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Face to Face
Zwei Menschen, zwei Sichtweisen: Der Leiter des Clusters Makroökonomie und Konjunktur des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln Prof. Dr. Michael Grömling (59) und die Politologin und Leiterin des LeibnizInstituts für Friedens- und Konfliktforschung Prof. Dr. Nicole Deitelhoff (50) diskutieren über Wege aus der Wirtschaftskrise.
Standpunkte: Mitte November haben sich die Sozialpartner in der Tarifrunde 2024 für die Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie auf ein Lohnplus von 5,1 Prozent plus eine Einmalzahlung geeinigt. Jedes Lohnplus belastet die Unternehmen und verringert deren Investitionskraft. Gleichzeitig gibt es den Beschäftigten Sicherheit und erhöht die Kaufkraft. Was führt eher zum ersehnten Wirtschaftswachstum?
Prof. Dr. Michael Grömling: Es ist gelungen, die Inflationsrate trotz der starken Belastungen und Kaufkraftverluste, die es infolge des Energiepreisschocks durch den russischen Angriffskrieg gegeben hat, in einen normalen Rahmen zurückzuführen. Wir haben jedoch andere Belastungen. Ob wir die mit kräftigen Lohnsteigerungen gelöst bekommen, muss ich ganz klar infrage stellen. Zudem frage ich mich, ob wir angesichts der Investitionskrise, der Verunsicherung von Unternehmen und des bereits eingetretenen Verlusts an Wettbewerbsfähigkeit durch Subventionierungen, durch Wechselkursaufwertung, durch höhere Energiekosten als in anderen Ländern, eine Krise möglicherweise noch verstärken durch Lohnabschlüsse, die jenseits des Verteilungsspielraums liegen. Dieses Problem ist gleichwohl mit dem aktuellen Abschluss in der M+E-Industrie nicht eingetreten.

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff: Das ist keine leichte Frage. Auf der einen Seite sehe ich es wie Professor Grömling. In einer Wirtschaft, die stagniert, die an Wettbewerbsfähigkeit verliert, sind hohe Tarifabschlüsse ein weiteres Problem auf einem eh schon gut gefüllten Problemkonto. Auf der anderen Seite ist die Verunsicherung, die derzeit in der Wirtschaft herrscht, auch ein Phänomen, das wir bei den Verbrauchern sehen. Auch da sitzt das Portemonnaie alles andere als locker, sodass die Binnennachfrage ebenfalls schwächelt. Das können wir auch nicht wollen. Das heißt, wir brauchen moderate Lohnabschlüsse.
Standpunkte: Während die Sozialpartner mit dem Tarifabschluss 2024 ihre Kompromissfähigkeit bewiesen haben, ist die Politik in den Wahlkampfmodus gewechselt. Kann das einen erfolgreichen Weg aus der Krise weisen?
Deitelhoff: Der Bruch der Koalition und der vorgezogene Wahlkampf hält beides in petto: Wir können neuen Schwung erleben, da politische Blockaden weggeräumt werden, etwa mit Blick auf die Frage, Investitionsprogramme aufzulegen und dafür auch an der Schuldenbremse zu rühren. Es könnte aber genauso dazu führen, dass sich die Parteien weiterhin wechselseitig zerfleischen und überhaupt keine Politik mehr machen bis hin zu einer vermutlich sehr schwierigen Regierungsbildung im Frühjahr.

Standpunkte: Werden der von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte Pakt für die Industrie und Sofortmaßnahmen bis zum Jahresende den nötigen Wumms für die Industrie bringen?
Grömling: Nein, die Unsicherheit, die die Investitionstätigkeit in Deutschland ernsthaft belastet, werden wir in der gebotenen Zeit nicht auflösen können. Die Hoffnung liegt auf einem Neubeginn. Wir kommen aus zwei Krisen: Durch die Pandemie haben wir erhebliche Störungen im Wirtschaftsleben erlebt, mit gewaltigen Einbußen bei Investitionen, die wir jedoch brauchen für die Erneuerung des Kapitalstocks, also unsere Infrastrukturen wie moderne Fabriken und Anlagen, Geschäftsgebäude, Schulen und Forschungseinrichtungen. Der Ukrainekrieg und alle weiteren geopolitischen Verwerfungen haben diese Problematik weiter verschärft. Der unklare wirtschaftspolitische Kurs der Bundesregierung und der Wahlausgang in den USA machen es nicht leichter. Wir brauchen Verlässlichkeit und stabile wirtschaftliche Rahmenbedingungen, um uns den eigentlichen Herausforderungen dieser Dekade zu widmen: die Dekarbonisierung einleiten, am technischen Fortschritt teilnehmen, uns für die demografischen Anpassungslasten aufstellen und eine zukunftsweisende europäische Antwort auf die Deglobalisierung geben.
Deitelhoff: Sofortmaßnahmen sind kleine Pflaster. Sie werden keine Situation erzeugen können, in der die Privatwirtschaft selbst wieder bereit ist, zu investieren. Das wird alles zu großen Teilen verpuffen und keine wirklich nachhaltigen Effekte erzeugen.
Standpunkte: Das heißt, Deutschland bleibt der „kranke Mann Europas“?
