“Heißes Pflaster” | August 2013 | Ausgabe 4

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Ausgabe 04 // August 2013


Medienschmiede 2013 Sommerredaktion II


Liebe Leserinnen, liebe Leser, in der vorletzten Sommerferienwoche haben Jugendjournalisten fleißig als Schreiber, Fotografen oder Layouter gearbeitet. Die Redakteure brachten interessante Themenvorschläge mit. Aber wir hatten so viele eigene Ideen, dass es fast schwer fiel, uns für nur fünf davon zu entscheiden. Eine Psychologin und eine Trainerin erklärten uns, was Pferde bei einer Reittherapie bewirken. Durch Interviews mit Schülern, Eltern, einer Psychologin und einem Pressesprecher des Sächsischen Staatsministeriums für Kultus ist ein aufschlussreicher Artikel über Stress in der Schule entstanden. Unsere Leser erfahren, was schwarz gekleidete junge Menschen bewegt, die sich Goths nennen. Eine Fitnesstrainerin ließ uns bei einem Zumba Kurs dabei sein. Und im Jugendclub SPIKE trafen wir einen Graffitikünstler, der nicht nur Wände besprüht. Wir haben Einblicke in die Arbeit einer Redaktion erhalten, und Nützliches gelernt, das uns im Unterricht helfen kann. Mit Hilfe von Viola Zetzsche, Autorin und Wissenschaftsjournalistin, Fara Phoebe Zetzsche, Fotojournalistin, und Lisa Dres, Mediengestalterin und Medienpädagogin, haben 15 Jugendliche im Alter von 13 bis 17 Jahren gemeinsam die zweite Sommerausgabe des Jugendmagazins Heißes Pflaster produziert.

Viel Spaß beim Lesen wünschen

Celina Miosga, Xenia Neumann und die ganze Redaktion


Grußwort...................................

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Gesund durchs Reiten....................

Wie können Pferde zur Heilung von Krankheiten beitragen? Wir sprachen mit einer Sozialpädagogin und einer Reittherapeutin über ihre Erfahrungen.

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Das Zeichen........................................

Immer häufiger leiden schon Kinder und Jugendliche unter Leistungsdruck. Wir wollen wissen, wie sie ihre Situation beschreiben und was Eltern, Psychologen und die Politik zum Bildungssystem in Deutschland sagen.

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Trendsportart per Zufall..........

Fit durch Tanzen. Wir berichten über eine interessante Sportart, die durch einen Zufall entstanden ist und die Welt eroberte.


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Schwarz als Lebensmotto..................

Schwarz ist keine Farbe, sondern eine Einstellung. Der Beitrag vermittelt Wissenswertes zur GothicKultur und beschreibt, was Menschen bewegt, die sich zugehörig fühlen.

Eine Welt voll Farbe...........................

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Graffitikünstler - ein kreativer, moderner Beruf mit manchmal auch gefährlichen Aufträgen wurde uns von einem echten Profi beschrieben.

Redaktionsteam............................

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Impressum......................................

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Gesund durchs Reiten Wie kann man mit Hilfe von Pferden geheilt werden? Text: Xenia Neumann // Foto: Julia Adam und Emily Boerl Emily reitet gern. Und sie liebt Pferde. Sie hat mir erzählt, dass diese großartigen Tiere auch heilen können. Welche Rolle können Pferde spielen, wenn es um die Genesung von Menschen geht, die an Krebs erkranken? Rund 500 000 Menschen in Deutschland sind jährlich davon betroffen. Um Antworten zu finden, frage ich beim Sonnenstrahl e. V. Dresden nach, dem Förderkreis für krebskranke Kinder, Jugendliche und deren Familien. Der Verein betreut zur Zeit etwa 150 Familien. Einigen wird neben anderen Heilanwendungen die Reittherapie empfohlen.

Die Krebserkrankung eines Kindes ist immer eine extreme Belastung für die ganze Familie. Deshalb hilft dieser Verein, sowohl Ängste vor einer Wiedererkrankung zu bewältigen, als auch Schwierigkeiten beim Übergang in den Alltag zu meistern. Für die Betroffenen und deren Familien gibt es vielfältige Angebote: AktivCamps, Elterngruppen, Geschwisterbetreuung, Jugendgruppen, Kunsttherapie, Musiktherapie und Wohnungen für Eltern, die ihren Kindern während und nach einer Operation nahe sein wollen. Eine kleine, aber wirksame Geste ist das Verschenken von Mutperlen. Außerdem organisiert der Sonnenstrahl e. V. Sportprojekte und empfiehlt seit 2000 auch die Reittherapie. Die Sozialpädagogin Corinna Neidhard vom Son-


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nenstrahl e.V. berichtet mir: „In einem Jahr nimmt die Kinderonkologische Station des Gustav-CarusKlinikums in Dresden etwa 50 Kinder auf. Sie durchlaufen die Therapie und werden darüber hinaus von uns betreut.“ Corinna Neidhard empfiehlt die Reittherapie, weil gerade Kinder nach der heftigen Krebstherapie oft motorische Einschränkungen, Behinderungen oder ein gestörtes Körperbewusstsein haben. „Sie trauen sich wenig zu und haben oft mit Ängsten und Selbstbewusstseinsproblemen zu tun.“ Die Reittherapie soll motorische Fähigkeiten verbessern und emotional-kognitive Fähigkeiten fördern. Auf dem Rücken eines Lieblingspferdes üben Betroffene Fein- und Grobmotorik, Geschicklichkeit, verbessern Haltungsschäden und trainieren das Gleichgewicht. Die erlangte Bewegungsfreiheit auf dem Rücken eines Pferdes hilft ihnen ihre Sicherheit neu zu erproben. Außerdem werden beim Reiten die Konzentrationsund Reaktionsfähigkeit gesteigert und Ängste verarbeitet. Corinna Neidhard zählt weitere emotional-kognitive Fähigkeiten auf, die durch das Training mit Pferden verbessert werden: „Stärkung des Selbstwertgefühls, Stärkung des Körperbewusstseins und des Vertrauens in die eigene Leistungsfähigkeit, Erhöhung der Frustrationstoleranz und Förderung der Sprachentwicklung.“ Wenn die Kinder dann von der Reittherapie zurückkommen, ist eine Veränderung auch für Corinna Neidhard deutlich spürbar: „Die Kinder finden wieder Vertrauen in ihren Körper, trauen sich wesentlich mehr zu und bauen Ängste ab. Ich bin jedes Mal beeindruckt wie Kinder und Jugendliche durch die Reittherapie viel mehr Zutrauen in eigene Stärken entwickeln.“ Doch Reiten ist nicht für alle Patienten passend. Es gibt

auch solche, die vor Pferden Angst haben. Meistens finden sie das während der Reha im Vorfeld heraus. Die Ärzte der ambulanten Nachbetreuung im Krankenhaus schätzen die Notwendigkeit ein und verordnen, wo passend, die Reittherapie. Beim Sonnenstrahl e. V. wird sie komplett aus Spenden finanziert. Um Näheres über die Pferdetherapie zu erfahren, macht sich mein Team auf den Weg nach Dresden Wachwitz. Unser Auto holpert in den engen Körnerweg, vorbei an einer hohen Sandsteinmauer, Höfen und Wiesen. Am Tor vom „Pferdehof am Blauen Wunder“ treffen


