Abendprogramm THE VACUUM CLEANER

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ZUM ABEND S

chätzungen zufolge haben sich etwa eine Million Japaner*innen aus der Gesellschaft zurückgezogen und verlassen ihr Zimmer kaum oder gar nicht. Man nennt sie Hikikomori. Viele von ihnen wohnen bei ihren Eltern, so lange sie leben. Viele von ihnen können den auf sie ausgeübten Druck, doch endlich zum funktionierenden Mitglied der Gesellschaft zu werden, nicht mehr ertragen. Viele von ihnen sehen ihren Rückzug als Reaktion auf den Zustand der Verhältnisse: „Nicht ich bin sonderbar, die Welt ist es.“ Inzwischen wohnen immer häufiger auch vierzig- bis fünfzigjährige Kinder noch bei ihren siebzig- bis achtzigjährigen Eltern. No Future? Toshiki Okadas neues Stück „The Vacuum Cleaner“ spielt am Ort des Rückzugs, im Zuhause. In einem engen Haus mit dünnen Wänden, in dem nur das Geräusch des Staubsaugers immer wieder ein wenig Privatsphäre behauptet. Wie lässt sich hier zusammen leben? Oder ist das eigentlich auch egal, irgendwie?


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THE VACUUM CLEANER

DOLMETSCHERIN Makiko Yamaguchi

VON TOSHIKI OKADA AUS DEM JAPANISCHEN VON ANDREAS REGELSBERGER

REGIEASSISTENZ Jakob Wittkowsky

CHÔHÔ Walter Hess HOMARE, Chôhôs Tochter Annette Paulmann

BÜHNENBILDASSISTENZ Ji Hyung Nam Elena M. Ostendorf KOSTÜMASSISTENZ Lucia Heidepriem

RICHIGI, Chôhôs Sohn Damien Rebgetz HIDE, Freund von Richigi Thomas Hauser

INSPIZIENZ Stefanie Rendtorff

DEME Julia Windischbauer

SOUFFLAGE Carmen Engel

INSZENIERUNG Toshiki Okada

REGIEHOSPITANZ Leander Huber Clara Tolle

BÜHNE Dominic Huber KOSTÜME Tutia Schaad

ÜBERTITELUNG Yvonne Griesel, Sprachspiel

MUSIK Kazuhisa Uchihashi

ÜBERSETZUNG Anna Galt

LICHT Pit Schultheiss

OPERATOR Melanie Müller Louisa Sausner

DRAMATURGIE Tarun Kade Makiko Yamaguchi


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BESETZUNG / INHALT

BÜHNENTECHNIK Oliver Cagran

TECHNISCHER DIREKTOR

Klaus Hammer TECHNISCHER LEITER

BÜHNENMASCHINERIE Thomas Grill Michael Preußer

Richard Illmer

BELEUCHTUNG Michael Barth Sebastian Lachenmaier Peter Weberschock Wolfgang Wiefarn

LEITER DER BÜHNENMASCHINERIE

TON Viola Drewanz Anthony Hughes

LEITER DER BÜHNENTECHNIK

Hans-Björn Rottländer Ulrich Heyer LEITER DER BELEUCHTUNGSABTEILUNG

Christian Schweig LEITER DER TONABTEILUNG

Wolfram Schild LEITER DER VIDEOABTEILUNG

Nicolas Hemmelmann LEITERIN DER MASKENABTEILUNG

REQUISITEN Anette Schultheiß Sabine Schutzbach

Brigitte Frank

MASKE Raimund Richar-Vetter Steffen Roßmanith

LEITER DER REQUISITE

ANKLEIDER*INNEN Friederike Diemer Petra Dziak Monika Ising Marija Ruzic Fabiola Schiavulli TAPEZIEREREI Christian Petzuch Tobias Herzog MALSAAL Ingrid Weindl

LEITERIN DER KOSTÜMABTEILUNG

Beatrix Türk Stefan Leeb LEITUNG DER DEKORATIONSWERKSTÄTTEN

Rainer Bernt, Fabian Iberl KONSTRUKTEUR

Adrian Bette, Jonas Simon SCHREINEREI

Erik Klauß TAPEZIEREREI

Gundula Diener SCHLOSSEREI

Friedrich Würzhuber MALSAAL

Evi Eschenbach, Jeanette Raue THEATERPLASTIK

Gabriele Obermaier SPEZIALEFFEKTE  /  E LEKTROWERKSTATT

Stefan Schmid

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INHALT ZUM ABEND

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BESETZUNG

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ZU DIESEM HEFT

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ICH MUSS AN DAS PUBLIKUM GLAUBEN

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TARUN KADE IM GESPRÄCH MIT TOSHIKI OKADA ÜBER SEIN THEATER

DIE AUSSENSEITER VON WIELAND WAGNER

TOSHIKI OKADA BIOGRAFIE

IMPRESSUM

URAUFFÜHRUNG 12. Dezember 2019 Kammer 1

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ZU DIESEM HEFT

ZU DIESEM HEFT „ICH WÜRDE GERNE MIT DEM STÜCK ‚THE VACUUM CLEANER‘ BEGINNEN UND DESHALB FÄNGT ES MIT EINEM STAUBSAUGER AUCH AN“

W

ährend der letzten fünf Jahre hat der japanische Theatermacher Toshiki Okada regelmäßig an den Münchner Kammerspielen inszeniert. Zunächst adaptierte er mit dem Ensemble der Kammerspiele seine Stücktrilogie „Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech“, die er mit der von ihm gegründeten Gruppe chelfitsch bereits 2004 erarbeitet hatte. Ein Jahr später entwickelte er dann ein gegenwärtiges Stück unter Ver-

