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Tarifverträge: Zwischenbilanz und Ausblick
Zwei Menschen, zwei Sichtweisen: Lena Ströbele (40), Tarifverhandlungsführerin von NORDMETALL sowie Personaldirektorin der Unternehmensgruppe Lürssen in Bremen, und Daniel Friedrich (47), Bezirksleiter der IG Metall Küste, ziehen eine Zwischenbilanz der letzten Tarifverträge und wagen einen Ausblick auf die nächste Tarifrunde.
Standpunkte: Der letzte umfassende Tarifvertrag zwischen IG Metall und M+E-Arbeitgebern wurde vor knapp einem Jahr geschlossen, die Einigung zu den Nachtarbeitszuschlägen hier im Norden stammt von Anfang 2020, und ein Modernisierungspaket wurde vorigen Sommer vereinbart. Wenn Sie auf diese Kompromisse schauen, was hat sich bewährt? Was ist nach wie vor eher ein kritisches Thema?
Ströbele: Mit der Vereinbarung zu den Nachtarbeitszuschlägen von vor fast drei Jahren ist uns gemeinsam ein gutes Stück Modernisierung gelungen. Der Auslöser war ja, dass wir sehr viele Klagen hatten zu dem Thema und uns dann gefragt haben: Woran liegt das eigentlich? Wir haben natürlich erstmal kritisch bewertet, dass eine bestehende ältere Vereinbarung zwischen uns Tarifparteien trotzdem oft mithilfe des DGB juristisch angegangen wurde. Davon abgesehen, haben wir aber auch selbstkritisch die Notwendigkeit gesehen und damit den Willen gehabt, diese Regelung zu modernisieren und ein Instrument zu schaffen, mit dem die Wandlung von Zuschlägen auch in Zeit möglich wurde. Das sehe ich auch jetzt noch als richtigen Schritt. Schade ist allerdings, dass wir bis heute dazu – trotz der neuen gemeinsamen Vereinbarung – noch einige Gerichtsverfahren führen müssen. Da stellt sich für mich die Frage: Wie kriegen wir gemeinsam durch eine bessere Kommunikation neuer Abschlüsse eine so hohe Verbindlichkeit hin, dass sich beide Seiten dann auch daran halten?
Friedrich: Die Nachtschichtzuschläge sind ein gutes Beispiel für die Entwicklung des Miteinanders in der Tarifpolitik. Es haben sich damals die Rechtsgrundlagen für die Zuschläge radikal geändert und wir brauchten massenhafte Klagen, um eine gute Regelung für die Zukunft zu finden. Einige bestehende Rechtsverfahren hatten dann noch diesen Nachlauf, aber das sind bei derart einschneidenden Veränderungen die Geburtswehen. Mit dem Modernisierungspaket im Sommer 2022 haben wir gezeigt, dass wir auch Tarifverträge machen können, ohne massiven Druck durch die Rechtsprechung oder durch Arbeitskämpfe. Ich glaube, das ist der Weg, der uns in der Tarifpolitik im Moment erfolgreich nach vorn führt: proaktiv die Dinge regeln, bevor etwas anbrennt. Wenn wir dazu die Kraft haben, können wir eine neue Kultur des Miteinanders zwischen den Tarifpartnern aufbauen.
Standpunkte: Was sind im Modernisierungspaket die Punkte, die sich positiv bewähren?