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Der jüngste Patient, der an einer Reittherapie teilnahm, war drei Jahre alt. Die Älteste ist taubstumm und über 40. Dazwischen sind alle Altersgruppen vertreten. Die Kinder und Jugendlichen kommen einmal pro Woche.

wir die Reittherapeutin Sabine Schmidt vom Verein für integratives und behindertengerechtes Reiten. Sie steht in Reiterhosen und Lederstiefeln vor uns. Die Hand, die sie mir lächelnd reicht, verrät, dass sie die Pferde selbst füttert und pflegt. Wir sprechen über Behinderungen, Therapiepferde und ihre Arbeit auf dem Hof. Im Pferdehof am Blauen Wunder stehen 13 Tiere im Stall. Seit 1991 können hierher Kinder und Erwachsene mit allen Behinderungen kommen; Menschen mit geistigen oder körperlichen Einschränkungen, mit Beinamputationen oder Taubstumme.

Wir sitzen an einem verwitterten Holztisch. Sabine Schmidt ist schon als Kind geritten. Mit zwölf Jahren begann sie damit. Inzwischen reitet sie schon seit 48 Jahren. Es gibt unterschiedliche Ausbildungsmöglichkeiten. Sie machte eine Ausbildung zur Reitpädagogin und Reittherapeutin in der Schweiz. Sie erklärt uns ihre Arbeit. Durch die Reittherapie soll ein verbessertes Lebensgefühl für die Menschen mit Handicap erreicht werden. Außerdem können sie das Bewegungsgefühl und die Koordination verbessern. Durch den Umgang mit den Pferden entwickeln sie mehr Lebensfreude. „Es macht sie glücklich, wenn sie auch mit putzen, je nachdem wie es ihre Möglichkeiten erlauben.“ Es sind mehrere Stunden, vielleicht auch Wochen oder Monate nötig, um erste Therapieerfolge zu erreichen. Das kommt auch auf das Handicap an.


Pferdetherapie | 07

Die Reittherapie macht Sabine Schmidt alleine, aber manchmal helfen ältere Reiterinnen mit. Die Reittherapeutin erzählt uns von Lars, der durch die Lage im Bauch der Mutter einen nicht so geraden Rücken wie sein Zwillingsbruder hatte. Er konnte seine Bewegungen nicht gut koordinieren und hatte eine Sprachstörung. „Mit sechs Jahren fing er zu reiten an“, erzählt Sabine Schmidt lächelnd, „jetzt ist er ein Junge wie jeder andere.“ Durchs Reiten wurden sein Körpergefühl und die ganze Koordination verbessert. Sein Rücken ist kräftig geworden und die Muskulatur wurde gestärkt. Einige Kinder stehen vor den Pferdeboxen und betrachten die Tiere. Mich interessiert, wie die Reittherapie abläuft. Unsere Fotografin Emily darf dafür auf Antonia, einem weiß schimmernden Apfelschimmel reiten. Für die Therapie werden auch Vollblüter und Haflinger genutzt. Zuerst muss Antonia „reitfertig“ gemacht werden. Wir gehen zusammen zum Reitplatz. Alle anderen Pferde und eine Katze folgen uns.

Sabine Schmidt erklärt: „Die Reittherapie beginnt mit der Einstimmung auf das Pferd, das sich auch auf den Menschen einstimmen muss.“ Das funktioniert über Kontaktaufnahme, zum Beispiel beim Putzen. Über eine Rampe steigen die Kinder aufs Pferd, auf dem sie dann eine halbe Stunde sitzen. Meist im Schritt, bei fortgeschrittenen Reitern schon im Trab oder im Galopp, werden verschiedene Übungen zur Lockerung der Muskulatur und Verbesserung der Beweglichkeit ausgeführt. Emily schwingt sich auf das Reit-Pad, eine Decke, und probiert verschiedene Übungen: Arme kreisen, rechte Hand an linken Fuß, Ballspiele, Pferd umarmen, Bauchlage und rückwärts Reiten. Sabine Schmidt sieht zu Emily. „Das Pferd merkt, dass sie reiten kann.“ An der Longe beginnt es zu traben. Die Reittherapeutin erzählt uns von einem Mann mit Down Syndrom, der schon 23 Jahre reitet und alle zwei Jahre an den Sommerspielen der Special Olympics Deutschland für Menschen mit geistiger Behinderung teilnimmt. „Er ist immer sehr stolz, wenn er mit einer Medaille zurückkommt.“ Sabine Schmidt berichtet uns, was den Kindern am meisten Spaß macht: „Aufs Pferd legen, bäuchlings übers Pferd hängen, Ballspiele auf dem Pferd. Alles, was Emily gerade vorgeführt hat, machen die Kinder gern.“ Ein Therapiepferd muss Nervenstärke und Menschenliebe besitzen. Aber es muss auch sensibel und körperlich gesund sein. Wie lange ein Pferd Therapiepferd ist, entscheidet es selbst. Pferde zeigen sehr deutlich, wenn sie nicht mehr wollen. Als Emily absteigt, ist uns allen bewusst, wie schön das Zusammensein mit Pferden für die Kinder mit Handicap sein muss. Wir sind uns einig: Eigentlich müsste die Reittherapie von der Krankenkasse bezahlt werden!