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wendung der Poetik der traditionell japanischen Theaterform „Nō Theater“. Und zuletzt simulierte er dann in „No Sex“ Gefühle in der Karaokebar, um sie anschließend zu analysieren. Im Gespräch mit Dramaturg Tarun Kade, der an allen Inszenierungen Okadas in München beteiligt war, spricht Okada über sein Theaterverständnis und darüber, wie die Arbeit an den Münchner Kammerspielen ihn beeinflusst hat. (S. 10) Im Interview erwähnt Okada auch, er habe in „The Vacuum Cleaner“ zum ersten Mal über Familie geschrieben. Er, dessen Stücke immer die junge aber wenig hoffnungsvolle „Lost Generation“ im Zentrum hatten, die in der Familiengründung keine Perspektive sahen, hat nun ein Stück über Familie geschrieben: die „Lost Generation“ ist erwachsen geworden. Die Familienkonstellation in „The Vacuum Cleaner“ ist jedoch auf den ersten Blick

„ABER WENN NUN DIE ERFÜLLTHEIT EINES LEBENS AN DEN TEN HAT, DANN KANN MAN MEIN LEBEN ALS EIN SOLCHES LICH GESAGT WÜRDE ICH SEHR GERNE ZU EINER INNEREN ÜBERZEUGUNG SAGEN KÖNNTE: DAS IST KEIN PROBLEM! MAN SCHON SAGEN, DASS DAS EINE ZIEMLICH GROSSARTIGE


eher ungewöhnlich. Chôhô, der Vater, ist um die achtzig Jahre alt, seine Tochter Homare und ihr Bruder Richigi sind deutlich jenseits der vierzig und wohnen immer noch zu Hause. Mag diese Familienkonstellation auch nicht dem klassischen Bild entsprechen, gibt es sie doch so häufig, dass sie in Japan ein eigenes soziologisches Label bekommen hat: „80/50-problem“. Kinder um die 50, häufig ohne eigenen Job, wohnen noch bei ihren Eltern, die von ihrer Rente ihren Lebensunterhalt aufbringen müssen. Manchmal sind diese Kinder sogenannte „Hikkikomori“, Menschen die sich von der Gesellschaft zurückgezogen haben. Von ihnen soll es im Alter zwischen 40 und 64 Jahren über 600.000 geben. Doch was passiert mit diesen „Kindern“, wenn die Eltern irgendwann nicht mehr leben? Der Journalist und ehemalige SPIEGEL-Korrespondent für Japan Wieland Wagner beschreibt in sei-

nem Text „Die Außenseiter“, wie die Gesellschaft beschaffen ist, die Familienkonstellationen wie diese hervorbringt. (S. 30) Es sind allerdings nicht in erster Linie gesellschaftspolitische Gründe, die Toshiki Okada dazu veranlasst haben, ein Stück mit einer sogenannten „Hikikomori“ im Zentrum zu schreiben. Im Interview sagt er dazu, es sei für ihn ein sehr persönliches Stück: „Mit persönlich meine ich, dass das nichts ist, worunter die anderen leiden, sondern es hätte auch ich gewesen sein können. Ich hatte nur Glück und aus irgendeinem Zufall musste ich kein Hikikomori werden. Und das spüre ich sehr stark in mir beim Schreiben dieses Textes.“ TK

HÖHEN UND TIEFEN BEMESSEN WIRD, DIE MAN DURCHSCHRITWOHL KAUM BEZEICHNEN. UND DAS IST EIN PROBLEM! EHRHALTUNG FINDEN, AUS DER HERAUS ICH IM BRUSTTON DER WENN ICH DAS WIRKLICH ERREICHE, DANN FINDE ICH, KANN LEISTUNG IST.“


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I CH MU S S MI T T O S H I K I O KA D A AN DAS PU B L I M K U ÜBE R 10

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T A RUN KA D E I M G E S PR Ä CH

SE I N THE ATE R

G L AUBEN


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ICH MUSS AN DAS PUBLIKUM GLAUBEN TARUN KADE IM GESPRÄCH MIT TOSHIKI OKADA ÜBER SEIN THEATER TARUN KADE Deine erste Inszenierung an den Münchner Kammerspielen war 2016 „Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech“. Das Stück war bereits geschrieben, du hattest es mit deiner Kompanie chelfitsch schon 2009 erarbeitet und warst nun in der Situation, es noch einmal neu mit den deutschsprachigen Schauspieler*innen aus dem Ensemble der Münchner Kammerspiele zu adaptieren. Es war deine erste Zusammenarbeit mit deutschsprachigen Schauspieler*innen überhaupt. Was war für dich das Spezielle dieser Erfahrung? TOSHIKI OKADA Der Entwicklungsprozess war ganz anders. Ich hatte mir das so vorher gar nicht vorstellen können. Ich meine zum Beispiel beim Feedback: man probiert etwas, dann gibt man Feedback und führt eine Diskussion. Und diese Diskussionszeit ist wirklich lang. Überhaupt diese Anordnung in dem Probenraum, dass man einen sehr großen Tisch hat und am Tisch sitzend geben wir Feedback und diskutieren. Das ist etwas, was ich bisher so nie gesehen hatte. Und ich fand das System sehr gut, vor allem, dass wir alle am Tisch im Kreis sitzen und das habe ich sofort danach in meiner Arbeit in Japan auch eingeführt. TK Was zeichnet die Schauspieler*innen hier für dich aus?

