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Fachkräftesicherung

Starthilfe in den Job

Seit mehr als 14 Jahren unterstützt das Programm NORDCHANCE junge Leute auch unter schwierigen Rahmenbedingungen beim Einstieg ins Berufsleben. Jetzt wird das Projekt neu ausgerichtet. Zeit für einen Rück- und Ausblick.

Wer Till Meins (Titelbild) heute an seinem Arbeitsplatz bei GESTRA sieht, kann sich kaum vorstellen, dass der junge Mann vor einigen Jahren noch mit Irokesenschnitt und Punk-Klamotten durch Bremen lief. „War aber so“, sagt der 30-Jährige und lacht. „Vielleicht lag es ja auch daran, dass niemand mir eine Lehrstelle geben wollte, obwohl ich Dutzende von Bewerbungen geschrieben habe.“ Dass er am Ende doch noch Glück hatte und eine Ausbildung beim Industriearmaturen-Hersteller GESTRA machen konnte, hat Meins vor allem dem Programm NORDCHANCE zu verdanken. Diese Initiative der Arbeitgeberverbände NORDMETALL und AGV NORD entstand 2008 auf Betreiben des Bremerhavener Unternehmers Ingo Kramer, der damals NORDMETALL-Präsident, später Arbeitgeberpräsident für ganz Deutschland war. Die Grundidee: jungen Menschen eine Brücke in die Ausbildung zu bauen und gezielt dort zu helfen, wo eher schwierige Rahmenbedingungen vorliegen.

Projekt mit vielen Partnern

Die praktische Umsetzung des erfolgreichen Gemeinschaftsprojektes übernahmen regionale Bildungsträger in Norddeutschland: das AFZ Aus- und Fortbildungszentrum Rostock, das Bildungsinstitut für Umweltschutz und Wasserwirtschaft Neubrandenburg, das Bildungszentrum der Wirtschaft im Unterwesergebiet, die Schleswig-Holsteiner Technische Akademie Nord, das Bildungswerk der Niedersächsischen Wirtschaft für Bremen und das nordwestliche Niedersachen oder in Hamburg der international tätige Dienstleister Steep. Insgesamt nahmen mehr als 1.000 junge Menschen an dem Programm teil; rund 730 von ihnen absolvierten ein Praktikum, und knapp 560 erhielten am Ende einen Ausbildungsplatz, die meisten von ihnen in einem Betrieb der Metall- und Elektroindustrie. In den 14 Jahren seit dem Start hat das Programm mehrere Änderungen erfahren: so öffnete es sich in Folge der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 gezielt für Menschen mit Migrationshintergrund. „Damals wurden unter anderem das Angebot an Sprachkursen erweitert und diese Trainings intensiviert“, sagt Imke Kuhlmann, Referentin für Nachwuchssicherung bei NORDMETALL und AGV NORD. Mittlerweile läuft das Programm unter dem Namen „NORDCHANCE Service“ und etabliert das bewährte Prinzip verstärkt in Flächenländern wie Schleswig-Holstein und Niedersachsen. „Unsere Unterstützung setzt jetzt später im Qualifizierungsprozess an“, erläutert Kuhlmann. „Das eröffnet den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Chance, sich in der Nähe ihres Wohnortes weiterbilden und für eine Ausbildung fit machen zu lassen“, sagt Kuhlmann. Bislang mussten die Teilnehmer unter Umständen lange Fahrtwege auf sich nehmen, um zu den kooperierenden Bildungsträgern nach Kiel oder Rostock zu gelangen. Bei „NORDCHANCE Service“ ist das anders. Hier müssen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer allenfalls für ein Kurzzeitpraktikum von rund zwei Wochen weite Wege auf sich nehmen. Alle übrigen Qualifizierungsmaßnahmen finden bei einem Maßnahmenträger in Wohnortnähe statt. Und dort ist auch weiterhin die Bundesagentur für Arbeit mit ihren diversen Jobcentern an dem Programm beteiligt. Von der Teilnahme profitieren nicht nur die Berufseinsteiger und Nachwuchskräfte, sondern auch die Unternehmen selbst, indem sie auf diese Weise dem Fachkräftemangel entgegenwirken können. Ein Beispiel dafür ist GESTRA, das zu den Projektpartnern der ersten Stunde zählt. „Das Thema Ausbildung hat bei uns einen sehr hohen Stellenwert, doch wird es immer schwieriger, unsere offenen Ausbildungsplätze zu besetzen“, sagt HR Specialist Sophia Heinecke. Außer Till Meins, der bereits seit 2010 im Betrieb ist, hat auch eine junge Kollegin den Weg über die NORDCHANCE-Initiative in die Ausbildung gefunden. Jetzt ist die angehende Zerspanungsmechanikerin im zweiten Lehrjahr. Valentina Schlecht erzählt: „Ich bin in Bremen aufgewachsen und als Schülerin in die falschen Kreise geraten. Deshalb hatte ich nach der Mittleren Reife einige Probleme mit dem Start ins Arbeitsleben. Die Berufe, die mich damals gereizt hätten, waren ohne Abitur nicht erreichbar, und irgendwie hatte ich keine Idee für passende Alternativen.“