Das Zeichen

Text: Celina Miosga // Foto: Robert Wächtler // Layout: Philipp Rahn Das Schlimmste ist, nichts zu fühlen. Dieses leere, zerreißende Gefühl. Man will weinen, kann nicht. Man will lachen, kann nicht. Man will schreien, kann nicht. Man sitzt einfach nur da, in Schmerz und Lustlosigkeit. Vor mir sitzt Magdalena – aufrecht und ruhig. Sie wirkt gefasst. Gerade geht es ihr gut. Doch sie hat Angst, dass dieses Gefühl wiederkommt. Erwachsene nennen es Burnout. Das Wort kommt aus den USA. Es bedeutet „ausbrennen“ und bezeichnet einen Krankheitszustand. Der Name ist aus Beschreibungen Betroffener entstanden. Wie Magdalena fühlen sie sich körperlich, emotional und geistig vollkommen erschöpft. Ihre Leistungsfähigkeit fällt rapide. Der Grund sind Überarbeitung und zu hoher Leistungsstress. Danach wird das Burnout-Syndrom

auch als Stresssyndrom bezeichnet. Erstmals tauchte der Begriff in den 1970ern auf. Damals galt es als typische Managerkrankheit. Doch längst ist das Burnout-Syndrom nicht mehr nur eine Krankheit der Vorstandsetagen. In Deutschland leiden selbst Kinder und Jugendliche darunter. Und die Patienten werden immer jünger.


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Krank wurde Magdalena mit 13 Jahren, als sie in die siebte Klasse kam. Bemerkt hat sie es erst mit fast 15. Sie schämte sich für die Symptome. Sie sieht aus dem Fenster. Magdalena hat es inzwischen überstanden und wirkt gelassen. Aber die Erinnerung sitzt noch immer tief: „Die Zeit fliegt nur so vorbei – Tag für Tag, Stunde für Stunde, Minute für Minute. Auf einmal ist es Abend und dann wieder Morgen und man fühlt nichts, einfach nichts. Lustlos, gefangen im eigenen Körper mit gefesselten Gefühlen“, sagt sie und atmet tief. „Jetzt weiß ich, dass es ein Zeichen war.“ Genau dieses Zeichen wird oft ignoriert. Müdigkeit, Leistungsabfall und Gereiztheit werden von Lehrern und Eltern als Nebenwirkungen der Pubertät abgetan. Dabei sind sie erste deutliche Signale einer Überforderung. Betroffene wie Magdalena schämen sich, nicht mehr alles geben zu können. Das Burnout-Syndrom schleicht sich über Monate an. Nach Depressionen, Schlafstörungen, Müdigkeit und mangelndem Interesse folgt letztlich der Nervenzusammenbruch. Auch bei Magdalena. Ihr fehlten die Kraft und der Wille weiterzuleben. Dabei fängt alles oft mit Idealismus und Begeisterung an. Doch niemand funktioniert dauerhaft.

Leider wird heute eine gleichbleibend roboterhafte Bestleistung vorausgesetzt. Mich interessiert, warum die Betroffenen immer jünger werden. Was macht heute selbst Kinder depressiv? Hans-Jürgen Tölle vom Zentralen Schulpsychologischen Dienst der Stadt München erklärte schon 2010 gegenüber der Süddeutschen Zeitung: „Die trostlose Zukunftsperspektive, die drohende Arbeitslosigkeit, das Fehlen von Bindungsstrukturen und die allgemeine Sprachlosigkeit in den Familien – da stellt sich bei den Kindern oft das Gefühl ein, nicht gewünscht zu sein (…) Unser Schulsystem ist nicht fördernd. Die frühe Selektion und zu hören, dass man nichts kann und nichts taugt, führen zu einem verminderten Selbstwertgefühl. Die Kinder erfahren, dass sie ohnehin keinen Einfluss auf ihr Leben haben. Das sind eigentlich alles strukturelle Probleme, aber die haben Auswirkungen bis ins alltägliche Detail.“ Die Diplom-Psychologin Sina Wanderer von der Kinder- und Jugend-Psychiatrie des Gustav-CarusKlinikums in Dresden erklärt mir: „Der Schule bzw. der schulischen Ausbildung wird generell eine immer größere Bedeutung für den späteren Lebensweg zugeschrieben. Zunehmend mehr Eltern, Jugendliche und Kinder setzen sich dadurch unter Druck.“


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Der Anspruch, das Gymnasium zu schaffen, wird zum Muss. Davon sind viele Teenager schlichtweg überfordert. Magdalena schaut mich eindringlich an: „Hauptsache schnell, viel und kurz. Viele und gute Noten, schnelles Lernen in kurzer Zeit.“ Sie sieht die Ursache für ihren Burnout auch in der Schule. „Klar leben wir in einer Gesellschaft, in der durch Medien und Modernisierung alles hektischer, lauter und stressiger wird. Aber wir sind Menschen und keine Maschinen. Wenn ich einen Test schreibe und eine Woche später wiederbekomme, weiß ich nicht mehr, was ich geschrieben habe. Ist das der Sinn der Sache?“ Lernbulimie ist ein trauriges Phänomen, das an die Stelle nachhaltigen Lernens getreten ist.

Lernen wir, um zu leben, oder leben wir, um zu lernen? Ich möchte wissen, ob es wirklich so ist, wie Magdalena beschreibt, und mache eine Umfrage unter Schülern. Die 16-jährige Gymnasiastin Lilly P. glaubt, die Schwerpunkte sind falsch gesetzt. Sie zitiert einen Freund der Familie: „Scheiße, wie ich eine Steuererklärung mache, habe ich in der Schule nicht gelernt. Aber, hey! Ich kann das Volumen der Sonne berechnen.“

Umso länger ich über das Schulsystem nachdenke, desto mehr Lücken fallen mir auf. Mit einer Statistik zur Anzahl stationärer Behandlungen von Jugendlichen aufgrund psychischer Erkrankungen und Verhaltensstörungen in Deutschland, belegt das Statistische Bundesamt: Zwischen 2000 und 2011 ist die Zahl Betroffener von 49 517 um nahezu 50 Prozent auf 75 656 angestiegen. Noch dramatischer ist der Anstieg von Behandlungsfällen wegen akuter Alkoholvergiftung. Ich befrage die Nachhilfelehrerin Ulrike S. aus Dresden. Ihre Hände gehen mit ihren Worten mit. „Die Schüler heute sind nicht dumm. Lernstoff muss ihnen nur richtig vermittelt werden. Dazu brauchen wir kleinere Klassen und mehr Lehrer.“ Auch die frühe Selektion findet sie nicht gut. „Erst in der 8. Klasse weiß man, was man will: ob weiter machen und womit.“ Modernisierung findet sie nicht schlimm. „Aber wir müssten die Medien sinnvoller nutzen.“ … Und nicht unterm Tisch damit Pacman spielen, denke ich.