Ströbele: Zunächst möchte ich Daniel Friedrich zustimmen: Wir haben gelernt, dass wir in der Lage sind, gemeinsam konstruktiv und lösungsorientiert auf Themen zu schauen, selbst wenn es mal knirscht, wie bei den Nachtarbeitszuschlägen. Das Modernisierungspaket ist da ein gutes Beispiel mit mehreren großen Elementen: Zum einen die Option zur Reduzierung der Arbeitszeit in Mecklenburg-Vorpommern. Rund 25 Prozent der Unternehmen nutzen das freiwillige Modell jetzt, das ist gerade bei dem schwergängigen Thema ein Erfolg – zum anderen haben wir die Themen Entgeltumwandlung in Freizeit, Arbeitszeitkonten, Entlohnung der Auszubildenden sowie FahrradLeasing lösen können. Ganz ohne Getöse und sehr konstruktiv in der Zeit zwischen den eigentlichen Tarifrunden. Das müssen wir fortsetzen und uns immer wieder fragen: Was sind die Themen von morgen, die wichtigen Schritte zur Modernisierung unserer Arbeitswelt, für die Unternehmen wie für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Das gilt auch für die Regelungen zur Flexibilisierung der Arbeitszeiten.
Standpunkte: In der Definition des Miteinanders scheint es da ja große Übereinstimmung zu geben. Gleichwohl war die vorige Tarifrunde lang, durchaus konfrontativ und am Ende für die Arbeitgeber teuer. Wie ist Ihr Blick darauf ein Jahr später?
Friedrich: Ich glaube, wir haben in der Situation von vor einem Jahr viel richtig gemacht. Die Inflationsausgleichsprämie war eine direkte Entlastung der Beschäftigten. Wir haben zumindest in der Metallindustrie eine Stabilisierung des Binnenkonsums hergestellt, trotz weiterhin hoher Inflation. Und die Zahlung wurde flexibel geregelt, was viele Unternehmer wichtig fanden. Allerdings hat es natürlich dort Unruhe gegeben, wo Unternehmen ohne Kommunikation die Differenzierungsregelung genutzt haben. Das ist zwar mit knapp 20 eine überschaubare Zahl von Betrieben, aber wir müssen schon dafür werben, dass dieses Instrument nicht nur mathematisch, sondern auch kommunikativ genutzt wird. Es darf nicht sein, dass ein Betrieb in Bayern beschließt, die Tariferhöhung zu verschieben, der Ableger im Norden davon aber nicht rechtzeitig erfährt. Insgesamt kann man sagen: Erste Halbzeit rund, der Tarifvertrag bringt das, was wir wollten: die Stabilisierung. Und nach dem Tarifvertrag ist wie immer vor dem Tarifvertrag. In zehn, zwölf Monaten sitzen wir ja schon wieder zusammen.
Standpunkte: Wie schätzen Sie das als NORDMETALL-Tarifverhandlungsführerin ein?
Ströbele: Sehr ähnlich. Es stimmt, der Abschluss war und ist teuer. Aber ich denke auch rückblickend schon, er war der konkreten Situation angemessen. Dass nur wenige Unternehmen die Abweichungselemente nutzen, belegt das aus meiner Sicht. Für die Differenzierung gilt, dass sich bei knapp 20 hier eingestiegenen Betrieben im Norden eine Nutzungsquote von unter zehn Prozent ergibt. Da haben wir also ein gutes Instrument für Unternehmen in schwieriger Lage geschaffen, das aber überschaubar und verantwortungsvoll genutzt wird. Also liegen wir mit den grundsätzlichen Einigungswerten im Tarifvertrag richtig. Ein guter Abschluss schafft gute und ausbalancierte Rahmenregelungen und wir müssen sie in den Betrieben gut umsetzen. Und auch da gehören beide Seiten dazu. Der Dialog über den Prozess und die Zielrichtung muss während der Laufzeit immer weitergehen, damit wir vorbereitet sind auf die nächste Runde.
Standpunkte: Lassen Sie uns mal nach vorn schauen. Wir haben in den vergangenen Monaten vor allem in den Medien eine öffentliche Debatte über die Viertagewoche gehabt. Unter Viertagewoche werden ganz unterschiedliche Fallgestaltungen verstanden. Für die Stahlindustrie will die Gewerkschaft die Regeleinführung. In bestimmten Teilen der Industrie gibt es sie in ganz unterschiedlichen Ausprägungen schon, auch bei einigen wenigen M+E-Unternehmen. In den meisten wird sie als inakzeptabel abgelehnt. Wie geht die Diskussion weiter?
