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Face to Face
Zwei Experten, zwei Sichtweisen
Dr. Jochen Pimpertz (56), Leiter des Kompetenzfelds Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung im Institut der Deutschen Wirtschaft (IW), und Dr. Florian Blank (43), Referatsleiter für Sozialpolitik bei der Hans-Böckler-Stiftung, trafen sich auf Einladung von Standpunkte zur Debatte über die Zukunft der Rente.
Standpunkte: Gerade ist die stärkste Rentenanhebung seit vielen Jahren beschlossen worden, mit bis zu 6,1 Prozent in Ostdeutschland. Ist die Rente derzeit so sicher, dass eine derart kräftige Erhöhung verantwortbar erscheint?
Pimpertz: Rentenanpassungen sind regelgebunden und nicht willkürlich. Deswegen ergibt sich diese Anhebung aus der Logik der wirtschaftlichen Erholung im zweiten Jahr nach Beginn der Pandemie. Durchschnittsentgelte steigen wieder stärker, die Rente folgt dem. Ruheständler sollen nicht von der wirtschaftlichen Entwicklung der Arbeitnehmer abgekoppelt werden. Die Ampelkoalition hat zwar den Nachholfaktor wieder eingeführt, der auch berücksichtigt, dass wir im ersten Pandemiejahr sinkende Durchschnittsentgelte gemessen haben. Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen Rentendynamik.
Blank: Die Rentenanpassung folgt nicht eins zu eins zeitlich direkt der Lohnanpassung, sondern mit einem Jahr Verzug. Die Rentenanpassungsformel berücksichtigt teilweise sogar noch Daten von vor zwei Jahren. So bildet die aktuell hohe Rentenanpassung in der Tat das Geschehen der vergangenen Jahre ab.
Standpunkte: Die Ampelkoalition hat vereinbart, dass das Mindestrentenniveau bei 48 Prozent bleiben und der Beitragssatz nicht über 20 Prozent steigen soll. Ist das angesichts der steigenden Zahl der Rentenempfänger nicht die Quadratur des Kreises?
Blank: Die Koalition hat für diese Legislaturperiode auch vereinbart, dass der Beitragssatz nicht angehoben werden soll. Insofern bleibt es also hier erstmal beim Status quo, wie ihn gerade die Arbeitgeber einfordern. Wenn wir über die nächste Bundestagswahl hinausschauen, können wir nur versuchen, die Entwicklungen der Vergangenheit in die Zukunft fortzuschreiben. In der Tat stellt sich angesichts der demografischen Entwicklung dann die Frage, an welcher Stelle möglicherweise nachgesteuert werden soll. Die Bundesregierung geht in ihrem aktuellen Referentenentwurf aber noch davon aus, dass bis einschließlich 2025 die 20-Prozent- und die 48-Prozent-Marke nicht gerissen werden.
Standpunkte: Ist das denn eine wirklich vorausschauende Politik, wenn man für eine Legislaturperiode alles beim Alten lässt, wohl wissend, dass es danach kaum so weitergehen kann?
Pimpertz: Nun ja, wenn Sie genau hinsehen, dann erkennen Sie schon jetzt, dass die Bundesregierung gegen Ende der Wahlperiode mit einem leicht steigenden Beitragssatz rechnet: Von 19,5 Prozent in 2025 auf 19,7 Prozent in 2026. Das ist dem beginnenden Wechsel der geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand geschuldet. Die beiden Haltelinien Beitragssatz und Mindestniveau sind bis Mitte des Jahrzehnts gesetzt, die Regelaltersgrenze bis zum Jahr 2031. In der Zeit dazwischen wird man diskutieren müssen, welche Perspektiven die umlagefinanzierte Rentenversicherung hat, wenn immer mehr Rentner immer länger Bezüge erhalten. Wir müssen damit rechnen, dass perspektivisch Ende der 30er-, Anfang der 40er-Jahre die derzeitigen Haltelinien unter Druck geraten. Ein Rentenniveau selbst von weniger als 48 Prozent wird dann nur noch mit Beitragssätzen zu finanzieren sein, die nach heutigem Rentenrecht jenseits der 22-Prozent-Marke liegen. Das würde junge Menschen genauso belasten wie Arbeitgeber.

Dr. Jochen Pimpertz wurde am 24. November 1965 geboren. Von 1989 bis 2001 studierte er an der Universität zu Köln Betriebswirtschaftslehre sowie Wirtschafts- und Sozialpädagogik. Während dieser Zeit promovierte er zudem im Fach Volkswirtschaftslehre. Anschließend begann er als Referent beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln mit besonderer Expertise für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung sowie Alterssicherung. Seit 2009 leitet er als Senior Economist die IW-Forschungsstelle „Pharmastandort Deutschland". Zwei Jahre später kam die Leitung des Kompetenzfelds Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung hinzu.
Standpunkte: Die FDP hat in den Koalitionsvertrag den Einstieg in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung hineinverhandelt. Könnte das zur Lösung des Problems beitragen?