Zeit für Neues? In meine Befragung waren nicht nur Schüler einbezogen. Eine Mutter schreibt mir: „Manchmal muss ein ganzes Wochenende un-


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Die Psychologin Sina Wanderer meint: „Es gibt leider kein Bildungssystem, das für jedes Kind passend ist. Jedes Kind hat seine individuellen Fähigkeiten, Stärken und Schwächen, denen man nicht immer schulisch gerecht werden kann. Ziel könnte sein, dass Schulen mit Eltern und Schülern gemeinsam Wege finden, eine optimale Förderung für jedes Kind zu erreichen.“ Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Magdalena faltet ihre Hände und legt sie auf den Schoß: „Ich hoffe, dass Eltern, Lehrer und Schüler aufwachen und sehen, dass unser Schulsystem dringend mit der aktuellen Situation abgestimmt werden muss. Kreidetafel und Frontalunterricht vor der Klasse, das ist doch alles noch aus der digitalen Steinzeit.“ Elsa Z. war ein Jahr in den USA. Sie sagt: „In den USA lernen Schüler in der Schule wenigstens Nützliches für die Praxis. Ich konnte mich dort im Unterricht zum Beispiel für einen Schreibmaschinenkurs, einen Kochkurs oder einen Computerkurs zur Konstruktion von Häusern entscheiden.“ Damit sind sie vorbereiteter für ein Leben nach der Schule. Unsere Schüler können das Volumen der Sonne berechnen.

ter Hausaufgabenstress leiden oder durch Nachhilfe fallen Aktivitäten aus.“ Der Pressesprecher des Sächsischen Bildungsministeriums Dirk Reelfs „(…) will an dieser Stelle mal nicht klagen.“ Er antwortet auf meine Frage nach der Zukunft des Bildungssystems: „Die Stärke des sächsischen Schulsystems liegt in der Verlässlichkeit und Stabilität. Seit Anfang der 1990er-Jahre haben wir an der Mittelschule und dem Gymnasium festgehalten. Es gab keine Experimente mit verschiedenen Schularten.“ Damit bestätigt er das Gefühl vieler Eltern, dass sich seit 1990 nichts Wesentliches geändert hat. Als ich mir seine Antworten durchlese, fällt mir auf, dass ich den Text schon mal gelesen habe. In der diesjährigen Frühlingsausgabe der Schülerzeitung „P.S.“ des Gymnasiums Luisenstift finde ich haargenau den gleichen Text. Ruht sich die Ein guter Arzt muss eine Politik auf immer denselben Antworten aus, gute Figur haben? während wir eine multimediale Revolution Martin will Arzt werden. Er erleben? Wir Schüler leben mit dem Kopf in geht in die zwölfte Klasse. zwei Welten. In einer verstaubten Schule und Er ist ein guter Schüler. Die in einer von Übermorgen. Lehrer mögen ihn. In fast allen Fächern hat er volle PunktUnd die Verantwortlichen sind stolz auf keine zahl. Sein Abitur würde er mit Veränderung und keine Experimente. 1,2 absolvieren – hätte Martin Doch für Jugendliche geht immer „Probieren nicht ein Problem. Er ist ein bisschen pummelig. Egal wie über Studieren“. sehr er sich im Sport bemüht, Dirk Reelfs bestätigt, dass der Lernerfolg der er bekommt einfach keine gute Punktzahl. Schüler in allererster Linie auf den Lehrer ankommt. Das bekommen Schüler im Unterricht deutlich zu spüren.

Damit verschlechtert sich sein Durchschnitt. Doch der Numerus clausus verlangt für Medizin eine Durchschnittsnote bis 1,2. Deswegen muss Martin ein anderes Studium wählen oder Wartesemester in Kauf nehmen. In Deutschland muss ein Arzt eine gute Figur haben!?


Trendsportart per Zufall

Text: Jasmin Strietzel // Foto: Maria Bruntsch // Layout: Daria Richter Einige Leute warten gespannt bis endlich ihr Kurs beginnt. Alle verteilen sich mit Blick auf einen wandgroßen Spiegel und zwei Metern Abstand voneinander im Raum. Die Trainerin Maria Renitzsch nimmt ihre Position vor der Gruppe ein. Maria tanzt schon seit ihrer Kindheit, seit inzwischen 20 Jahren. Seit zwei Jahren unterrichtet sie mit sehr viel Spaß und Leidenschaft Zumba. Dafür hat sie 2011 eine Ausbildung zum Zumbainstructor in Hamburg gemacht. Einen Zumba Kurs leitet Maria einmal pro Woche im Megafit Fitnessstudio in Dresden. Da Tanzen ihr großes Hobby ist, hörte sie sehr schnell von Zumba und aus Spaß versuchte sie ein paar Choreografien aus dem Fernsehen nachzutanzen. Aus Freude an Zumba entschied sich Maria für eine Ausbildung. Der Turnhallenboden unter mir fängt an zu


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vibrieren. Dreizehn Frauen und zwei Männer tanzen zu lauter, rhythmischer Musik. Ich sitze am Rand und sehe ihnen zu, wie sie die Körper anspannen und sich zu den Rhythmen bewegen. Am liebsten würde ich aufstehen und mitmachen. Zumba wurde durch einen Zufall entdeckt. In den 1990er-Jahren vergaß der Tänzer und Choreograf Alberto Perez die Kassette für einen von ihm geleiteten Aerobic Kurs. Der Trainer musste improvisieren. Er ging zum Auto, wo er die einzig verfügbare Kassette nahm, um den Kurs nicht ausfallen zu lassen. Auf der Kassette waren traditionelle Latin Salsa und Merengue Rhythmen. Damals hat Alberto Perez seinen Kurs zum ersten Mal mit neuen Rhythmen geleitet. Das Fitness-Konzept aus Kolumbien hat so eingeschlagen, dass es sich seither weltweit verbreitet hat. 2011 ließ Perez den Namen Zumba als Markennamen registrieren. Nach wenigen Minuten sind auch im Fitnessstudio alle vom Zumba-Virus infiziert. Die Frauengruppe beginnt zu schwitzen, aber Stress bereitet ihnen das

sichtlich nicht. Vergnügt recken sie wechselnd die Arme und schwingen dazu lächelnd die Hüften. Zumba ist zum Kult und Alberto Perez vermutlich zu einem wohlhabenden Mann geworden. Der Virus wirkt durch eine Mischung aus Aerobic und verschiedenen lateinamerikanischen und internationalen Tanzelementen. Über zwölf Millionen Menschen in 125 verschiedenen Ländern nehmen heute weltweit an Zumba-Kursen teil. Die Musikstile reichen von Reggaeton über Cumbia, Salsa, Merengue, Mambo, Cha-Cha-Cha, Tango, Soca, Samba und Flamenco bis hin zu Axé, Bauchtanz, Bhangra und Hip-Hop. Gerade läuft eine Mischung aus Bauchtanz und Hip-Hop und alle machen so gut es geht mit. Auch Maria verbindet ihre Choreografien mit Aerobic-Elementen, also einer Mischung aus Gymnastik und Tanz. Das dynamische Fitnesstraining in rhythmischen Bewegungen wird jetzt nach Latino-Musik durchgeführt. Meine Füße wippen im Takt mit.