TO Hier habe ich erfahren: um sich als Schauspieler*in Gefühlen anzunähern und sie zu verstehen oder hervorzubringen, geht man eigentlich sehr analytisch vor. Nach dem „ja wir probieren das mal“ kommen die Schauspieler*innen zurück an den Tisch und dann kann jede*r ziemlich analytisch, also nicht nur auf der Ebene „Es war gut“ oder „Es war nicht gut“, darstellen und verbalisieren, was sie oder er gerade gemacht oder gezeigt hat. Japanische Schauspieler*innen arbeiten nicht so. In Japan mache ich eher die Erfahrung, wenn man sich Gefühlen annähern will, geht man auch mit Gefühl vor. Aber mir ist ehrlich gesagt nicht so ganz klar, ob das deshalb so ist, weil sie japanische Schauspieler*innen sind oder weil ich ein Japaner bin, der mit japanischen Schauspieler*innen arbeitet und wir darüber schon grundsätzlich etwas teilen, das dann diese Arbeitsweise hervorbringt. TK Die nächste Inszenierung war 2017 „Nō Theater“. Darin konfrontiertest du die Schauspieler*innen und das Publikum mit einer sehr traditionellen Form japanischen Theaters. War das eine bewusste Entscheidung nach den sehr gegenwärtigen Großstadtarbeitswelten von „Hot Pepper“? TO Es gab glaube ich zwei Gründe, warum ich mich für München mit dieser alten traditionellen japanischen Theaterform beschäftigt habe. Es lag nicht daran, dass es eine japanische traditionelle Theaterform war, sondern ich hatte, bevor ich in München mit „Nō Theater“ angefangen habe, einige Erfahrungen gesammelt, durch die ich verstanden habe: es gibt


ICH MUSS AN DAS PUBLIKUM GLAUBEN

eine Verbindung zwischen Theater und Geistern. TK Damals schriebst du im Programmheft: „Der Prozess, in dem ein/e Schauspieler*in auf der Bühne zu einer bestimmten Figur wird, wird durch die Projektion unserer Vorstellungskraft ermöglicht, aber auch das Erscheinen von Geistern geht auf dieselben Mechanismen zurück. Womöglich sind sich die Vorstellungskraft, die im Theater unabdingbar ist und jene, die wir beim Anerkennen der Existenz von Geistern bemühen, tatsächlich sehr ähnlich, ja vielleicht sogar vollkommen identisch.“ TO Und für mich war dann das Nō Theater eine sehr überzeugende Theaterform, weil dort immer Geister die Protagonist*innen sind. Deshalb wollte ich unbedingt einmal diese Form ausprobieren. Außerdem hatte ich genau zu dieser Zeit einen Auftrag von einem Verlag bekommen, einige klassische Nō Stücke in gegenwärtiges Japanisch zu übersetzen. Für mich war es so, als ob das Nō Theater als Form von sich aus auf mich zugekommen war. TK Im Nō Theater gibt es ein besonderes Verhältnis zu Musik und Bewegung, insofern als sie im Verhältnis zur gesprochenen Sprache zumindest gleichberechtigte Ausdrucksformen sind. Die nicht nur der Verstärkung des Gesagten dienen, sondern auch gegenläufige Erzählungen produzieren können. Das ist auch in deinen Inszenierungen oft so. War auch das etwas, das dich zum Nō Theater hingezogen hat?

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TO Ja gerade die Musik. Musik ist im Nō Theater kein „Accessoire“, sondern steht im Vordergrund, auch der Musiker ist ein Hauptdarsteller. Und das hat mir sehr gut gefallen. Im normalen Bühnenverständnis ist Musik oft eher Begleitung aber im Nō Theater ist es viel viel mehr als das, was mich sehr fasziniert hat. Und auch diese Unabhängigkeit der einzelnen Elemente, vor allem von Text und Bewegung ist etwas, das ich sehr mag. Weil ich wirklich daran glaube, dass, was Text vermitteln kann und was Bewegung, etwas ziemlich anderes ist. Für mich sind das eigenständige Tracks, eigenständige Spuren und auf dieser Annahme basiert mein Theater ganz grundsätzlich. Theater besteht aus vielen Elemente wie Sound, Bewegung und so weiter. Die Frage ist, wie man das dann zusammensetzt, auf eine Weise, dass die einzelnen Elemente unabhängig bleiben. Daran bin ich interessiert. TK Dein drittes Stück an den Münchner Kammerspielen, „No Sex“, war aus meiner Perspektive noch einmal ein großer Schritt in Hinblick auf die Form der Zusammenarbeit mit den Schauspieler* innen. „Hot Pepper“ war, wie gesagt, eine Adaption eines in Japan entwickelten Stückes, „Nō Theater“ hatte auch eine strenge vorgegebene Form und bei „No Sex“ floss dann ziemlich viel von den Erfahrungen mit den Schauspieler*innen hier vor Ort ein. Es war ein sehr gemeinschaftlicher Prozess, wie die Diskussionen auch immer wieder in deinen Schreibprozess einflossen, wie die Lieder für die Karaoke-Songs entstanden, wie


ein beständiger Austausch herrschte. Teilst du diese Wahrnehmung? TO Absolut. Dass diese Art der Zusammenarbeit mit Künstler*innen, auch auf der Ebene von Text, möglich war, liegt meines Erachtens daran, dass ich immer weniger Wert auf die Geschlossenheit meiner künstlerischen Handschrift lege, also was die Ästhetik angeht. Für mich sind die Herangehensweise und der Text wichtiger. Bevor ich überhaupt ein Projekt mit euch anfange, habe ich kein konkretes Bild oder einen klaren Plan, sondern ich habe nur eine Herangehensweise, eine Art Methode. Und dann versuche ich in meiner Arbeit jede*n Künstler*in dazu zu bringen, dass jede*r diese Herangehensweise versteht und annimmt, aufsaugt und es sich dann zu eigen macht. Das Ergebnis kann dann ruhig etwas ganz anderes sein als das, was ich mir grob vorgestellt hatte, damit habe ich überhaupt kein Problem. Was Inszenieren als Arbeit angeht: das macht man immer mit anderen Leuten, das macht man nicht allein. Und jede*r kann seine eigenen Ideen, Denkweisen und Erfahrungen in den Prozess einbringen und es ist sehr aufregend und spannend, mit diesen verschiedenen Eigenschaften der Beteiligten zu arbeiten und sie mit einzubeziehen. Das hat nichts damit zu tun, dass das hier eine interkulturelle Zusammenarbeit ist, sondern ich gehe davon aus, dass Theater immer eine kollektive Arbeit ist. Aber hier in München habe ich die Tatsache, dass man im Theater mit vielen verschiedenen Leuten arbeitet, besonders deutlich erfahren können. Weil das so faszinierend war, beschäf-