„Wir eröffnen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Chance, sich in der Nähe ihres Wohnortes weiterbilden und für eine Ausbildung fit machen zu lassen.“

„Wir eröffnen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern die Chance, sich in der Nähe ihres Wohnortes weiterbilden und für eine Ausbildung fit machen zu lassen.“

Imke Kuhlmann Referentin für Nachwuchssicherung, NORDMETALL und AGV NORD

An der Werkbank: Valentina Schlecht in der Ausbildungswerkstatt von GESTRA, wo sie Zerspanungsmechanikerin lernt.

An der Werkbank: Valentina Schlecht in der Ausbildungswerkstatt von GESTRA, wo sie Zerspanungsmechanikerin lernt.

Start über ein Praktikum

Das änderte sich dank einer Beratung auf dem Arbeitsamt. Dort erzählte ihr eine Mitarbeiterin von NORDCHANCE und half bei den ersten Schritten. Dadurch erhielt die Bremerin die Möglichkeit, ein sechsmonatiges Praktikum bei GESTRA zu machen. Und das lief so gut, dass der Betrieb sie als Azubi übernahm. „Eine Initiative wie NORDCHANCE eröffnet uns die Möglichkeit, mit Jugendlichen zusammenzukommen, die wir unter anderen Umständen wohl nicht kennengelernt hätten“, bestätigt Personalerin Heinecke. „Dass dieses Konzept aufgeht, beweisen die tollen Kolleginnen und Kollegen, die wir dieser Initiative bereits zu verdanken haben.“ Valentina Schlecht ist mit ihrer beruflichen Entscheidung vollauf zufrieden. „Technische Dinge fand ich immer schon interessant“, erzählt die 19-Jährige. „Andere Mädels gehen am Wochenende shoppen, ich schraube lieber an meinem Audi herum. Die praktische Ausbildung ist genau das Richtige für mich.“ Ähnlich äußert sich ihr Kollege Till Meins. „Ich bin ein passionierter Tüftler“, sagt er, „und arbeite gern bei GESTRA. Ohne NORDCHANCE wäre ich hier wohl nicht gelandet.“ Beispiele wie die von Meins und Schlecht bestärken den Hamburger NORDMETALL-Vizepräsidenten Thomas Piehler darin, NORDCHANCE nach Kräften zu unterstützen und immer wieder strategisch an die Lage am Arbeitsmarkt anzupassen. Einem Verband falle es leichter, solche Projekte mit Langfristwirkung umzusetzen, ist Piehler überzeugt. „Die politische und gesellschaftliche Anziehungskraft solcher Programme ist wesentlich größer, wenn sie nicht von einzelnen Unternehmen, sondern von einem Verband wie NORDMETALL ins Leben gerufen werden.“ Hauptberuflich war Piehler bis Ende März als Arbeitsdirektor beim Medizintechnikhersteller Philips in Hamburg tätig. Seit 2016 hält das Unternehmen jedes Jahr einen Ausbildungsplatz für einen Geflüchteten frei. „Philips hat seine soziale Verantwortung als ,good citizen‘ schon immer ernst genommen. Das NORDCHANCE-Programm gibt uns als Arbeitgeber die Möglichkeit, jungen Menschen eine Perspektive zu geben“, sagt Piehler. Gute Noten sind in der Arbeitswelt von morgen eben nicht alles. Andere Qualitäten wie Teamfähigkeit und Engagement sind ebenso wichtig. Da könne man von Beschäftigten aus anderen Kulturkreisen etwas lernen. Das bestätigt auch Philips-Ausbildungsleiter Norbert Rix, der viel Zeit und Energie darin investiert, passende Bewerber zu guten Teams zusammenzustellen. Doch die Mühe lohne sich, so Rix: „Mehr als die Hälfte unserer NORDCHANCE-Teilnehmer arbeitet nach wie vor bei Philips.“

„Die politische und gesellschaftliche Anziehungskraft solcher Programme ist wesentlich größer, wenn sie von einem Verband ins Leben gerufen werden.“

„Die politische und gesellschaftliche Anziehungskraft solcher Programme ist wesentlich größer, wenn sie von einem Verband ins Leben gerufen werden.“

Dr. Thomas Piehler NORDMETALL-Vizepräsident und ehemaliger Arbeitsdirektor bei Philips