chen kann man in einem Zumba-Shop kaufen. Heute gibt es das Fitness-Konzept für verschiedene Altersgruppen in acht verschiedenen Varianten:

Alle bewegen sich im Gleichschritt zur Musik. Die Zumbainstructorin tanzt vor und die Gruppe tanzt die Schritte nach, als ob sie noch nie etwas anderes getan hätte. Man sieht ihre Freude und die Lust am Tanzen. Zum Zumba Tanzen braucht man mitreißende Musik, atmungsaktive Kleidung und bequeme Schuhe, in denen man gut tanzen kann. Passende grelle Sa-

Zumba Gold ist für ältere Teilnehmer geeignet, die in ihren Bewegungen etwas eingeschränkt sind. Zumba Toning trainiert man mit zwei kleinen Hanteln, den so genannte Toning Sticks. Es ist Krafttraining und Ausdauertraining zugleich. Zumba Gold Toning ist für Anfänger und Leute mittleren Alters. Aqua Zumba ist wie Aquafitnesstraining, also im Wasser. Zumbatomic ist für Kinder von vier bis zwölf Jahren. Es vereint Hip-Hop, Reggaeton und Pop. Zumba in the Circuit ist ein intensives halbstündiges Kurztraining. Zumbini ist für Kleinkinder von null bis drei Jahren. Dabei wird gesungen, getanzt und gelernt. Zumba Sentao wird mit einem Stuhl getanzt, aber man bewegt sich auch. Die Mischung aus Tanz und Fitnesstraining ist also etwas für jedermann. Auch im Megafit Fitness Studio tanzen Dicke neben Dünnen und Ältere neben Jungen. Nach einer Erwärmung geht es los. Nach jedem Lied machen alle eine Trinkpause. Die Gesichter röten sich und einigen Tänzerinnen fallen Schweißperlen von der Stirn. „Und rechts und links und rechts und …!“, ruft Maria. Dann springen alle dreimal und klatschen dabei in die Hände. Die energische Motivation ihrer Trainerin treibt die Tänzerinnen und Tänzer immer weiter. Um den Kursteilnehmern Abwechslung zu bieten, trainiert sie ihre Choreografien auch zu Hause. Lieblingsschritte hat sie nicht. „Es gibt gewisse Lieder, mit denen meine Tänzer, trotz der vielen Schweißperlen, extrem viel Spaß haben beim Singen und Stimmung machen. Was


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nicht heißt, dass wir nur da Spaß haben. Der ist für die komplette Stunde vorprogrammiert.“ Die Musik verstummt. Alle klatschen begeistert. Nach jeder Trainingseinheit bedankt sich die Tanzgruppe mit einem lauten Applaus bei der Trainerin und belohnt sich damit selbst. Alle nehmen sich bereitgestellte Wasserflaschen und trinken. Und alle lächeln glücklich. Immerhin verbrennen sie 300 bis 1 000 Kilokalorien in einer Stunde. Wie viel man tatsächlich verbrennt, hängt ganz vom Körpergewicht, vom Trainingslevel und dem Trainingszustand ab. Jeder erzielt also einen anderen Effekt. Und natürlich werden dabei auch Endorphine, also Glückshormone, ausgeschüttet. In die kombinierten Bewegungen wird der ganze Körper einbezogen. Die Muskulatur, die Ausdauer, die Beweglichkeit, die Koordination und das HerzKreislauf-System werden verbessert. Die Trainerin nimmt wieder ihre Position ein. Eine adaptierte Variante von Gangnam Style erklingt. Die Schritte wiederholen sich im Rhythmus der Musik. Alle hüpfen hin und her. Dann formen sie die Hände so, als ob sie ein Lasso in der Hand hielten, immer mit einem kleinen Grinsen im Gesicht. Nachdem sie das „Lasso geschwungen“ haben, geht es weiter mit dem Hüftschwung. Danach tanzen alle wieder typische Zumba-Choreografien, die natürlich zu dem Lied passen. Jede Trainingseinheit hat, passend zu dem eigenen Charakter der Musik, seine ganz eigene Choreografie. Die Teilnehmer des Kurses klatschen in die Hände, springen hoch, klatschen wieder und rufen dabei: „Woh!“ Zumba kann man fast an jeder Straßenecke tanzen und wenn man keine Lust hat, dafür aus dem Haus zu gehen oder es in der Gruppe zu machen, kann man es auch zu Hause vorm Fernseher oder mit

Kopfhörern auf einer Wiese oder woanders tun. Zumba ist eine körperlich anspruchsvolle Sportart, die ich jedem weiterempfehlen kann. Vielleicht gibt es diese Form von Körpertraining irgendwann als Sportart im Sportunterricht. Ich würde mir das wünschen, weil es Spaß macht und fit hält und weil man dabei Musik hören kann, bei der man gleich lostanzen will. Habt ihr jetzt Lust bekommen Spaß zu haben, dabei zu tanzen und Kalorien zu verbrennen? Dann würde ich sagen: Schnappt eure Sportsachen, sucht euch das nächste Fitnessstudio und legt los.