tige ich mich immer wieder und viel mehr damit, was Theater als Zusammenarbeit mit anderen Leuten bedeutet. TK Ein besonderer Aspekt an „No Sex“ war vielleicht auch das Verhältnis zu Emotionen. War das schon eine Folge der Erfahrungen mit dem westlichen Theatersystem, in dem Gefühle seit Aristoteles das Fundament des Dramas darstellen, dass Emotionen so stark im Zentrum standen? TO Zwar ging es um Emotionen, aber wohl auf eher unkonventionelle Weise. Wenn du also sagst, in der Spielweise des westlichen Theaters ist die Emotion sehr wichtig, dann sind wir in unserer Produktion ziemlich anders damit umgegangen. Natürlich stehen die Emotionen im Zentrum von „No Sex“ aber ich würde sagen, es ging darum wie man diese Emotionen versteht, sich ihnen nähert: in „No Sex“ nur durch kühle Analyse. Auch in Bezug auf Themen wie Triebe und Sexualität. Am Abend der Premiere haben mich viele Leute angesprochen und gesagt, wie toll sie das Stück fanden und einige von ihnen haben auch gesagt, dass es traurig gewesen sei. Das hat mich schon zum Nachdenken gebracht. Vielleicht fanden sie es traurig, dass in dem Stück Emotionen thematisiert, aber auch immer wieder zur Seite geschoben werden. TK Und ist das für dich nicht traurig? TO Dieses Stück als traurig zu empfinden liegt mir eher fern. Für mich ist es mehr eine Beschreibung von unserer Welt. So ist die Gegenwart. Und Leute, die davon


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überzeugt sind, dass die Gegenwart so nicht sein soll, sondern anders, haben das Stück wahrscheinlich als traurig oder sogar verzweifelt empfunden. Wir proben gerade „The Vacuum Cleaner“ und als wir zu Beginn der Proben mit den Schauspieler*innen die ersten Texte gelesen haben, kam von einigen auch diese Beschreibung: traurig. Und da habe ich mich wieder an „No Sex“ erinnert, denn auch diesen Text schreibe ich nicht unbedingt in der Absicht, um zu zeigen: ja, das ist doch eine traurige Situation. Das ist nicht meine Art, einen Text zu schreiben. Und dann habe ich gesagt: „Achso, ach! Dieser Text ist traurig? Achso!“ TK Also schreibst du ohne moralisches Urteilen, sondern im Versuch deine Sicht der Gegenwart einfach festzuhalten? TO Wenn eine Person etwas erzählt, dann ist es für mich nicht wichtig, ob es richtig ist, ob es gut oder ob es traurig ist. Und auf jeden Fall beobachte ich die Realität. Aber das reicht für mich nicht, um einen Text zu schreiben. Ich muss einen emotionalen Berührungspunkt finden. Dann kann ich in diese Realität reingehen und mir vorstellen, was ich in dieser Realität empfinden würde und daraus schreibe ich dann einen Text. Und wenn der Text dann interessant ist, dann ist das für mich das wichtigste Kriterium. Und was Emotion angeht, also wenn du sagst, Emotion steht im Zentrum bei „No Sex“ – für mich persönlich ist in „The Vacuum Cleaner“ viel mehr Emotion. Denn ich interessiere mich, glaube ich, für das Phänomen „Hikikomori“ nicht aus

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gesellschaftlichen Gründen sondern sehr persönlich. Mit persönlich meine ich, dass das nichts ist, worunter die anderen leiden, sondern es hätte auch ich gewesen sein können. Ich hatte nur Glück und aus irgendeinem Zufall musste ich kein Hikikomori werden. Und das spüre ich sehr stark in mir beim Schreiben dieses Textes. TK Du bist bekannt geworden als Porträtist der japanischen Lost Generation, junger Menschen, denen nach dem Platzen der Wirtschaftsblase Mitte der 90er Jahre keine Zukunft zugetraut wurde. In „The Vacuum Cleaner“ sind die Protagonist*innen zum ersten Mal älter geworden. Heißt das, du trittst jetzt in eine neue Phase deines Schaffens ein? TO Ja, das stimmt vielleicht, dass ich mich immer mehr für eine etwas ältere Generation interessiere. Das ist sicherlich auch so, weil ich selbst ein bisschen älter geworden bin. Ich habe in diesem Stück glaube ich zum ersten Mal überhaupt über diese Generation und auch darüber hinaus über Familie geschrieben. Ich habe noch nie über Familie geschrieben. Das ist wirklich ganz ganz neu für mich und somit kann ich auch sagen, dass das Stück auf eine Art in einer neuen Phase für mich liegt. TK Du sagst häufig, dass es dir am wichtigsten im Theater ist, dem Publikum Vorstellungen zu vermitteln. Gleichzeitig schreibst du in deinen Stücken immer über gesellschaftlich problematische Themen. Glaubst du, dass die Vorstellungskraft dazu beitragen kann, etwas zu verändern?


