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Pilot gelandet

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EU-Taxonomie

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Es war eine Premiere in mehrfacher Hinsicht: Zum ersten Mal in mehr als 75 Jahren NORDMETALL-Geschichte verhandelten die M+E-Arbeitgeber an der Küste den Pilot-Flächentarifvertrag. Erstmals saßen auch zwei Arbeitgeberverbände und Gewerkschaftsbezirke am Tisch – Vertreter aus Bayern und dem Norden – und schafften schon am vierten Verhandlungstag Mitte November die Einigung.

Schon zum Auftakt Mitte September in Hamburg war für NORDMETALL klar: Die Sieben-Prozent-auf-zwölf-Monate-Forderung der IG Metall aus dem Frühjahr war buchstäblich unter die Räder der sich auswachsenden Wirtschaftskrise geraten. In der Analyse des Abschwungs waren sich Gewerkschaft und Arbeitgeber zu diesem Zeitpunkt sogar einig. Gleichwohl beharrte die IG Metall mit Verweis auf steigende Preise und den Wegfall der Inflationsausgleichprämie auf ihrer Forderung.

Anfang Oktober in Bremen legten die Arbeitgeber zur zweiten Gesprächsrunde ein eigenes Lösungspaket vor: 3,6 Prozent, in zwei Staffeln auszahlbar über 27 Monate, plus die Bereitschaft, über eine besondere Entgelterhöhung für Auszubildende zu sprechen, wenn denn auch die automatische Differenzierung für Unternehmen in schwieriger Lage erhalten bliebe. Während die Azubi-Vertreter der Gewerkschaft eindrucksvoll ihr Engagement für die Industrie unterstrichen, einigten sich die Verhandler auf die Einsetzung einer Arbeitsgruppe aus Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern aus Bayern, NRW und von der Küste, um das Thema der Freistellungstage gesondert zu diskutieren.

Zweite Verhandlungsrunde am 15.10.2024 im Atlantic Hotel Universum in Bremen. Pressestatement: Nach der zweiten Runde spricht NORDMETALL-Verhandlungsführerin Lena Ströbele mit den Medien.
Foto: Christian Augustin

Konstruktive Verhandlungsatmosphäre und respektvoller Umgang prägten auch die dritte Verhandlungsrunde in Kiel Ende Oktober. Der verbindlichere Stil der neuen Ersten Vorsitzenden der IG Metall, Christiane Benner, und ihrer Tarif-Vorständin Nadine Boguslawski wehte bis an die Förde, wenn auch hier zum Ende der Friedenspflicht noch kein Durchbruch erzielt werden konnte.

Dritte Verhandlungsrunde am 29.10.2024 im Atlantic Hotel Kiel. Aug in Aug: Die Verhandlungskommissionen von NORDMETALL (r.) und der IG Metall Küste starten in kleiner Runde.
Foto: Christian Augustin

Sieben Warnstreiktage später war der dann in der vierten und Pilot-Verhandlungsrunde in Hamburg möglich – in einem echten Kraftakt, währenddessen es bis zum frühen Morgen mehrmals Spitz auf Knopf stand.

Historischer Moment: NORDMETALL-Tarifverhandlungsführerin Lena Ströbele unterzeichnet zusammen mit Daniel Friedrich, Bezirksleiter IG Metall Küste, den Pilotabschluss.
Foto: Dr. Nico Fickinger

NORDMETALL-Tarifverhandlungsführerin Lena Ströbele lobte nach den 18-stündigen Verhandlungen am Vormittag des 12. November die erzielte Einigung: „Es war ein zähes Ringen. Doch mit dem Willen zur Einigung und der Fähigkeit zum Kompromiss ist uns in schwieriger Zeit ein verantwortlicher Abschluss gelungen. Das war unsere Aufgabe und unser Anspruch: Wir Tarifparteien wollten zeigen, dass wir nicht ,Ampeln‘, sondern Einigung können“, betonte die Personaldirektorin der Unternehmensgruppe Lürssen auf einer gut besuchten gemeinsamen Pressekonferenz mit den Spitzenvertretern der IG Metall.