Deitelhoff: Wirtschaft braucht Sicherheit, aber sie braucht vor allem auch Zutrauen, dass der Staat in der Lage und auch willens ist, selbst in die Investitionen zu gehen. Wir können nicht darauf warten, dass die Privatwirtschaft im großen Stil investiert und der Staat sich zurückhalten kann. Dafür sind die Rahmenbedingungen momentan in Europa, aber auch global, zu schlecht.
Grömling: Ich konnte mit dem Bild vom „kranken Mann“ noch nie etwas anfangen. Auch, weil mir kein anderes Land in Europa einfällt, das all die Probleme besser adressiert. Wir haben es derzeit mit ökonomischen und politischen Irrationalitäten zu tun, denen man nur mit ökonomischer Stärke begegnen kann. Das ist eine europäische Aufgabe, in der Deutschland eine zentrale Rolle hat – auch in Form von staatlichen Investitionen. Hier zählt nicht nur die Höhe der Investitionen, sondern auch, wofür das Geld verwendet wird.
Deitelhoff: Was wir haben, sind gut ausgebildete Arbeits- und Facharbeitskräfte, eine exzellente Forschungsinfrastruktur und -förderung. Das erzeugt Innovationsfähigkeit. Das zeichnet uns aus, hier müssen wir wieder reinvestieren. Mit der gegenwärtigen Schuldenbremse ist das aber nicht zu machen. Würden wir in ein wirkliches Investitionsprogramm einsteigen, würden die Gewinne, die wir dadurch erzeugen können, diese Schulden wieder auffressen. Auch wenn wir das nicht tun, werden wir uns über kurz oder lang weiter verschulden müssen, weil unsere Wirtschaft einfach nicht vorankommt.
Grömling: Ich komme Ihnen entgegen, was das Aufheben der Schuldenbremse angeht, aber unter härtesten Bedingungen. Wir wissen nie, welche politischen Konstellationen wir in den kommenden Jahren haben werden. Das gilt es, mitzudenken, wenn wir diese Art von Selbstbeschränkung aufheben.
Deitelhoff: Mir geht es nicht darum, die Schuldenbremse aufzuheben, um dann alles wie gehabt zu machen, also alle möglichen Wählergruppen freundlich zu halten, indem man sie mit Geld zuschüttet. Es liegen gute Ideen auf dem Tisch, wie man sie reformieren und nutzen könnte, damit wir endlich vorankommen.
Grömling: Wir müssen institutionell sicherstellen, dass das, was letztlich zur Verfügung steht, nicht zum Selbstbedienungsladen wird, sondern dass dieses Geld auch unserem Kapitalstock etwas bringt. Doch da sehe ich im Moment keine große Bewegung, diesen Punkt wirtschaftspolitisch zu durchdenken.
Standpunkte: Was läuft in anderen Ländern besser?
Deitelhoff: Deutschland ist, was das Wachstum angeht, in Europa hintendran, aber die Unterschiede sind gar nicht so massiv. Schauen wir aber nach Nordamerika, dann sehen wir eine massive Staatsverschuldung, bei der jedem Europäer die Ohren klingeln müssten. Gleichzeitig erleben wir, welche Effekte der Inflation Reduction Act gehabt hat: Die Wirtschaft ist auf einem ganz anderen Niveau gewachsen, als das in Europa der Fall war, und trotz hoher Inflation haben wir ein Jobwachstum gesehen. Ich glaube, dass wir uns da etwas abgucken können. Zum Beispiel auch, dass Investition in die Wirtschaft und Investition in die Klimawende am besten zu machen sind, wenn sie Hand in Hand gehen.
Grömling: Wenn privatwirtschaftliche Investoren nicht das Vertrauen in eine zeitkonsistente Wirtschaftspolitik haben, dann laufen private Investitionsprozesse schlechter, als wenn der Staat einen verlässlichen Rahmen vorgibt. Und ob die Subventionierung, die Trump möglicherweise vorschwebt, letztlich wirkt, wird sich zeigen. Wahrscheinlich wird das mit einer weiteren Vergiftung des internationalen Miteinanders einhergehen. Investive Rahmenbedingungen müssten so geschaffen werden, dass sie die Partner, mit denen man über viele Dekaden gemeinsam gegangen ist, nicht vor den Kopf stoßen.
Standpunkte: Also sind wir wieder im Jahr 1993 angekommen, als der damalige Bundeswirtschaftsminister Günter Rexrodt sagte, dass es einen Wandel im Anspruchsdenken aller gesellschaftlicher Gruppen brauche. Ist das so?
Deitelhoff: Ich bin mir gar nicht so sicher, ob es diesen Wandel im Anspruchsdenken bei allen tatsächlich gegeben hat. Wir haben Schritte auf diesem Weg gemacht, aber dann kamen die vielen Krisen. Und das politische Krisenmanagement, an bestimmte soziale Gruppen „Pflaster“ zu verteilen, mit denen sie besser durch diese Krisen kommen, hat das Gefühl auch in anderen Gruppen eher noch verstärkt, Ansprüche zu haben. Das hat zu einer Haltung geführt, dass individuell weniger ins Risiko gegangen wird, sondern dass der Staat das für die Menschen übernehmen soll. Sowohl der einfache Bürger als auch die Wirtschaftsunternehmen müssen wieder stärker bereit sein, sich auch selbst um ihr Schicksal zu kümmern.
Standpunkte: Wir danken Ihnen für das Gespräch!
Aufgezeichnet von Birte Bühnen