Blank: Vorweg müssen wir mal grundsätzlich festhalten: Rentenpolitik besteht nicht nur aus den technischen Stellschrauben des Sozialgesetzbuches VI. Die Politik hat darüber hinaus Spielräume, denken Sie nur an das deutsche Beschäftigungswunder des vergangenen Jahrzehnts, das keiner voraussah und das dann auch dem Rentenniveau sehr gutgetan hat. Und dann geht es natürlich auch um die Verteilungsfrage, die politisch geklärt werden muss, auch was die Lastenverteilung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern angeht. Zur Kapitaldeckung stellt sich die Frage, was eigentlich bezweckt werden soll. Geht es um einen Kapitalstock, der für die gesetzliche Rentenversicherung angedacht ist? Das wird nach den bisherigen Plänen kein sehr wesentlicher Beitrag werden angesichts der für so ein Vorhaben nötigen Milliardensummen, bestenfalls eine verbesserte Nachhaltigkeitsrücklage, was aber eigentlich keine echte Kapitaldeckung darstellt. Angesichts des krisengeschüttelten Aktienmarktes bin ich auch nicht sicher, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt für ein solches Modell ist. Und ob das, was der FDP als Aktienrente eigentlich vorschwebte, noch weiter diskutiert wird, ist aus meiner Sicht unklar.

Dr. Florian Blank wurde 1978 in Düsseldorf geboren. Anfang der 2000er-Jahre studierte er Politikwissenschaft, Philosophie und Angewandte Kulturwissenschaften in Münster und Nottingham. Mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung in der Tasche promovierte er 2010 in der nordrhein-westfälischen Domstadt. Der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung ist er bis heute treu: Seit 2009 leitet er das Referat Sozialpolitik des zur Stiftung gehörenden Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) in Düsseldorf. Sein Arbeitsschwerpunkt ist zusätzlich zur deutschen Sozialpolitik die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung.
Pimpertz: Was Spielräume und Vorhersagen angeht, möchte ich gern eines betonen: Ja, Vorausberechnungen sind ein Geschäft mit vielen Unbekannten. Aber die demografische Entwicklung ist sehr valide prognostizierbar. Also zum Beispiel die Projektionen, die von der Kommission „Verlässlicher Generationenvertrag“ angestellt worden sind, die bis zum Jahr 2045 davon ausgehen, dass die Zahl der erwerbstätigen Beitragszahler bei unveränderter Quote der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um rund drei Millionen Menschen sinken wird. Währenddessen steigt die Zahl der Rentner aufgrund der Alterung der geburtenstarken Jahrgänge um vier Millionen. Drei Millionen weniger Menschen sollen für vier Millionen mehr Menschen Rentensicherung mitbetreiben – das nennt man wohl ein echtes Gap. Und das ist die Herausforderung. Im Koalitionsvertrag steht nun nicht der Begriff Aktienrente, wie ihn die FDP verwendet. Dort steht kapitalgedeckter Beitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung. Die Gefahr besteht nun darin, dass ein unbestimmter kollektiver Kapitalstock in der gesetzlichen Alterssicherung installiert werden kann, durch den die Kapitalgeber aber nicht davor geschützt sind, dass ihr Geld zugunsten anderer Ruhestandsgenerationen verwendet und aufgezehrt wird. Das passiert ihnen in der privaten Altersvorsorge nicht. Deshalb bin ich skeptisch gegenüber dem Ampel-Vorhaben.
Standpunkte: Was sehen Sie dann als Ausweg aus dem „Gap“?
Pimpertz: Unser Ziel sollte es sein, dass die Menschen mehr Vorsorge für sich selbst betreiben, und das können sie in sehr unterschiedlichen Produkten. Riester ist da keineswegs das Maß der Dinge. Wir sollten den Menschen freistellen, ob sie in Riester, in eine kapitalgedeckte Renten- oder Lebensversicherung oder in die betriebliche Altersvorsorge investieren. Oder ob sie eine Immobilie erwerben – und dann fördern, was förderwürdig ist.
Blank: Ich würde anders an die Sache herangehen. Es geht nicht so sehr um die Stärkung individuell gesteuerter Vorsorge, sondern um mehr Geld für das öffentliche Umlagesystem. Und da kann es keine Dogmen für alle Zeiten geben. Wir werden mittelfristig politisch diskutieren müssen, ob wir nicht einen steigenden Beitragssatz für die Rentenversicherung in Kauf nehmen, weil wir das sozialpolitische Versprechen halten wollen, dass Menschen mit verschiedensten Biografien dennoch durchweg ein angemessenes Rentenniveau erhalten.
Pimpertz: Wenn wir unterstellen, dass der Arbeitnehmer seinen und den Beitrag des Arbeitgebers zur Rentenversicherung anteilig erwirtschaftet, dann droht bei 22 Prozent Beitragssatz knapp ein Fünftel mehr an Finanzierungslasten für die Erwerbstätigen. Das kann man zur Diskussion stellen, aber dahinter verbirgt sich ein grundlegender Verteilungskonflikt, auch für Unternehmen. Wer in Deutschland sozialversicherungspflichtig Mitarbeiter beschäftigt, deren Sozialabgabenlast stetig steigt, der wird sich irgendwann fragen, ob unser Land noch den richtigen Standort für seinen Betrieb darstellt. Und wenn dann weiter Industrie abwandert, gehen auch die Arbeitsplätze und die Beiträge zur Sozialversicherung verloren – das ist eine gefährliche Entwicklung, die wir nicht brauchen.
Standpunkte: Wir danken Ihnen für das Gespräch.
Alexander Luckow
Fotos: Daniel Roth