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Schwarz als Lebensmotto Text: Alicia Grüttner // Foto: Victoria Göbel // Layout: Luise Finsterbusch Schwarz ist meine Lieblingsfarbe. Eigentlich ist es keine Farbe; eher eine Lebenseinstellung. Architekten tragen es, Künstler tragen es und ich trage es auch. – Seit ich 15 bin. Drei Jahre zuvor hatte eine Freundin in den Herbstferien beschlossen, Goth zu werden. Ich wusste nichts darüber und hatte zunächst Angst vor ihren düsteren Gedanken. Das änderte sich, als ich mich damit beschäftigte, was es bedeutet, Goth zu sein. Die Gothic-Kultur ist in den 1980er-Jahren in Eng-

land entstanden. Sie bildete sich im Umfeld von Punk und New-Wave. Bis zur Jahrtausendwende war die Dark-Wave-Bewegung Schnittpunkt der Schwarzen Szene. Ursprünglich bezeichnete der Begriff nur die unheimliche, düstere Seite des Punks. Er wird insgesamt verallgemeinernd verwendet und deshalb von vielen Szeneanhängern als zu pauschal angesehen. Gerade sie wollen ihre Individualität wahren und nicht nur als Teil einer großen Gruppe oder Bewegung angesehen werden. In Deutschland hat man früher die Begriffe


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„Schwarze“, „Grufties“ oder „Waver“ verwendet. Seit Beginn der 1990er-Jahre setzte sich auch hier der Begriff Goths oder Gothic für die Szene durch. Basics der Gothic-Kultur sind das Zusammenwirken von Musik, dem Gothic Rock, der Nachdenklichkeit über den Tod und die aufwendige Selbstinszenierung. Die hat ihre Vertreter zu wahren Paradiesvögeln der Kulturlandschaft gemacht – Paradiesvögel in Schwarz. Da ich nur etwas mehr schwarz als sonst getragen habe, haben meine Eltern erst nicht so viel mitbekommen. Später waren sie etwas verunsichert: „Musst du denn immer nur Schwarz tragen?“ Ich habe ihnen erklärt, was Schwarz für mich bedeutet. Schließlich haben sie meine neue Orientierung akzeptiert. Meine Mutter verdreht manchmal die Augen, aber sie toleriert es. Ich denke, sie merkt, dass es mir dadurch sehr viel besser als früher geht und damit ist sie zufrieden. Mein Vater trägt selbst sehr viel Schwarz und hört teilweise dieselbe Musik wie ich. Vorreiter-Bands der GothicSzene waren beispielsweise Decay und Specimen. Vorbilder, vor allem auch äußerlich, waren The Cure, Siouxsie and the Banshees und Rozz Williams. Meine persönliche Lieblingsband ist die Band Xandria, die dem Genre des Gothic Metal zugeordnet wird. Mein Lieblingslied ist das Lied „In love with the darkness“, weil es genau das ausdrückt, was ich auch fühle. Die Selbstinszenierung der Goths

ist Ausdrucks- und Abgrenzungsform. Keiner von ihnen will wie alle anderen aussehen. Doch nicht nur Schwarz, sondern auch Blau, Weiß oder Bordeauxrot sind Haar- oder Kleidungsfarben. Manche Styles erinnern noch an die Wurzeln und die Punk- und Wave-Kultur der 1980er-Jahre. Viele Kleidungsstücke werden absichtlich mit Rissen oder Löchern versehen. Teils werden Elemente aus vergangenen Zeiten, wie dem Jugendstil, der Renaissance oder dem viktorianischen Zeitalter aufgegriffen. Manche Kleider sind aus kostbaren Stoffen mit Spitzen, bauschigen bodenlangen Reifröcken und engen Korsetts. Jedes Treffen scheint wie eine Reise in eine fantasievolle Märchenwelt zu Fürsten, Magiern und Königinnen. Dabei ist jeder sein eigener Designer.

Wave-Gotik-Treffen (WGT) ist das größte Treffen der schwarzen Szene, das seit 1992 jährlich am Pfingstwochenende in Leipzig stattfindet. 2012 waren rund 20 000 Besucher auf dem WGT. Auf das Festival kommen Goths, aber auch Punks, Metaller oder Anhänger der Mittelalterszene aus der ganzen Welt. Neben dem Szenegottesdienst in der Peterskirche wird beispielsweise auch eine Friedhofsbesichtigung durchgeführt. Die Ausstattung der Veranstaltungsorte ist entsprechend der Musik romantisch, düster und geheimnisvoll. Über 40 Veranstaltungsorte werden für dieses einzigartige Treffen zur Verfügung gestellt. Weitere Informationen: www.wave-gotik-treffen.de


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Angst durch Unwissenheit Außenstehenden, die nichts über die Gothic-Kultur wissen, ist sie teilweise suspekt. Jedes Anderssein ist ein Angriff auf die eigene Anpassung. Dabei ist aus ihrer Vorliebe für Schwarz inzwischen eine eigene Mode im Gothic-Look entstanden, die man nicht nur in eigens dafür eingerichteten Shops, sondern sogar in Kaufhäusern oder bei Zalando kaufen kann. Schmuckelemente sind blasse Gesichter, Ornamente um die Augen, ungewöhnliche Frisuren, Piercings oder Tätowierungen, spirituelle oder religiöse Symbole wie Rosenkränze (Gebetsketten für das Rosenkranzgebet mit beispielsweise dem Vaterunser). Wer der Gothic-Szene angehört, denkt über viele Dinge nach und macht auch vor gesellschaftlichen Tabuthemen wie dem Tod nicht Halt. Manche gehen gern auf Friedhöfen spazieren, was anderen Menschen eher unheimlich ist. Aber Friedhöfe zeigen, dass die Verstorbenen nicht völlig aus dem Leben derer verschwinden, die sie geliebt haben. Wenn man sie im Herz behält, bleiben sie immer bei uns. „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt“, sagt Bertolt Brecht. Oder: Wer stirbt, ist erst dann richtig tot, wenn er in den Herzen der Menschen gestorben ist, die ihn geliebt haben. Friedhöfe sind stille und friedliche Orte, die etwas Würdevolles bewahren. Sie erinnern daran, dass der Tod allgegenwärtig ist und keiner weiß, wann er sterben wird. In anderen Kulturkreisen ist die Nachdenklichkeit über den Tod Teil der Gesellschaft. Bei uns wird er ignoriert, verdrängt und tabuisiert. Manche verbinden Gothic deshalb

mit Depressionen, Selbstmordgedanken oder gar Satanismus. Das ist Blödsinn. Um eine zweite Meinung zu hören, treffe ich den 17-jährigen Artem. Er ist seit drei Jahren in der Gothic-Szene. Artem ist durch die Musik und eine Freundin darauf aufmerksam geworden. Die Musik gefällt ihm wegen der schönen Texte. Auf meine Frage, was Gothic für ihn bedeutet, antwortet er: „Für mich ist es nur ein Musikstil.“ Er mag ASP (Alexander Sprenger). „Wie reagiert dein Umfeld darauf?“, frage ich. „Viele meiner Freunde sind ebenfalls Goths. Auch Erzieher in meiner Wohngruppe.“ Gothic ist für mich vor allem eine Lebenseinstellung. „Brauchst du dein Äußeres, um deine Lebenseinstellung auszudrücken?“, frage ich Artem. Er verneint. Es gibt also wie in jeder Kultur oder Szene ganz verschiedene Weisen sich zugehörig zu fühlen. Viele Goths sind kreativ, schreiben Gedichte und Geschichten und zeichnen. Es hilft, eigene Gefühle


