eine Rolle.

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