Positive Erfahrungen

Zu den Partner-Unternehmen des Programms zählt auch der weltgrößte Stahlkonzern ArcelorMittal, der in seinem Hamburger Werk etwa 550 Mitarbeiter beschäftigt und im Schnitt rund 40 Auszubildende im gewerblichen und kaufmännischen Bereich hat. Einer von ihnen ist Dennis Kartal, der seine Lehrstelle 2021 über „NORDCHANCE Service“ fand. „Ich hatte mit 17 Jahren mein Abitur, aber kein Glück bei der Suche nach einer Ausbildung“, erzählt der 21-Jährige. „Insgesamt habe ich wohl über 100 Bewerbungen geschrieben, aber nur Absagen erhalten. Deshalb habe ich erst mal als Servicekraft in der Gastronomie gejobbt, da ich niemandem auf der Tasche liegen wollte.“ Und weil der gebürtige Hamburger ein Mann mit vielen Interessen ist, nahm er nebenbei noch ein Studium auf, und zwar in Musik und Wirtschaftsinformatik. Dass dieses ambitionierte Vorhaben letztlich scheiterte, lag unter anderem an den verschiedenen Studienorten: Wirtschaftsinformatik fand in Hamburg statt, Musik in Lübeck. Das war aufgrund der Arbeitsbelastung und der weiten Fahrtwege mit dem Job in der Gastronomie nicht zu vereinbaren. Dennis Kartal: „Daher machte ich mich erneut auf die Suche nach einer Lehrstelle, aber es ergab sich einfach nichts. 2020 hatte ich dann einen Beratungstermin auf dem Arbeitsamt und erfuhr von ,NORDCHANCE Service'. Und bekam den Tipp, es bei ArcelorMittal im Hamburger Hafen zu versuchen, denn dort gäbe es eine große Ausbildungsabteilung und spannende Arbeitsplätze.“ Kartal nahm Kontakt mit ArcelorMittal auf, wurde zum Gespräch eingeladen und erhielt wenig später die Zusage für ein mehrmonatiges Praktikum in dem Stahlwerk. Das lief so gut, dass er im Herbst 2021 dort als Azubi anfangen konnte. „Unsere Erfahrungen mit den Praktikanten, die über NORDCHANCE in unser Unternehmen gekommen sind, sind durchweg positiv“, sagt Heidi Warnecke, bei ArcelorMittal verantwortlich für die Aus- und Weiterbildung. „Das sechsmonatige Praktikum war für beide Seiten sehr hilfreich: So konnten wir uns gut kennenlernen, und die Entscheidung für den Bewerber stand auf ,sicheren Füßen‘. Insbesondere über Bewerbungen von technikaffinen Frauen würde sich die Personalerin künftig freuen. Dennis Kartal hat sich schließlich für Verfahrenstechnologie entschieden. „Verfahrenstechnologen steuern und überwachen Produktionsprozesse. Eine vielseitige Arbeit, die mir wirklich liegt, weil ich schon immer Spaß an Technik hatte. Ohne NORDCHANCE hätte ich diesen Ausbildungsplatz wohl nie bekommen. Für mich war das ein echter Glücksfall“, erzählt der junge Mann.

Im Stahlwerk: Die Ausbildung bei ArcelorMittal gefällt Dennis Kartal, weil die Arbeit vielseitig ist und eine Menge Abwechslung bietet. Heidi Warnecke ist hier verantwortlich für die Aus- und Weiterbildung.

Im Stahlwerk: Die Ausbildung bei ArcelorMittal gefällt Dennis Kartal, weil die Arbeit vielseitig ist und eine Menge Abwechslung bietet. Heidi Warnecke ist hier verantwortlich für die Aus- und Weiterbildung.

Von Syrien in den Norden

Positiv fällt auch das Fazit von Leen Alashkar aus, die derzeit an der Technischen Akademie Nord (TA) in Kiel zur Zerspanungsmechanikerin ausgebildet wird. Die gebürtige Syrerin musste 2012 mit ihrer Familie die Heimatstadt Damaskus verlassen und lebte danach einige Zeit in Jordanien. Vor fünf Jahren kam sie nach Deutschland, seit 2019 wohnt sie in Kiel. Die 21-Jährige ist künstlerisch begabt, hatte jahrelang Ballettunterricht und spielte schon als Kind Geige und Klavier. Die Mutter ist Modedesignerin, der Vater Architekt. Als für Leen die Frage der Berufswahl anstand, erfuhr sie auf dem Arbeitsamt vom NORDCHANCE-Programm. So kam sie zur TA Nord. „Ich bin eine starke Frau und habe Spaß an dem, was ich hier lernen kann“, sagt sie. „Die Ausbilder bei der TA Nord sind sehr nett und bringen uns alles bei, was wir für die Berufstätigkeit brauchen. Ich kann mir gut vorstellen, später noch meinen Meister zu machen.“ Weitere Informationen dazu finden sich auf wir-bilden-den-norden.de unter „Projekte“.

Faible für Technik: Als Kind lernte sie Geige und Klavier, heute ist Leen Alashkar in der Welt der Metall- und Elektroindustrie unterwegs.

Faible für Technik: Als Kind lernte sie Geige und Klavier, heute ist Leen Alashkar in der Welt der Metall- und Elektroindustrie unterwegs.

Birte Bühnen / Clemens von Frentz

Fotos: Christian Augustin