TO Theater wirkt nicht schnell und wann so eine Veränderung vorkommen kann, weiß man nicht. In einem Zuschauer oder einer Zuschauerin könnte sich eine Veränderung ereignen, doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass das nicht passiert. Aber ich glaube schon an die Möglichkeit, dass das passieren kann. Mit Glauben meine ich keinen Wunschglauben, sondern dass das tatsächlich vorkommen kann. Und mein Glauben daran überlappt sich mit meinem anderen Glauben, nämlich dass die Zuschauer*innen die Vorstellungen der Schauspieler*innen empfangen können. TK Das heißt, du glaubst an dein Publikum. TO Ansonsten könnte ich kein Theater machen. Ich muss an das Publikum glauben. Sonst müsste ich mit dem Theater aufhören. Dann wäre es nutzlos, völlig nutzlos. Theater ist eine verrückte und merkwürdige Aktivität. Es ist nicht real. Aber irgendwie hat der Mensch die Weisheit, ich würde es Weisheit nennen, Fiktionen zu schaffen und irgendwie nutzt der Mensch diese Fiktionen. Ich habe früher Fiktionen als gemaltes Irgendetwas nicht so wichtig gefunden und mich nicht so richtig dafür interessiert. Aber nach dem großen Erdbeben von 3/11 und dem daraus resultierenden SuperGAU von Fukushima habe ich endlich verstanden, dass Fiktion als eine alternative Realität sehr sehr wichtig ist. Und daher interessiere ich mich immer mehr für Fiktion und beschäftige mich damit. Fiktionen verwandeln sich je nach Zeit und Ort, je nach

lokalem Kontext immer wieder. Und die Zuschauer*innen oder Leser*innen müssen das für sich interpretieren oder übersetzen. Das ist wie so eine Zip-Datei und jedes Mal, je nachdem wo oder wann man sie entzippt bekommt diese Fiktion immer wieder andere Facetten. Das interessiert mich sehr und das finde ich sehr spannend bei der Fiktion. Darüber hinaus hat Fiktion auch eine Funktion von Verschlüsselung und für viele Künstler*innen in Asien, zu denen ich auch gehöre, ist sie ein sehr effektives Ausdruckswerkzeug, wenn die Freiheit der Kunst durch Zensur und Ähnliches nicht zu hundert Prozent gesichert ist. TK Nach den Erfahrungen der letzten fünf Jahre, in denen du auch regelmäßig an den Kammerspielen gearbeitet hast, was hat sich für dich in dieser Zeit im Verhältnis zum Theater verändert? TO Früher hatte ich ziemlich starke Ambitionen, meine Methodik und meine Ästhetik umzusetzen. Inhaltlich wollte ich, da ich auch, wie du schon gesagt hast, aus der sogenannten Lost Generation stamme, die typischen und sehr schwierigen Themen dieser Generation in den Vordergrund stellen. Ich habe natürlich noch dieses Interesse, aber es hat sich auch erweitert, so dass ich nun auch einige Theaterprojekte in einem ganz anderen Kontext und mit ganz anderen Themen realisiert habe. Zum Beispiel ein Theater für Kinder. Kürzlich habe ich mit einem Autor in Thailand zusammengearbeitet, dessen Roman ich in Zusammenarbeit mit Schauspieler*innen aus Thailand auf die Bühne gebracht habe. Ich habe keine


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Änderungen gemacht an diesem Roman, einfach gestrichen und auf die Bühne gebracht, ohne Kontextualisierung nach Japan. In „The Vacuum Cleaner“ habe ich ziemlich konventionelles Bühnentheater geschrieben und für mich ist sehr interessant, wie wir das auf die Bühne bringen können. Ich beschäftige mich nun häufiger mit Dingen, die außerhalb meines Kontextes liegen, das ist glaube ich die sehr deutliche Veränderung für mich seit drei oder vier Jahren und dieses Neuland für mich noch mehr zu erschließen mit meinen bisherigen Theatererfahrungen und Kenntnissen, das interessiert mich am meisten jetzt.

Das Gespräch fand am 29. November 2019 in den Münchner Kammerspielen auf deutsch, englisch und japanisch statt. Aus dem Japanischen ins Deutsche und umgekehrt übersetzte die Dramaturgin Makiko Yamaguchi.

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DIE

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AUSS EN SE I TER


DIE AUSSENSEITER VON WIELAND WAGNER

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omare, die Fünfzigjährige, die immer noch in ihrem elterlichen Zuhause wohnt, kann sich nicht vorstellen, ihren eigenen Vater umzubringen. Das behauptet sie zumindest. Aber dann sagt sie diesen zutiefst verstörenden Satz: „Umgekehrt vielleicht schon.“ Ihrem betagten Vater also traut sie durchaus zu, sie, die Tochter, zu töten. So entsetzlich diese Vermutung klingt, so realistisch erscheint sie, wenn man sie in Bezug setzt zum japanischen Alltag. Zu einer Gesellschaft, in der mindestens über eine Million Erwachsene noch bei ihren Eltern leben, oft in ihren Kinderzimmern. Viele treiben damit sich selbst und ihre Angehörigen zur Verzweiflung. Manchmal mit schockierenden Folgen: Im Juni 2019 brachte beispielsweise ein pensionierter Vizeminister in Tokio seinen 44jährigen Sohn um; an zehn verschiedenen Körperstellen soll er auf ihn eingestochen haben. Der Sohn hatte seit Jahren zuhause gelebt, die meiste Zeit Computer gespielt und seine Eltern angeblich terrorisiert. Die japanische Sprache hat ein Wort für Kinder, die scheinbar nicht erwachsen werden wollen und sich der Gesellschaft mit ihren Ansprüchen verweigern: „Hikikomori“, nennen sie jene, die sich wortwörtlich in sich selbst „zurückziehen“ und „abkapseln“. Viele der Betroffenen empfinden diese Bezeichnung allerdings als herabsetzend, als Stigma. Denn sie sehen nicht sich selbst als sonderbar an. Viel-