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und Probleme besser zu verarbeiten und beim Nachdenken über philosophische Themen. Ich schreibe gerne auf dem Friedhof Gedichte. Ich liebe die Dunkelheit, weil sie mir hilft, Abstand von Problemen und Sorgen des Tages zu nehmen und sie zu verarbeiten. In der Nacht ist alles still und ganz anders als der erdrückende, stressige Alltag. Es sind kaum Menschen unterwegs. Nichts und niemand fordert etwas. Es ist still. Die Hektik des Tages verschwindet. Man kann an ruhige Orte wie auf Friedhöfe gehen und ist dort vollkommen allein. Die Nacht hat eine eigene Magie, wenn sich die Dunkelheit auf Straßen, Autos und Häuser legt und wenn man die Dinge nicht mehr klar erkennen kann. Goths glauben, dass man den Gedanken daran, dass das Leben endlich ist, nicht verdrängen sollte. Natürlich sollte man auch nicht die ganze Zeit nur daran denken und sich fragen, wann es wohl soweit sein wird, doch man sollte sich bewusst sein, dass jeder Moment den man lebt, der letzte sein könnte. Das hilft, das Leben besser wahrzunehmen und zu genießen. Für Goths sind alle Gefühle gleich viel wert. Sie glauben, dass es keine besseren und keine schlechteren Gefühle gibt, sondern dass alle Gefühle ihren Sinn und Zweck und auch ihr Gutes

haben. Besonders Traurigkeit wird sonst häufig verdrängt. Viele Menschen glauben, dass es stark und deshalb besonders toll ist, wenn man seine Gefühle nicht zeigt, sondern immer lächelt und so tut, als wäre alles in bester Ordnung, egal, wie schlecht man sich innerlich fühlt. Doch das führt langfristig meist zu organischen oder psychosomatischen Erkrankungen. Traurigkeit dient dazu, Schicksalsschläge zu verarbeiten. Wer sie nicht zulässt, schafft es nicht, sie irgendwann loszulassen und darüber hinwegzukommen. Seit ich in der Gothic-Szene bin, geht es mir viel besser als früher, eben weil ich nicht mehr versuche, meine Gefühle einfach zu verdrängen. Selbst Tränen sind etwas Natürliches und Schönes – ebenso wie ein lachendes Gesicht. Ich glaube, Gott hat uns das Lachen und das Weinen, und auch das Schreien gegeben, wenn man wütend ist oder sich einfach sehr freut, damit wir es nutzen und uns nicht dafür schämen oder es so gut wir können zurückhalten. Jeder ist einzigartig. Jeder sollte echt sein und sich als etwas Besonderes fühlen. Auch ich möchte etwas Besonderes sein - kein Dummchen, sondern eine nachdenkliche Prinzessin eben.


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Eine Welt voll Farbe Text: Denise Käseberg // Foto: Laura Kirchner // Layout: Emilie Giersemehl Was gibt es Schöneres als Abwechslung und Kreativität im Beruf? Was gibt es Tolleres als den ganzen Tag von bunten Farben umgeben zu sein? Alles lebt, alles strahlt in den verrücktesten Mustern und Formen. Die Rede ist von Graffiti, einer Kunstrichtung mit ihrem ganz eigenen Style. Der Trend wurde in den USA entwickelt und hat sich bis heute rings um den Globus verbreitet. Die Jugendlaune, seinen Namenszug an Wände zu schreiben, hat sich inzwi-

schen zu einer eigenen Kunst gemausert. In den meisten Städten Deutschlands ist kaum eine Fläche vor der Sprühfarbe sicher; ob Stromkästen, alte Häusern oder sogar Bäume(!). Jeder hat solche Gemälde schon gesehen. Die Meinungen zu diesen Bildern gehen allerdings auseinander. Ist das Kunst oder beschädigen solche Graffitis Besitz? Was viele als Beschmutzung von Privateigentum ansehen, ist das illegale Sprühen. Es wurde sogar eine spezielle Anti Graffiti Farbe entwickelt, von der die Sprühfarbe leicht zu entfernen ist. Aber es gibt zahllose Sprayer, die diese künstlerische Tätigkeit legal und als Beruf ausüben. Ein so genannter Graffitikünstler dekoriert, je nach Auftrag, Innen- und Außenwände, vom Hochhaus bis hin zum Trafokasten, vom Kinderzimmer bis zum Firmengebäude. Wir wollen uns mit dem Beruf vertraut machen und treffen den Graffitikünstler Sebastian Girbig. Wir sind am Jugendhaus SPIKE, einem Kulturzentrum in Leubnitz-Neuostra, verabredet. Neben dem offenen Jugendtreff bietet das SPIKE Workshops im Bereich Hip-Hop, Rap und Graffiti an. An den Wänden der angrenzenden Sporthalle und den Mauern, die um das Gelände stehen, sieht man schon von Weitem Graffiti-Bilder. Wir setzen uns neben die Turnhalle und betrachten die unterschiedlichen Formen. Manche erinnern an Gemälde, andere lassen Schriftzüge erahnen. Als sein Auto auf den Parkplatz rollt, freue ich mich auf


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die Erklärungen des Experten zu den Unterschieden. Sebastian Girbig und seine Freundin Sarah Kühn steigen aus und begrüßen uns lässig. Von Beruf ist Sebastian Mediendesigner und Mediengestalter für Digitalund Printmedien. Er erklärt uns seine Verbindung zum SPIKE. „Im Club arbeiten zwei Sozialarbeiter und drei Mitarbeiter für Graffiti.“ Einer davon ist Sebastian. Er und seine Kollegen geben Workshops und organisieren Graffiti Jams oder Projekte. Mit dem SPIKE war er von Anfang seiner Graffitikarriere an in Kontakt. Sebastian ist jetzt ungefähr seit 15 Jahren dabei.