Friedrich: Ich glaube, das muss man sehr differenziert betrachten. Die Debatte zeigt erst mal, dass es neue Bedürfnisse in der Gesellschaft gibt. Und die Stahlindustrie ist sehr homogen, mit einem klaren Bild, wie die Transformation zu gestalten ist. Die Arbeitszeitpolitik kann diesen Wandel vernünftig gestalten, gemeinsam mit den Arbeitgebern in der Viertagewoche. Jetzt wird verhandelt, wir werden sehen. Abseits der Stahlindustrie haben wir auch heute schon im Flächentarifvertrag Regelungen, die ein Vier-Tage-Konstrukt ermöglichen. Und es ist richtig, einige nutzen das bereits. Andere können oder wollen nicht. Das liegt an der radikalen Verschiedenheit unserer Unternehmen. Auch in der Fachkräftedebatte sagen die einen, dass vier Tage die Attraktivität der Industrie für Arbeitnehmer stark erhöht, während andere fürchten, dass der Mangel so eher gepusht wird. Unter unseren Kolleginnen und Kollegen gibt es welche, die Arbeitsverdichtung fürchten, andere befürworten den fünften freien Tag massiv. In diesem Spannungsfeld diskutieren wir das auch intensiv in der IG Metall. Ich glaube schon, dass die Tarifrunde 2024 bei dem Thema „Arbeitszeiten, die zum Leben passen“ einen Schwerpunkt bekommen wird. Welcher das dann genau sein wird, werden wir sehen.
Standpunkte: Wie sehen das die M+E-Arbeitgeber im Norden?
Ströbele: Der Begriff der Viertagewoche ist mir zu platt. Die einen verstehen darunter 32 Stunden bei vollem Lohnausgleich, was nicht gehen wird. Die anderen die ursprüngliche Arbeitszeit, nur von Montag bis Donnerstag verteilt, was auch zu simpel ist. Wir müssen uns stattdessen mit einem Spannungsbogen auseinandersetzen – auf der einen Seite ein Fachkräftemangel, der sich zur Arbeitskräftekrise verdichtet und gleichzeitig das vorhandene Arbeitsvolumen, das abgedeckt werden muss. Dieses Arbeitsvolumen wollen wir in unserer Industrie wo möglich sogar noch erhöhen, um Wertschöpfung und damit auch Wissen und Kompetenz im Land zu halten. Auf der anderen Seite begegnen wir steigenden Anforderungen an uns als Unternehmen durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wir ohne eine Antwort hierauf nicht werden gewinnen und halten können. Ein wesentliches Stichwort ist hierbei die Stärkung von Autonomie und Flexibilität, am Ende auch auf allen Seiten. Also lautet eine der Kernfragen: Wie bekommen wir das Arbeitsvolumen X, das wir bedienen wollen und müssen, und die Bedürfnisse Y der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zusammen? Und dafür wird es verschiedene Modelle geben müssen, für kleine und große Betriebe, für Struktur und Aufgabenspektrum A und B – keine einfache Aufgabe, die mir aber mit modularen Modellen lösbar scheint. Wir müssen hier auch den Mut zum Experiment haben, Dinge ganz neu denken.
Standpunkte: Werden da die ohnehin von vielen als sehr komplex empfundenen Tarifverträge nicht noch undurchdringlicher?
Friedrich: Nein, nicht unbedingt. Wir müssen Tarifpolitik für die ganze Bandbreite machen, auch für kleine Betriebe mit wenigen Personalern. Betriebsnahe Tarifpolitik bedeutet, dass die Tarifparteien in den Betrieben stärker die Dinge miteinander definieren und differenzieren, wir schaffen den Rahmen, der das zulässt.