mehr empfinden sie eine Gesellschaft als pathologisch, die ihnen kaum individuelle Entfaltungsmöglichkeiten gewährt, ihnen keine Hoffnung vermittelt und sie letztlich in die Isolation abdrängt. Bereits als Schüler werden erstaunlich viele zu „Hikikomori“. Sie ecken an, weil sie irgendwie anders sind als ihre Umgebung, sensibler oder unbequemer. Irgendwann bleiben sie dem Unterricht fern. Sie fliehen vor den Exzessen eines Erziehungssystems, das traditionell auf Drill und blinden Lerneifer setzt. Sie verweigern sich einer Gruppenkultur, die zwar Anpassung mit dem Gefühl kollektiver Geborgenheit belohnt, gleichzeitig aber Abweichlertum durch grausames Mobbing ahndet. Oft beteiligen sich nicht nur Mitschüler daran, sondern gar Lehrer. „Ein herausstehender Nagel gehört eingeschlagen,“ lautet ein heimisches Sprichwort, das die Lebenserfahrung vieler Menschen treffend beschreibt. Auf den ersten Blick könnte man die „Hikikomori“ als rein japanisches Phänomen abtun. Als weitere exotische Facette einer aus westlicher Sicht ohnehin exotischen Inselnation. Doch der oberflächliche Eindruck trügt: Tatsächlich handelt es sich um Symptome einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Anpassungskrise, die längst auch Deutschland und andere westliche Länder erfasst hat. Allerdings mit einem Unterschied: Japan eilt uns um Jahre voraus, es ist gleichsam das Experimentierlabor, in dem der strukturelle Wandel erprobt und erlitten wird, der auch den hiesigen Alltag allmählich umzuwälzen droht.


DIE AUSSENSEITER

Japan altert so rasant wie kaum ein anderes führendes Industrieland. Schätzungen zufolge könnte das 125-Millionen-Volk bis 2060 um über ein Drittel schrumpfen, rund ein Viertel der japanischen Bevölkerung wäre dann über 65 Jahre alt. Gleichzeitig kommen immer weniger Kinder zur Welt. Allein 2018 verlor die Nation statistisch gerechnet 433.239 Menschen, soviel wie in einer mittleren deutschen Großstadt leben. Weit über sechs Millionen Menschen sind auf Pflege angewiesen. Pro Jahr wendet die Nation dafür rund 10,5 Billionen Yen (etwa 81 Milliarden Euro) auf. Bis 2025 dürften sich diese Ausgaben etwa verdoppeln, schätzt die Regierung. Denn dann wird die Generation der Babyboomer 75 werden, im ganzen Land dürften rund 380.000 Pflegekräfte fehlen. Die Folgen der Vergreisung belastet zunehmend den Staatshaushalt. Dabei hat Japan sich bereits mit mehr als dem Doppelten seiner gesamten Wirtschaftskraft verschuldet, so hoch wie kein anderes führendes Industrieland. An den Abschied von ihrem einstigen Erfolgsmodell muss sich die Nation erst noch gewöhnen. Seit der Öffnung des Landes im 19. Jahrhundert galt die Aufholjagd mit dem Westen gleichsam als Staatsräson. Nippons Gründungsväter eiferten vor allem auch dem autoritären Vorbild des obrigkeitsstaatlichen Preußen nach. Es entwickelte sich eine Art Wahlverwandtschaft der beiden industriellen Nachzügler. Im Zweiten Weltkrieg focht das japanische Kaiserreich im Bündnis mit Nazi-Deutschland gegen die demokratischen angelsächsischen Alliierten. Nach dem Krieg kämpften beide Verlie-

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rernationen dann jeder für sich um Wachstum und Wohlstand. Diesmal indes nicht mehr militärisch, sondern mit Export-Offensiven. Noch in den 1980er Jahren wurde Asiens damalige Nummer Eins vom Westen ähnlich bewundert und gefürchtet wie das heutige China. Doch Anfang der Neunziger platzte die sogenannte Japan-Blase, der spekulative Boom an den Aktien- und Immobilienmärkten. Viele der heutigen „Hikikomori“ fanden in den Folgejahren keine Jobs. Seither ringt Japan mit einer Art Dauerkrise. Das wirtschaftliche Wachstum lässt sich oft nur noch künstlich erzeugen: Im Zuge einer extrem lockeren Geldpolitik pumpt die Notenbank in Tokio Milliarden in den ermattenden Wirtschaftskreislauf, ähnlich verzweifelt wie dies längst auch die Europäische Zentralbank in Frankfurt praktiziert. Mit Prestigeprojekten, wie den anstehenden Olympischen Sommerspielen von Tokio 2020, versucht die Regierung, einen Bauboom zu erzeugen und die Menschen in Konsumlaune zu bringen. Langfristig aber muss Japan sich neu erfinden. Es muss Überlebens-Strategien entwickeln für eine Gesellschaft, die immer älter wird und kaum noch wächst. Das ist leichter gesagt als getan, zumal der demografische Wandel existentielle Ängste verstärkt, auch bei Eltern vieler „Hikikomori“. Denn auch die „Hikikomori“ werden älter und älter, wie auch ihre Mütter und Väter. Soziologen, Psychologen und Politiker warnen vor dem „8050-Problem“. Gemeint ist eine Gesellschaft, in der über 80jährige Eltern ihre


oft knappen Altersbezüge mit ihren 50jährigen, unverheirateten Kindern teilen müssen. Zum Glück, könnte man sagen, erfreut sich die japanische Bevölkerung mit der höchsten Lebenserwartung. Heimische Arbeitsmediziner plädieren bereits dafür, die Grenze, ab der Menschen als „alt“ definiert werden, von 65 auf 75 Jahre heraufzusetzen. Dabei handelt es sich jedoch um eine akademische Debatte. Denn in der Realität des Arbeitsmarktes gilt die Altersgrenze oft längst nicht mehr. Knapp 40 Prozent der 70jährigen arbeiten bereits, fand die Wirtschaftszeitung „Nihon Keizai“ heraus. Senioren bleibt oft keine andere Wahl, um ihre bescheidenen Altersbezüge aufzubessern. Nur: Wer soll für die „Hikikomori“ sorgen, wenn ihre greisen Eltern eines Tages sterben? Im November 2018 schockierte der Fall eines Fünfzigjährigen die Nation. Er hatte sich über vierzig Jahre in der Wohnung seiner Mutter in Yokohama abgekapselt. Als seine Mutter, sie war 76, auf natürliche Weise starb, lebte der Sohn weiter in dem Apartment – bis seine Schwester zwei Wochen später zufällig dort hineinguckte und die Leiche der Mutter entdeckte. Nach all den Jahren der Isolation waren die Fähigkeiten des Sohnes, mit der Außenwelt zu kommunizieren, extrem reduziert. Zwar hatte er versucht, die Schwester telefonisch zu benachrichtigen, wie die Polizei später feststellte, aber er hatte es dann nicht hingekriegt. Zugegeben, der Fall scheint extrem. Gleichwohl spiegelt er auf dramatische