„Ich hatte Glück“, sagt er. „Mein erstes Ding war legal. Ein Bauwagen im Rosengarten.“ Seine Auftraggeber sind Klamottenläden, die Stadt Dresden, private Firmen oder auch Peyman Amin, der bei Germany‘s next Topmodel in der Jury neben Heidi Klum saß. Sein Künstlername ist Slider. Er klingt gut, hat für ihn aber keine besondere Bedeutung. Es ist eben sein Tag oder sein Künstlername oder sein Autogramm, das jeder Graffitikünstler und Sprayer hat. Im Bezug auf die Graffitikunst verwendet Slider Worte, die er mir erst erklären muss: „Ein Schriftzug heißt Dico, ein Hauptschriftzug Style. Bilder heißen Piece. Zu richtig großen Wandbildern sagt man Mural.“


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Bei seinen Aufträgen kann er seine künstlerische Begabung immer wieder neu unter Beweis stellen. Sie sind vollkommen unterschiedlich. Mal besprüht er die Wände von Zimmern, mal von Firmen, mal gehen sie schnell, ein anderes Mal dauert es Tage, Wochen oder Jahre. Ein Beispiel dafür sind die Bahnbögen in Dresden Mitte, an denen er mitgesprüht hat. Sebastian wurde am 16. Dezember 1975 in Dresden geboren, was heißt, dass er inzwischen knapp 38 Jahre alt ist. Davon ist er schon seit acht bis zehn Jahren Graffitiprofi. Er wohnt in einer Gegend, wo viele Leute einen Hip-Hop-Style haben wie er. Als ich ihn frage, ob er noch Zeit für Hobbys hat, rückt er die Brille zurecht und antwortet: „Ich habe mein Hobby sozusagen zu meinem Beruf gemacht.“ Früher war das Sprühen sein Hobby. Angefangen hat er vor ungefähr 19 Jahren. „Ich habe schon immer gern gemalt.“ Zu Graffitikünstlern, die ihn beeinflusst haben, sagt er: „Da gibt’s ne Menge. Ein wichtiger war Can2. Er kommt aus Mainz und hat so Old School Bilder gesprüht. Das hat mich wirklich sehr fasziniert. Der andere nennt sich Soten. Er ist aus Kopenhagen und für mich ein sehr guter Künstler.“

Ich sehe mich um. Slider steht in einem schwungvollen Schriftzug neben einem Style von ihm an einer Steinwand, auf der sich unzählige Sprayer verewigt haben. Aber für die Ewigkeit ist der Style nicht. Jedes Graffiti-Bild, das jemand auf eine Wand sprüht, wird nach einer gewissen Zeit abgekratzt, übersprüht oder übermalt. „Manchmal ist die abgelagerte Farbe zentimeterdick und löst sich vom Untergrund.“ Die Farbplatte, die mir Slider zeigt, besteht aus Hunderten von Schichten und erinnert an eine alte Elefantenhaut. „Graffitikunst ist temporär!“, sagt er ganz selbstverständlich. Deshalb werden Fotos von jedem seiner Kunstwerke gemacht. Slider blättert in einem dicken Album. Irgendwann kam ihm die Idee zu seinem Graff On Girls Kalender. „Da hab ich ein Graffiti und Bodypainting zusammengeführt. Ich habe Wände bemalt und dann Models. Eine Fotografin hat die Fotos gemacht.“ Die Bilder beeindrucken. Die Styles der Wände und der Models sind vollkommen aufeinander abgestimmt. „Aktuell arbeite ich gerade an einer Fortsetzung.“ Seine Freundin Sarah Kühn blättert in Sliders Blackbook. Ein dickes Buch aus Zeichenkarton, in dem er die Künstlerunterschriften seiner Kollegen und Freunde sammelt. Jeder hat eine Seite und einen eigenen Stil und jede ist bunter und kreativer als die anderen. Sebastian hat einen Bruder. Der macht nichts Künstlerisches. Er ist Lehrer. „Ich habe wohl die künstlerischen Gene bekommen und er die Wissens-Gene.“ Diese Kunstrichtung gefällt ihm, weil sie nicht klassisch ist, sondern modern, nicht so langweilig wie Malen auf einer Leinwand, sondern einfach auch verrückt. Jeder kann seinen eigenen Stil finden und verwenden.


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„Da schreibt niemand einem etwas vor.“ Mit der Zeit entwickelt jeder seine eigene Technik, mit der er am besten arbeiten kann. Und jeder verbessert die Art, wie er sprüht. Seine Technik beschreibt Slider als ziemlich perfektionistisch, ordentlich, akkurat und sehr genau. Seit er mit Sarah zusammen ist, sprüht er immer eine kleine Liebeserklärung an „Lecktra“ in seine Bilder. In seinem Freundeskreis sind noch andere Sprayer aus seiner Graffiti-Crew „Die Bendits“. Anfangs wurden seine Styles gecrossed, das heißt übermalt, so dass man sie nicht mehr erkennen kann. Inzwischen ist er bekannt in der Szene. Heute macht das kaum noch jemand. Er hat Leute wie den Rapper Kool Savas portraitiert. Der kam extra, um sein Bild im SPIKE zu Signieren. Seit er bekannt ist, hatte Slider auch schon gefährliche Aufträge. Am Ballhaus Watzke musste er sich abseilen und die Fassade besprühen. Er verrät mir, dass er seine Probleme mit der Höhe hat. Aber solche Jobs sind etwas Besonderes. Für den Klub organisiert Slider mit seinen Kollegen die Urban Syndromes Jam. Das ist die größte Graffiti Jam in Sachsen. Alljähr-

lich im Juni kommen Sprüher aus ganz Europa auf dem SPIKE-Gelände zusammen. In diesem Jahr waren es 120 Leute. Die Flächen werden grundiert und es werden Konzepte gemacht, die dann jeder für sich umsetzt. Entsprechend viel gibt es im Umfeld des SPIKE zu sehen. Das Gelände ist nur einer von Sliders „Arbeitsplätzen“ und inzwischen eine beachtliche Modern Art Galerie unter freiem Himmel mitten in Dresden geworden.


Text

Alicia Grüttner 16 Jahre

Celina Miosga 16 Jahre

Denise Käseberg 13 Jahre

Jasmin Strietzel 14 Jahre

Xenia Neumann 14 Jahre

Foto

Emily Boerl 17 Jahre

Julia Adam 14 Jahre

Laura Kirchner 13 Jahre

Maria Bruntsch 17 Jahre

Robert Wächtler 13 Jahre

Layout

Daria Richter 17 Jahre

Emilie Giersemehl 15 Jahre

Luise Finsterbusch 13 Jahre

Philipp Rahn 14 Jahre

Victoria Göbel 14 Jahre


Viola Zetzsche Chefredakteurin

Lisa Dres Art-Director

Fara P. Zetzsche Photo-Director

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Titelbild: von Emily Boerl für Emilie Giersemehl zum Geburtstag

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