Zieleinlauf zur Pressekonferenz: die Verhandlungsführer (v. l.) Horst Ott (IG Metall Bayern), Lena Ströbele (NORDMETALL), Angelique Renkhoff-Mücke (vbm).
Foto: Christian Augustin

An der Grenze des Möglichen

Die Tarifverhandlungsführerin des Verbands der bayerischen Metall- und Elektro-Industrie (vbm), Angelique Renkhoff-Mücke, ergänzte: „Das Verhandlungsergebnis geht an die Grenze des Möglichen. Trotz weit auseinanderliegender Vorstellungen ist ein Abschluss gelungen, der gemessen an der wirtschaftlichen Lage zwar eine hohe Entgelterhöhung vorsieht, den Unternehmen aber mit der langen Laufzeit von 25 Monaten Planungssicherheit bietet. Dies ist ein klares Signal für Sicherheit und Stabilität in der derzeitigen Regierungs- und in der strukturellen Wirtschaftskrise für die Unternehmen und die Beschäftigten.“ Der Abschluss beinhaltet folgende wesentliche Elemente:

• Erhöhung der Tarifentgelte in zwei Stufen um 2,0 Prozent zum 1. April 2025 und um 3,1 Prozent zum 1. April 2026 bei einer Laufzeit von insgesamt 25 Monaten bis zum 31. Oktober 2026

• Eine Einmalzahlung für alle Beschäftigten in Höhe von 600 Euro im Februar 2025, wahlweise auf Dezember 2024 vorziehbar

• Eine Anhebung der Vergütungen der Auszubildenden um 140 Euro pro Monat ab 1. Januar 2025 sowie eine Erhöhung um weitere 3,1 Prozent zum 01. April 2026

• Die Fortführung der automatischen Differenzierung für Betriebe in wirtschaftlich schwieriger Lage mit einem vergrößerten Differenzierungsvolumen

• Eine moderate Ausweitung der Wahloption „Geld oder freie Tage“ für Eltern und Pflegende sowie Einschluss der Teilzeitbeschäftigten bei gleichzeitiger Schaffung von entsprechenden Kompensationsmöglichkeiten für die Arbeitgeber

Vierte Verhandlungsrunde – und der Abschluss am 12.11.2024 im Grand Elysée in Hamburg. Erwartungsvoll: Das norddeutsch-bayrische Kernteam der Arbeitgeber ist bereit für die letzte Runde.
Foto: Christian Augustin

Anreize für die M+E-Ausbildung

Die Verhandlungen in Hamburg wurden eng von den Vertretern der übrigen M+E-Arbeitgeberverbände und der Gesamtmetall-Spitze begleitet. Gesamtmetall-Präsident Dr. Stephan Wolf betonte: „Bei den Ausbildungsvergütungen sehen wir zwar auch die Kostenbelastungen, aber wir stehen nicht nur im Wettbewerb mit anderen Branchen. Wir stehen auch im Wettbewerb mit der Versuchung mancher jungen Menschen, statt einer langfristig lohnenden Berufsausbildung lieber mit Hilfstätigkeiten im Mindestlohnsektor kurzfristig mehr zu verdienen. Mit der Anhebung wollen wir den Anreiz erhöhen, sich für eine Ausbildung in der Metall- und Elektroindustrie zu entscheiden.“

Den Standort gestärkt

Die Neuregelung der Freistellungstage sei nur unter der Bedingung möglich geworden, dass ausfallendes Arbeitsvolumen kompensiert werden könne. „Wer die Arbeitsplätze der Zukunft haben will, muss die anfallende Arbeit schließlich auch erledigen wollen“, so Wolf weiter. „Unser Anspruch war es, den Standort zu stärken. Das ist uns alles in allem mit diesem Abschluss gelungen. Nun ist die Politik in Berlin und Brüssel gefragt, die Weichen für mehr Wettbewerbsfähigkeit zu stellen.“

Im Detail erlaubt die automatische Differenzierung den Betrieben, eine Sonderzahlung zunächst zu verschieben und dann ganz zu streichen, wenn die Nettoumsatzrendite 2,3 Prozent oder weniger beträgt. Weil dafür nun eine andere Sonderzahlung – das sogenannte Transformationsgeld statt des tariflichen Zusatzgeldes (T-ZUG B) – genutzt wird, erhöht sich das differenzierbare Volumen. So können die Belastungen im Jahr 2025 für jene Betriebe, welche die Differenzierung nutzen, dicht bei Null gehalten werden. Bei der Wahloption „Geld oder freie Tage“ (T-ZUG) ist es gelungen, eine für beide Seiten gangbare Lösung zu finden. Beschäftigte mit Kindern bis zwölf (bisher acht) Jahren können künftig häufiger von der Regelung Gebrauch machen. Auf der anderen Seite können Firmen im Rahmen einer freiwilligen Betriebsvereinbarung zum Beispiel regeln, dass im Fall von Beschäftigungsproblemen die Freistellungstage verpflichtend angeordnet werden. Mittlerweile haben alle deutschen M+E-Regionen den Küsten-Abschluss übernommen – ganz im Geiste des positiven nationalen Presseechos ist der Pilot gelandet.

Alexander Luckow

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