Weise den realen Trend der Vereinsamung wider. Schon jetzt sterben jährlich rund 30.000 Menschen völlig allein, oft werden sie erst Wochen später in ihren Wohnungen aufgefunden. Und selbstverständlich besitzt auch nicht jeder „Hikikomori“ alte Eltern, bei denen er oder sie wohnen kann. Immer mehr leben allein. Mehr als ein Drittel der 35bis 39jährigen Männer sind nicht verheiratet. Viele hatten noch nie in ihrem Leben Sex. Es ist eine Entwicklung, die westliche Medien bisweilen sensationshungrig aufgreifen. Japans Singles, ob Mann oder Frau, bleibt allerdings oft keine andere Wahl. Sie verdienen nicht genug, um Beziehungen einzugehen und Familien zu gründen. Jobs sind oft schlecht bezahlt. Die Zeiten, als Firmen ihren Beschäftigten lebenslange Arbeitsgarantien und automatische Beförderung boten, sind meist vorbei. In dieser Stimmungslage, in der allenthalben der Stress wächst, fehlt vielen in Japan das Verständnis für die „Hikikomori“ und ihre Familien. Eltern, die so ein erwachsenes, unverheiratetes Kind gleichsam bei sich zu Hause durchfüttern, können bei Nachbarn und Verwandten kaum auf Zuspruch rechnen. Aus tiefer Scham verheimlichen viele ihre Situation. Sie sorgen sich um „Sekentei“, ihr Ansehen in der Gesellschaft, ohne das sie sich oft nackt und schutzlos fühlen. Von klein auf werden sie dazu erzogen, der Gesellschaft keine „Unannehmlichkeiten“ zu bereiten und den Schein der Konvention zu wahren.


DIE AUSSENSEITER

Und so kann schon mal ein Teufelskreis in Gang geraten: Statt sich professionelle Hilfe zu suchen, bleiben Eltern oft allein mit ihrer Überforderung. Sie vereinsamen dann fast so extrem wie ihre Kinder, mit denen sie unter einem Dach leben. Von ihrem inneren Leid lassen sich viele Menschen oft wenig anmerken. Sie kommunizieren weniger mit Worten, sondern oft eher mit dem, was nur angedeutet oder gar unausgesprochen bleibt. Das Land ist vom Konfuzianismus geprägt. Diese Gesellschaftsphilosophie stammt ursprünglich aus China, sie regelt die hierarchischen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, älteren und jüngern Geschwistern, Vorgesetzten und Untergebenen. Im Laufe der Geschichte hat Japan eine eigene Version des Konfuzianismus entwickelt: eine Art Familienideologie, maßgeschneidert für ein bergiges, enges Land und für die Aufholjagd mit dem Westen. In den ersten Jahrzehnten nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg glich Japan einer einzigen Firma. Ähnlich wie später Südkorea und China stellte es vor allem billige Massenprodukte her, wie Textilien, Autos, Fernseher und Computer. Damals ergab es durchaus industriepolitischen Sinn, die Jugend zu loyalen Angestellten und willigen Konsumenten zu erziehen. Die Firmen wurden für viele zu einer Art Familienersatz. Und auch bei den häufigen Naturkastrophen – Erdbeben, Tsunamis, Taifunen – beeindrucken Betroffene die übrige Welt immer wieder mit schier unendlicher Duldsamkeit. Japan hat eine der niedrigsten Kriminalitätsraten weltweit; selbst in Großstädten lebt es sich erstaunlich sicher, Vandalis-

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mus gegen öffentliches Eigentum findet kaum statt. Als Mittel gegen die Perspektivlosigkeit propagieren nationalistische Politiker die Vaterlandsliebe. Im Frühjahr 2018 wertete die Regierung in Tokio die Moralerziehung als Unterrichtsfach auf. Der Regierungschef – er heißt Shinzo Abe – möchte Japan wieder zu einem „schönen Land“ machen, wie er sein wichtigstes Buch betitelt hat. Das Japan, von dem er träumt, gab es in der Vergangenheit, die er mythisch verklärt. Also damals, bevor Japan den Zweiten Weltkrieg verlor und von den amerikanischen Siegern besetzt und zur Demokratisierung gezwungen wurde. Tiefgreifende Reformen aber, die wehtun und unbequeme Debatten erfordern, erspart Abe sich und den Landsleuten. Wohl auch deshalb hält er sich schon solange im Amt, wie kein japanischer Regierungschef vor ihm. Doch jenseits der ritualisierten Politik, ja im leisen Widerstand dazu, suchen viele Menschen nach ihrer eigenen, alternativen Form von Japanisch-sein. Eine bedeutsame Rolle dabei spielen oft ausgerechnet jene, denen die Allgemeinheit so wenig zutraut: die „Hikikomori“. In Chiba, einer Nachbar-Präfektur von Tokio, gibt es beispielsweise „Nemo“, eine sogenannte Freie Schule, sie ist privat und hat mit staatlichen Paukanstalten wenig gemein: In einem umgewidmeten Zwei-ZimmerApartment treffen sich Kinder und Jugendliche, die dem normalen Schulalltag fernbleiben, weil sie ihn nicht länger ertragen konnten. Sie spielen Computerspiele, vergnügen sich mit ihren Smart-