Ströbele: Nach unserem Verständnis setzen die Tarifparteien zwar einen verbindlichen Rahmen für die verschiedenen Modelle, den dann aber in den Unternehmen nicht die Tarifparteien, sondern die Betriebsparteien fair und verantwortlich ausfüllen müssen. Das sehen übrigens auch die anderen M+E-Arbeitgeberverbände so. Die IG Metall Küste fürchtet, dass die Betriebsräte erpressbar sein könnten – diese Sorge hören wir. Aber wir erleben die Betriebsräte in der Praxis anders. Und für die Randfälle, bei denen es vielleicht nicht so klappt, kann es ja Unterstützung zur Umsetzung geben. Beim Thema Transformation fordert die IG Metall ja selbst mehr Einfluss für ihre Ehrenamtlichen. Das ergibt für mich kein stimmiges Bild. Und was Ihre Frage nach der Komplexität unserer Verträge angeht: Da müssen wir neben den neuen Inhalten auf jeden Fall auch anfangen, in einfacher Sprache verständlicher zu schreiben, trotz aller juristisch notwendigen Absicherungen. Das ist eine Herausforderung für eine neue Kommunikation.
Standpunkte: Werfen wir noch einen Blick auf die Verhandlungen zum neuen Sozialpartnermodell in Sachen betrieblicher Altersvorsorge in Baden-Württemberg. Entwickelt sich da ein Modell für das ganze Land, auch den Norden?
Friedrich: Die Baden-Württemberger haben Grundlagen für einen Rohbau gelegt, der jetzt ausgestaltet werden kann. Da gibt es innerhalb der IG Metall allerdings noch enormen Diskussionsbedarf. Das Thema Betriebsrentenstärkungsgesetz und die Haftung auf Arbeitgeberseite, die Frage der Beiträge und der Garantien, das Ausmaß des Engagements auf dem Finanzmarkt, all das muss debattiert werden. Angesichts der allgemeinen Einschätzung, dass sich an der gesetzlichen Rentenpolitik vorerst nichts ändert, haben wir allerdings Handlungsbedarf. Und auch deshalb, weil wir etwas für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der kleineren und mittleren Betriebe tun müssen. Falls es da in Baden-Württemberg eine Einigung geben sollte, die die Zustimmung des IG-Metall-Bundesvorstandes findet, dann sollte es auch bundesweit umgesetzt werden.
Ströbele: Wir kennen und sehen den Bedarf einer gestärkten betrieblichen Vorsorge und schauen mit Interesse auf das, was in Baden-Württemberg bisher diskutiert wird. Wichtig scheint mir, dass Beitritt und Finanzierung eines Modells der Freiwilligkeit unterliegen. Dass es eine bundesweite Regelung geben könnte, mit der sich dann auch Gesamtmetall zumindest befassen wird, scheint mir nicht ausgeschlossen und letztlich auch sinnvoll.
Standpunkte: Wenn Sie auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung schauen, die manchen angesichts zunehmender Radikalisierungen ja Sorge macht, wo sehen Sie dann die Rolle der Tarifpartner?
Friedrich: Ich denke, dass wir den Wert von Kompromissen in dieser Gesellschaft nach vorne stellen müssen. Und ein Tarifvertrag ist ein Kompromiss. Wir müssen deutlich machen, dass dieses System einen Wert hat, gerade in Zeiten von immer mehr Zuspitzung und wachsendem Populismus.
Ströbele: Wir müssen noch klarer machen, dass wir nicht streiten um des Streitens willen, sondern streiten für eine ausgewogene Lösung, die dann auch eine gemeinsame Sache ist. Und dass wir quasi permanent in einem sinnvollen Prozess diskutieren, um dann am Ende einer Tarifrunde per Kompromiss zu einem Tarifvertrag zu kommen.
Standpunkte: Wir danken für das Gespräch.
Aufgezeichnet von Alexander Luckow