phones oder unterhalten sich einfach nur miteinander. Letztlich entscheiden sie selbst, wie sie ihren Tag verbringen wollen, ob allein oder miteinander. Hier gibt es weder eine Hackordnung noch das übliche Mobbing. Der Schulleiter, Umi Maekita, hilft den jungen Menschen unaufdringlich dabei, sich auf jeweils eigene Weise zu entfalten. Er ist für sie Freund und Vorbild zugleich: Denn ihm erging es einst wie ihnen, auch er war ein Schulverweigerer. Mit „Nemo“ bietet er nun eine Zuflucht für alle, die sich in normalen Schulen eingeengt und bedrängt fühlen. Und er bietet eine Alternative zu den Kinderzimmern, in die sich viele sonst vielleicht verkriechen würden. Ein kollektiver Abstieg, wie ihn Japan erlebt, birgt somit auch Chancen, dass etwas neu und anders wird. Wer danach sucht, findet auch sonst Anzeichen der Hoffnung; dazu gehört auch eine NGO names Peace Boat. Sie organisiert Kreuzfahrtreisen um den Globus, um die Landsleute für die Sicherung des Weltfriedens zu gewinnen. Zu den erfolgeichen Aktionen der NGO gehört ein Programm, das sich gerade auch an „Hikikomori“ wendet, sie aus ihrer gesellschaftlichen Ecke befreit und mitnimmt in andere Kulturen. Die langjährige Managerin dieses Programms, Natsue Onda, blieb als Jugendliche selbst der Schule fern und kapselte sich zu Hause ab. Bisweilen dachte sie gar daran sich umzubringen. Doch am Ende ihres Leidens fand sie zu sich selbst. Nun sorgt sie dafür, dass die „Hikikomori“, über die soviel geschrieben und behauptet wird, sich zunehmend selbst öffentlich zu Wort melden.

Und am Ende könnten die Außenseiter sich gar als Retter erweisen – für Japan und für die übrige Menschheit. Wie die junge Schwedin, die mit ihrem Klimastreik die Welt aufzurütteln versucht. Ähnlich könnten auch die „Hikikomori“ den eigenen Landsleuten dabei helfen, aus dem kollektiven Alltagstrott aufzuwachen und endlich wieder zu sich selbst zu finden. Gerade weil die „Hikikomori“ so unangepasst sind und weil sie so empfindlich reagieren auf pathologische Entwicklungen einer Gesellschaft, die in ihrer Mehrheit oft abgestumpft ist.

Wieland Wagner berichtete lange als SPIEGEL-Korrespondent aus Asien. Er promovierte über japanische Geschichte. Der vorliegende Text orientiert sich an seinem Buch „Japan. Abstieg in Würde. Wie ein alterndes Land um seine Zukunft ringt“. Random House, 20 €


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TOSHIKI OKADA

BIOGRAFIE

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oshiki Okada, geboren 1973 in Yokohama, ist Regisseur und Autor und bezeichnet sich selbst einfach als Theatermacher. Er gründete 1997 die Theatergruppe chelfitsch. In seinen Arbeiten beschäftigen ihn kulturelle Umbrüche und ihre gesellschaftlichen Auswirkungen, insbesondere in einem von Konsum und ökonomischen Zwängen geprägten Japan. Mit seiner chelfitsch company wurde er für seine Produktionen mit mehreren Preisen ausgezeichnet, u. a. für „Five Days in March“ (2005) mit dem renommierten 49th Kishida Drama Award. Mit „Air Conditioner“ (2005) erfuhr er beim Toyota Choreography Award große Aufmerksamkeit. Von 2006 bis 2007 arbeitete er als Leiter für „Summit“, ein jährliches Theaterfestival, das vom Komaba Agora Theater in Tokio ausgerichtet wird. Die Produktionen der chelfitsch company, „Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech“ (2009), „Current Location“ (2012) und „Ground and Floor“ (2013), „Super Premium Soft Double Vanilla Rich“ (2014), „Times Journey through a Room“ (2016), „Eraser Mountain“ (2019) sind regelmäßig in Europa zu sehen. Okada präsentiert seine Arbeiten zudem in zahlreichen Kunstzentren und Museen und inszenierte in Thailand die Romanadaption „Pratthana – A Portrait of Possession“ von Uthis Haemamool. Als Autor schreibt er nicht nur die Texte seiner eigenen Inszenierungen, sondern auch Prosa. Sein Erzählband „The End of the Special Time We Were Allowed“ wurde 2007 herausgegeben, gewann den „Kenzaburo Oe Preis“ und wurde 2012 unter dem Titel „Die Zeit, die uns bleibt“ auch ins Deutsche übersetzt.

Seit der Spielzeit 2015/16 inszeniert Toshiki Okada regelmäßig an den Münchner Kammerspielen. Er adaptierte mit dem Ensemble seine Trilogie „Hot Pepper, Air Conditioner and the Farewell Speech“ und erarbeitete neu die Inszenierungen „Nō Theater“ und „No Sex“.



IMPRESSUM HERAUSGEBER Münchner Kammerspiele Spielzeit 2019/20 Intendant: Matthias Lilienthal Geschäftsführender Direktor: Oliver Beckmann REDAKTION Tarun Kade TEXT Alle Texte sind Originalbeiträge für dieses Programmheft. Danke: Leonie von Mariassy für die Transkription des Gesprächs mit Toshiki Okada. FOTOS Julian Baumann S. 8/9: Damien Rebgetz, Thomas Hauser, Annette Paulmann, Walter Hess, Julia Windischbauer S. 18: Walter Hess S. 19: Julia Windischbauer S. 21: Damien Rebgetz S. 22/23: Julia Windischbauer S. 24: Annette Paulmann S. 25: Thomas Hauser

Unser Partner hinter den Kulissen: WALA Heilmittel GmbH mit den Marken Dr. Hauschka und WALA Arzneimittel.

S. 26: Annette Paulmann S. 27: Thomas Hauser S. 28: Walter Hess S. 29: Damien Rebgetz S. 39: Toshiki Okada GESTALTUNG Double Standards, Berlin und Annika Reiter, Münchner Kammerspiele DRUCK Gotteswinter und Aumaier GmbH




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